Zentralbl Chir 2012; 137(01): 8-10
DOI: 10.1055/s-0032-1305958
Rechtliches
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Urteil des OLG München vom 24.11.2011 Az.: 1 U 4262/10 – Hypothetische Einwilligung und realer Entscheidungskonflikt

A. Thiede
,
H.-J. Zimmermann
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Publication History

Publication Date:
16 February 2012 (online)

 

Entscheidungskonflikt des Patienten aufgrund realer Tatsachen bei Spätschäden nach Tumorexzision und kombinierter Strahlenbehandlung.

Medizinischer Sachverhalt

Befund


Ein 18-jähriger Patient wurde 1974 wegen eines kinderfaustgroßen Tumors an der Innenseite des linken Oberschenkels operiert. Es wurde ein isolierter Lymphknotentumor aus der Saphenagabel am linken Oberschenkel entnommen und histologisch untersucht.


Es handelte sich um ein Retikulumzellsarkom. Ein weiterer aus dem Abflussgebiet, der linken Leiste, entnommener Lymphknoten war tumorfrei.


Therapie


Die in die Tumornachbehandlung einbezogene Universitätsklinik empfahl eine Nachbestrahlung der Region des Primärherdes und eine weitere Bestrahlung der inguinalen und paraaortalen Lymphknoten. Im einweisenden Krankenhaus wurde entsprechend den onkologischen Therapievorschlägen der Universitätsklinik vom 03.12.1974 bis 13.03.1975 eine Radiotherapie durchgeführt.


Bei sämtlichen Bestrahlungen betrug die maximale Einzelflächendosis 2,5 Gy, die Gesamtdosis des jeweiligen Abschnittes ergab sich aus der Anzahl der jeweiligen Fraktionen. Die Bestrahlung des Zielvolumens linker Oberschenkel und paraaortal erfolgte mittels eines Betatron-Gerätes, wobei das erste Volumen einer Stehfeldbestrahlung und das zweite einer Bewegungsbestrahlung unterzogen wurde.


Die Zielvolumina inguinal links, inguinal rechts und Becken dorsal wurden in drei weiteren Abschnitten durch ein Kobalt-Gerät im Wege einer Stehfeldbestrahlung behandelt.


Spätfolgen

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(Bild: Digital Vision)

Die Bestrahlungstherapie verlief insoweit erfolgreich, dass der Kläger bezüglich seiner Tumorerkrankung rezidivfrei geblieben ist. Im weiteren Verlauf entwickelte der Kläger im bestrahlten Gebiet Atrophien der Muskulatur und der Haut, Nervenschädigung sowie Fibrose des bestrahlten Gewebes. Durch die Spätfolgen der Therapie ist der Kläger stark in seinem täglichen Leben, insbesondere durch Probleme mit dem Gehen beeinträchtigt.


Klageeinreichung und Reaktion der Beklagten


Mit Schriftsatz vom 30. November 2004 reichte der Kläger eine Feststellungsklage gegen das bestrahlende Krankenhaus und die behandelnden Ärzte ein. In seinen Augen habe die Behandlung durch die Beklagten nicht den damaligen Regeln der ärztlichen Kunst entsprochen.


Insbesondere sei die im Rahmen der Bestrahlungstherapie angewandte Dosierung zu hoch gewesen. Entgegen den Regeln der ärztlichen Kunst hätten sich die Bestrahlungsfelder teilweise überdeckt, wodurch es zu einer unzulässig erhöhten Strahlungskonzentration gekommen sei.


Die technisch apparative Ausstattung im Hause der Beklagten, insbesondere das eingesetzte Bestrahlungsgerät habe nicht dem damaligen Stand der Technik entsprochen. Hierdurch sei es beim Kläger zu einer Nierenschädigung bzw. -schrumpfung rechts, Magenbeschwerden, Übelkeit, Erbrechen, Hydrozele beidseitig sowie einer Gehbehinderung gekommen. Desweiteren sei er vor der Behandlung nicht über die Risiken und Folgen der Bestrahlung sowie die Behandlungsalternativen aufgeklärt worden.


Der Kläger beantragt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet seien, dem Kläger sämtliche materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die dem Kläger aus der ärztlichen und stationären Behandlung im bestrahlenden Krankenhaus im Zeitraum vom Dezember 1974 bis März/April 1975 entstanden seien oder noch entstehen werden, soweit der Anspruch nicht auf einen Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen ist.


Die Beklagten beantragen Klageabweisung mit folgender Begründung: Die Behandlung des Klägers habe zu jeder Zeit dem fachmedizinischen Standard entsprochen. Alternative Behandlungsmethoden hätten 1974/1975 für die Erkrankung des Klägers nicht bestanden. Im Übrigen würde sich der Kläger in jedem Fall für die Bestrahlungstherapie, wie sie tatsächlich durchgeführt worden war, entschieden haben.