Der Klinikarzt 2011; 40(06/07): 273
DOI: 10.1055/s-0031-1285130
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Schweigen ist Silber, reden ist Gold

Günther J Wiedemann
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Publication Date:
20 July 2011 (online)

Die Kommunikation mit Patienten und ihren Angehörigen ist schwieriger geworden. Viele treten mit einem erheblichen Vorwissen über die jeweilige Krankheit mit dem Arzt in Dialog, und nicht immer handelt es sich um irrelevantes Halbwissen. Schon seit Jahren kommt mehr als ein Drittel der Patienten, die regelmäßig das Internet nutzen, mit einer selbst gestellten Diagnose zum Arzt; rund die Hälfte der Internetnutzer hat feste Vorstellungen zur Therapie [1]. Man muss sich klar machen, dass sich selbst der engagierteste Arzt niemals mit derselben Hingabe und demselben vitalen Interesse mit allen Facetten einer Krankheit beschäftigen wird wie der davon betroffene Patient. Ærzte werden also zunehmend mit dem Problem konfrontiert, dass ihnen (und den Patienten bzw. Angehörigen) ihre fachliche Unzulänglichkeit bewusst wird. Die ärztliche Haltung: ”Wenn ich eine diagnostische oder therapeutische Methode nicht kenne, kann sie nicht relevant sein“, wird sicher keinen kritischen Patienten überzeugen. Wir sollten unser Wissen nicht überschätzen, sondern es hinterfragen, wenn Zweifel oder zusätzliche Informationen von Patienten ins Spiel kommen. Im American Journal of Medicine wurde vor einigen Jahren die Häufigkeit von Fehldiagnosen je nach Fach mit bis zu 15 % angegeben. Interessant dabei ist: die Ærzte, die angaben, bei ihrer Diagnose ”absolut sicher“ zu sein, lagen in bis zu 40 % daneben [2].

Andererseits kann man die Verantwortung für Therapieentscheidungen auch nicht den Patienten überlassen. Denn sie verfügen zwar häufig über beeindruckende Materialsammlungen, doch fehlt ihnen das fachliche Instrumentarium, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Auch für Patienten ist die Medizin komplizierter geworden.

Wie kann man den Patienten gerecht werden? Der Schlüssel liegt in der Art der Kommunikation, und diese hängt vom jeweiligen Rollenverständnis ab. In welcher Rolle sieht sich der Arzt, wie sieht er den Patienten? Und umgekehrt: wie sieht der Patient sich selber und den Arzt? Handelt es sich um ein Beziehungsmodell auf der Grundlage von Partnerschaftlichkeit oder von Macht und Ohnmacht? Dies alles spielt eine Rolle dabei, wie und welche Entscheidungen getroffen werden. Nicht selten hängt davon sekundär auch das Behandlungsergebnis ab, weil Patienten, die an einer Therapieentscheidung adäquat beteiligt werden, eher zu Therapietreue neigen [3]. Man könnte also zugespitzt formulieren: ein Arzt, der den Konsens mit seinen Patienten nicht sucht und so schlechtere Therapieergebnisse erzielt, betreibt letztendlich eine Form von Untertherapie.

Die paternalistische Arztrolle ist überholt. Hier ”weiß der Arzt alles“, er teilt Informationen selektiv mit und entscheidet über die ”einzig richtige“ Therapie. Am anderen Ende der Skala steht das rein informative Konzept der Arzt-Patient-Beziehung; hier legt der Arzt dem Patienten alle Optionen dar und überlässt ihm sämtliche Entscheidungen. Zwischen diesen Extremen ist für viele das patientenzentrierte Modell ein gangbarer Weg, bei dem der Patient als Partner ernst genommen wird und mit seinen objektiven und subjektiven Bedürfnissen im Mittelpunkt steht, aber dennoch nicht allein gelassen wird in seinen Entscheidungen. In Deutschland wünscht sich die Mehrheit der Patienten gemeinschaftliche Entscheidungen [4]. Dieses Rollenverständnis ist noch relativ jung. Es entstand mit der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre und der Stärkung der Verbraucherrechte in den 1970er Jahren. In deren Folge wurde das Prinzip des ”informed consent“, also die Entscheidung des mündigen und bestmöglich informierten Patienten auf der Basis einer weit reichenden Aufklärung auch juristisch etabliert. In der jüngeren Zeit hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es ”das einzig Richtige“ in der Medizin selten gibt und dass, was aus ärztlicher Sicht richtig ist, aus der gesundheitlichen, psychologischen und sozialen Perspektive des Patienten falsch erscheinen kann. Je mehr Für und Wider ins Spiel kommt, desto wichtiger wird es, dass letztendlich beide, Arzt und Patient, mit einer Entscheidung leben können. Was früher undenkbar gewesen wäre, ist die heute angemessene Form der Arzt-Patient-Beziehung: ”shared decision making“, eine gemeinsame Entscheidung auf der Basis gegenseitigen Respekts, die häufig auch das Aushandeln eines Kompromisses beinhaltet, wohl wissend, dass absolute Wahrheiten auch in der Medizin selten sind.

Patientenzentriert bedeutet: der Patient steht im Mittelpunkt. Nicht der Arzt, nicht die Technik, nicht die Klinik. Und erstaunlicherweise nicht einmal die Krankheit.