Der Klinikarzt 2011; 40(4): 165
DOI: 10.1055/s-0031-1280619
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Der mündige Patient

Matthias Leschke
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
18. Mai 2011 (online)

Herbert B. ist ein gesundheitsbewusster Mensch. Seine Devise: Achte auf deinen Körper, höre in ihn hinein, und wenn dir etwas merkwürdig vorkommt, dann unternimm etwas dagegen. Herbert B. achtet genauso akribisch auf sein Auto. Die leiseste Änderung des Motorengeräuschs lässt ihn aufhorchen. Da stimmt etwas nicht. Also ab in die Werkstatt. Ist doch weise Voraussicht, einen möglichen Fehler schon im Stadium der Entstehung anzugehen und so größere Reparaturen oder gar irreparable Schäden zu vermeiden. Und natürlich beschäftigt Herbert B. nicht nur seinen Hausarzt, weil der einfach nichts finden kann in seinem Körper. Herbert B. ist ein umsichtiger Mann und ergreift daraufhin selbst die Initiative. Wozu gibt es schließlich Spezialisten? Da er privat versichert ist, kann er sich das erlauben. Das Herz observiert sein Kardiologe, den Verdauungstrakt sein Gastroenterologe, der ihm ungefähr alle 2 Jahre mit dem Endoskop in den Magen und auf der anderen Seite in den Verdauungstrakt schaut. Und jetzt ist Herbert B. auf eine geniale Idee gekommen: Ein Ganzkörper-MRT muss her, vom Kopf bis zum Zeh. Diese fantastische Maschine schädigt den Körper auch nicht durch Röntgenstrahlen wie früher das Computertomogramm.

Herr B. ist auch belesen. Vor kurzem noch bestellte er bei Amazon medizinische Ratgeber, inzwischen greift er lieber aufs Internet zurück. Und das ist viel Arbeit, denn da gilt es, sich durch Hunderte von Beiträgen durchzuklicken. Ja, und dann die Lunge. Man hört so viel vom Lungenkrebs, und Herr B. hat vor Jahren einmal geraucht. Wenn erst einmal Symptome auftauchen, Husten, Blut im Sputum, das weiß Herr B., dann ist die Prognose düster. Aber wie lässt sich Lungenkrebs im Frühstadium feststellen? Röntgen? Eine Lungenspiegelung? Die ist ziemlich unangenehm und vielleicht doch nicht so geeignet für eine Routineuntersuchung.

Herr B. lebt ein aufreibendes Leben. Er hat einen Beruf, eine Familie, Frau und 2 Kinder, und die Vorsorge für seine Gesundheit ist eigentlich zu seinem Hobby geworden. Dass ihn seine Freunde komisch anschauen oder über ihn spötteln, das nimmt er hin. Vorsorge ist zeitgemäß, pflegt er sich zu sagen und schaut larmoyant über die Verwunderung seiner Mitmenschen hinweg, die so wenig Verständnis für sein Verhalten haben.

Herbert B. ist beileibe kein eingebildeter Kranker. Er ist nicht krank. Er glaubt auch seinen Ärzten, wenn die ihm sagen, es sei nichts. Das erleichtert. Eine Zeit lang wenigstens. Doch dann nimmt die Sorge wieder zu, dass doch etwas nicht stimmen könnte. Seit neuestem werden im Internet auch Genuntersuchungen angeboten, unheimlich viele sogar. Die Tests verraten einem, ob man in seinem Erbgut gewisse Dispositionen für bösartige Krankheiten hat. Demenz, Alzheimer, diverse Krebsarten. Allmählich ist es wirklich zum Verzweifeln: Eigentlich müsste Herr B. sich Tag für Tag um seine Vorsorge kümmern, so groß ist das Angebot an Untersuchungen mittlerweile. Herrn B.'s Privatkasse hat nun auch angefangen zu mosern. Denn er hat sich prophylaktisch Clopidogrel verschreiben lassen, ein Mittel, das Patienten nach einem Herzinfarkt bekommen, um das Blut dünnflüssig zu halten und neuen arteriellen Verstopfungen vorzubeugen. Die wollten doch glatt einen Bericht von seiner Infarkttherapie. Und er hatte doch noch nie einen Infarkt.

Vom Prager Schriftsteller Franz Kafka wurde uns die kluge Erkenntnis überliefert, dass der Gedanke an seine Verdauung, die ordentlich funktioniere, schon ausreiche, um sie zu verlieren. So fängt es an, wenn man seinen Körper zu ernst nimmt.

Andererseits gibt es Leute, die gehen erst zum Arzt, wenn alles zu spät ist. Sie leiden jahrelang unter zunehmendem Husten, und dann wird ihnen eröffnet, dass ihr Lungenkrebs nicht mehr operabel sei. Oder die Hausfrau, die im Stillen hofft, dass der Knoten in der Brust, den sie schon seit einiger Zeit deutlich spürt, wieder etwas zurückgegangen sei. Ihr Frauenarzt war entsetzt, als sie dann irgendwann doch bei ihm auftauchte. Da war es schon ziemlich spät. Die ganze Brust und alle Lymphknoten in der Achselhöhle mussten entfernt werden.

Welchen Patienten wünschen wir Ärzte uns nun? Den informierten? Den überinformierten? Den Besserwisser, der seine Kenntnisse aus dem World Wide Web bezieht und seine Ärzte mit einem Wissen konfrontiert, das oft wenig mit leitliniengerechtem Handeln und klinischer Erfahrung zu tun hat und eher den Millionengewinn bei einem TV-Quiz verheißt? Oder wünschen wir uns den Ignoranten, den Ängstlichen, den Laien, der sich wie in früheren Zeiten seinem Arzt schweigend, ja gläubig ausliefert? Die erstgenannte Spezies von allwissendem, forderndem Patient kann das ärztliche Nervenkostüm schon strapazieren, die zweite Spezies mag den Kollegen aber ebenso verzweifeln lassen, wenn man davon ausgeht, dass man zur Heilung ein Team aus Arzt und Patient braucht. Eines ist klar: Das Internet, die anschwellende Datenflut und nachkommende Generationen, die sich ohne das digitale Gedächtnis die Welt nicht mehr vorstellen können, verändern auch unsere Patienten radikal. Sie werden uns schon auf die Nerven gehen, sie werden unser Wissen und unsere Geduld strapazieren, aber sie sind mehr oder weniger mündige Patienten. Wir müssen sie ernst nehmen und ihnen helfen, ihr manchmal abenteuerliches medizinisches Halbwissen zu bereinigen. Dazu brauchen wir Zeit. Wir müssen unseren Patienten ehrliches Verständnis entgegenbringen, ihnen Gehör schenken und mit ihnen diskutieren. Und gerade Letzteres ist schon ein Novum im aktuellen Medizinbetrieb.

Prof. Dr. med. Matthias Leschke

Esslingen

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