Z Sex Forsch 2011; 24(3): 199-227
DOI: 10.1055/s-0031-1283716
ORIGINALARBEIT

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Zur Neurobiologie transsexueller Entwicklungen

Eine Diskussion der Befunde zu Sexualdifferenzierung, zu geschlechtsatypischen Verhaltensweisen und zur GeschlechtsidentitätTimo O. Nieder, Kirsten Jordan, Hertha Richter-Appelt
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Publication Date:
15 September 2011 (online)

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Übersicht:

Die Suche nach den neurobiologischen Grundlagen sexueller und transsexueller Entwicklungen beschäftigt die Wissenschaft seit mehr als fünf Jahrzehnten. Das Wissen um die Sexualdifferenzierung neuronaler Strukturen konnte seitdem erheblich erweitert werden. Die vorliegende Arbeit stellt exemplarisch genetische, neuroendokrinologische, neurostrukturelle und neurofunktionelle Befunde vor, die in einem Zusammenhang mit transsexuellen Entwicklungen stehen können. In der Zusammenschau liefern die dargestellten Forschungsergebnisse Hinweise dafür, dass es neurobiologische Muster zu geben scheint, die einen Einfluss auf geschlechts­atypische Verhaltensweisen haben und in Interaktion mit psychologischen und sozialen Einflüssen die Wahrscheinlichkeit für eine transsexuelle Entwicklung erhöhen. Das Verständnis um die Bedingungen transsexueller Entwicklungen wird durch dieses zunehmende neurobiologische Wissen maßgeblich erweitert. Eine offene und multidisziplinäre Diskussion ist notwendig, um die neurobiologischen Befunde sinnvoll in die Theorie und Praxis transsexueller Entwicklungen zu integrieren. 

Literatur

1 In der vorliegenden Arbeit beschreibt der Begriff der transsexuellen Entwicklungen Lebensverläufe, innerhalb derer das Geschlechtsidentitätserleben nicht mit dem durch den Personenstand dokumentierten Geschlecht übereinstimmt, welches einem Neugeborenen in der Regel aufgrund der äußerlichen Erscheinung des Genitals zugewiesen wird. Transsexuell wird diese Entwicklung, wenn die betei­ligte Person das Bedürfnis entwickelt, gemäß ihrer Geschlechtsidentität wahr­genommen zu werden und dieses Ziel mit Mitteln der somatischen Medizin verfolgt. Der Begriff der transsexuellen Entwicklung umfasst damit einerseits sehr unterschiedliche Verläufe und betont die außerordentliche Heterogenität trans­sexueller Menschen (Becker S 2004; Pfäfflin 2003). Andererseits wird deutlich, dass sich ein transsexueller Wunsch verselbständigen und in der Folge unabhängig von möglichen Entstehungsbedingungen fortbestehen kann (Sigusch 2007). Beide Aspekte sind für die Interpretation neurobiologischer Befunde von Bedeutung.

2 Die exemplarische Darstellung der genetischen, neuroendokrinologischen, neurostrukturellen und neurofunktionellen Grundlagen berücksichtigt beispielhaft fundamentale Entwicklungsprozesse, die für das Verständnis und die Interpretation der themenspezifischen Befunde von Bedeutung sind.

3 Experten einigten sich 2005, die verschiedenen DSD drei Gruppen zuzuordnen: (1) 46,XY DSD, (2) 46,XX DSD und (3) andere numerische Veränderungen der Geschlechtschromosomen (vgl. Hiort und Wünsch 2009).

4 Bei beiden Referenzen handelt es sich um Vorträge, deren Dokumentation nicht das Peer-review-Verfahren durchlaufen hat.

5 Ein Transkriptom ist die Summe der zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Zelle transkribierten, d. h. von der DNA in die RNA umgeschriebenen Gene. Es beschreibt die Gesamtheit aller in einer Zelle hergestellten RNA-Moleküle und kann mit Microarrays (Genchips) genomweit quantifiziert werden.

6 Nach heutigen Erkenntnissen können Sexualhormone (wie Östradiol und Testosteron) über genomische und nicht-genomische Prozesse Einfluss auf Zellen nehmen. In Bezug auf die genomischen Prozesse modulieren sie die Transkription und Translation neuer Genprodukte (z. B. verschiedene Proteine). Andererseits können sie über nicht-genomische Mechanismen die Aktivität von Liganden-gesteuerten Ionenkanälen und damit von ganzen Signal-Kaskaden modulieren. Während die Dauer der genomischen Prozesse im Stundenbereich liegt, liegt die Dauer der nicht-genomischen Prozesse im Sekunden- und Minutenbereich.

7 Ein Spine ist ein dendritischer Dornfortsatz, der zusätzliche Synapsen zur Informationsübertragung ausbildet.

8 Das AGS ist eine autosomal rezessiv vererbte Form der Intersexualität. Aufgrund einer gestörten Nebennierenfunktion kommt es zur Androgenüberproduktion mit erhöhter Androgenkonzentration. Die Geschlechtsentwicklung wird im Sinne ­einer Virilisierung des äußeren Erscheinungsbildes beeinflusst (Thyen et al. 2007)

9 CAIS-Personen bei 46,XY DSD produzieren zwar Androgene, aufgrund einer Störung im Androgenrezeptor bleibt die androgenspezifische Wirkung in den End­organen jedoch aus. Da die Androgen-Aromatase davon unbeeinträchtigt bleibt, kommt es zu einer körperlichen Unterdrückung der Maskulinisierung des äußeren Erscheinungsbildes bei vorhandenen männlichen Keimdrüsen.

10 Mit dem Begriff „androphil“ wird in der vorliegenden Arbeit die sexuelle Orientierung auf Männer beschrieben. Analog wird mit dem Begriff „gynäphil“ die sexuelle Orientierung auf Frauen beschrieben.

11 Weichmacher, die u. a. Kunststoffen zugesetzt werden, um sie elastischer und flexibler zu machen.

12 Frauen mit einem PCOS sind postnatal (und vermutlich auch pränatal) einer verhältnismäßig höheren Androgenkonzentration ausgesetzt (Xita und Tsatsoulis 2006).

13 Bis heute gibt es unseres Wissens keine Untersuchungen, die die Ergebnisse replizieren bzw. bestätigen.

14 Zellen, die das antidiuretische Hormon Vasopressin ausschütten

15 Die Diffusions-Tensor-Bildgebung (engl.: diffusion tensor imaging – DTI) ist ein Verfahren, das mithilfe der Magnetresonanztomographie (MRT) die Diffusions­bewegung von Wassermolekülen richtungsabhängig im ZNS misst und räumlich darstellt. Die DTI eignet sich insbesondere für die Bildgebung der weißen Hirnsubstanz des ZNS im Vergleich zur grauen Substanz.

16 (engl. single-photon-emission computed tomography – SPECT), eine Variante der PET, deren Bilder die Verteilung einer radioaktiv markierten Substanz im Körper darstellen. Unterschiede in der Verteilung der Radioaktivität entsprechen einer unterschiedlichen Perfusion der Hirngebiete. Diese Verfahren machen sich vor­rangig die neurovaskuläre Kopplung zunutze, bei der im Bereich der aktivierten Neuronen der Stoffwechsel und in dessen Folge der regionale Blutfluss erhöht ist (Schwartz et al. 1997).

17 fMRT: funktionelle Magnetresonanztomografie; Bildgebendes Verfahren, dass ebenfalls auf dem Prinzip der neurovaskulären Kopplung beruht. Im Gegensatz zur PET nutzt die fMRT die unterschiedlichen magnetischen Eigenschaften von desoxygeniertem und oxygeniertem Blut (BOLD-Effekt: Blood-oxygen-level dependent effect; Ogawa et al. 1990). Letzteres ist in Regionen mit aktivierter Stoffwechseltätigkeit vermehrt vorhanden (Schwartz et al. 1997; Weishaupt et al. 2009).

18 mit Aktivierungen im Thalamus, der Amygdala, dem orbitofrontalen Cortex und der Inselregion

19 Der Grad der Ähnlichkeit der kognitiven Anforderungen zwischen der eigent­lichen Stimulationsbedingung und der Kontrollbedingung beeinflusst entscheidend die Ergebnisse, da diese in der Mehrheit der Studien die Differenz zwischen den beiden Bedingungen darstellen. Die Vergleichbarkeit von Kontrollbedingungen und eigentlichen Stimuli ist daher von maßgeblicher Bedeutung.

20 Die Arbeitsgruppe um Sommer (2008) vergleicht transsexuelle Personen vor und nach Beginn einer Hormonbehandlung ohne weitere Kontrollgruppen. Daher ist nicht zu klären, worauf die erfassten Veränderungen zurückzuführen sind. Die Arbeitsgruppe um Schöning (2010) vergleicht sowohl hormonbehandelte als auch hormonunbehandelte MzF-TP mit männlichen, jedoch nicht mit weiblichen Kontrollpersonen. Daher können die Ergebnisse der MzF-TP auch nur mit denen der Männer verglichen werden.

T. O. Nieder

Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie · Zentrum für Psychosoziale Medizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

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