Prof. Bernhard Greitemann ist Ärztlicher Direktor der Klinik Münsterland in Bad Rothenfelde.
Im "Nebenjob" ist der Facharzt für Orthopädie (Jahrgang 1958) unter anderem Vorsitzender
des nordrhein-westfälischen Forschungsverbunds Rehawissenschaften, Leiter des Instituts
für Rehabilitationsforschung Norderney, und im Vorstand der Deutschen Gesellschaft
für Rehabilitationswissenschaft (DGRW).
? Herr Greitemann, eine aktuelle Parole lautet: Der Deckel muss weg! Bei den Reha-Ausgaben
der Rentenversicherung. Muss er weg?
Das ist sicherlich berechtigt.
? Mehr Geld wollen bekanntlich fast alle Gruppen im Gesundheitswesen?
Aber der Reha-Bedarf steigt massiv an. Dafür sorgt allein schon die steigende Lebenserwartung.
Sie kennen ja die beiden gesetzlichen Grundlagenregeln Reha vor Rente und Reha vor
Pflege.
Und vor allem bei Reha vor Rente entwickelt sich im Moment das große Thema, dass wir
die Leute länger im Arbeitsleben halten müssen. Mal recht rüde auf den Punkt gebracht,
ein aktiver Maurer bis 67 ist schwierig vorstellbar, wenn Sie ihm nicht irgendetwas
flankierend an die Hand geben. Da sind wir im Moment dabei, neue Modelle zu entwickeln.
? Welche?
Wir brauchen bei der Medizinischen Reha viel mehr beruflichen Einbezug und flexiblere
Modelle. Beispiele dafür sind die MBOR (Medizinische und berufsorientierte Rehabilitation)
Modelle und unsere BETSI
? Was ist das?
BETSI steht für Beschäftigung teilhabeorientiert sichern und ist ein von uns mit entwickeltes
Rahmenprogramm der Deutschen Rentenversicherung Bund, der Rentenversicherung Westfalen
und Baden-Württemberg. Das ist derzeit aber noch in der Modellphase und wird erprobt.
Ziel ist es, in Firmen in Kooperation mit den Betriebsärzten jene Arbeitnehmer zu
ermitteln, deren Arbeitsfähigkeit bedroht ist, sprich, die zum Beispiel auffallend
oft wegen Rückenschmerzen fehlen. Die erhalten dann ein präventives Reha-Angebot.
Dabei setzen wir auf eine dreifache win-win-Situation. Die Arbeitnehmer werden wieder
fitter für den Job gemacht. Die Arbeitgeber erhalten sich Fachkräfte. Und die Rentenversicherung
profitiert, weil sie so hoffentlich mehr Leute im Beruf halten kann.
Manche Menschen im Beruf können zudem alle erst gar nicht in eine stationäre Reha,
schon gar nicht mal eben für drei Wochen Prävention. Wir haben daher jetzt bewusst
eine berufsbegleitende Reha realisiert. Erst seit 2009 kann die Rentenversicherung
allerdings auch überhaupt derart präventiv tätig werden.
? Ich kann abends kommen oder auch am Samstag, wie geht das?
Bei BETSI gibt es nur die erste Woche bzw. 2-3 Tage eine stationäre Reha quasi als
Anreißer, für die der Betrieb seine Leute freistellt. Danach arbeiten wir 12 Wochen
lang Dienstags und Samstags. Und das neben der Schicht.
? Ist BETSI singulär? Es gibt doch auch das Modellprojekt MBOR der Deutschen Rentenversicherung.
Und an etlichen Stellen vernetzen sich Betriebsärzte mit Reha-Kliniken und Rentenversicherung,
etwa im Projekt Web-Reha in Nordrhein-Westfalen?
MBOR ist eine stationäre oder ganztägige ambulante Rehaform. Aber in der Tat, es gibt
weitere ähnliche Modellprojekte. BETSI ist auch ein Versuch der DRV, solche Projekte
langfristig zusammen zu führen.
? Haben Sie Belege für Erfolge?
Eine erste Auswertung der Daten von 200 Teilnehmern im letzten Jahr hat gezeigt, dass
vor allem die so genannte Subjektive Prognose der Erwerbsfähigkeit massiv verbessert
wird.
? Was ist das denn?
Dabei fragen wir den Patienten, sind Sie überzeugt, dass Sie in den nächsten fünf
Jahren weiterhin arbeiten werden. Zu Beginn des Programms waren die Patienten in dieser
Hinsicht skeptisch. Danach aber war die überwiegende Mehrheit der Meinung, dass sie
in den nächsten fünf Jahren in ihrem Beruf bleiben werden. Und dieser Trend hält auch
bis zu einem Jahr nach Ende der Maßnahme an. Ich darf sagen, dass die Daten so gut
sind, wie ich sie noch nie in der Reha gesehen habe. Dabei müssen wir aber fair bleiben.
? Wieso?
Natürlich ist das ein ausgewähltes Patientengut. Das sind hochmotivierte Leute, die,
auf eine, ich sage mal, angenehmere stationäre Reha bewusst verzichten. Und ihre Freizeit
nach der Arbeit einbringen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sie gute Ergebnisse
haben.
? Und das wollen Sie ausbauen?
Ich bin überzeugt, dass Reha flexibler werden muss und wird. Weg von der stationären
Reha als alleiniger Standard. Da sind wir gerade auf Fachebene und innerhalb der Rentenversicherung
in der Diskussion. BETSI wäre meiner Meinung nach ideal geeignet, um jemanden zwischen
dem 60. und 67. Geburtstag doch noch in Arbeit zu halten. Indem er intermittierend
immer mal wieder so eine Reha machen kann.
? Aber Sie sagten selber, dass Sie mit BETSI eine bestimmte Klientel erst gar nicht
kriegen. Und das ist womöglich dann die, die auf jeden Fall in die vorzeitige Rente
geht?
Denkbar. Aber ich sehe Lösungen. Ein Beispiel aus der Praxis. Wir bekommen durchaus
auch Patienten zu einer stationären Reha, die partout ihre Rente wollen. Jetzt weiß
solch ein Patient natürlich, die Reha-Maßnahme hier ist das letzte Tor, durch das
ich durch muss, damit ich meine Rente bekomme. Ganz salopp, aber durchaus schon erlebt:
Dem geht es bei der Aufnahme mit seinem Rücken total schlecht, wenig später sehen
wir aber, was er dann so alles im Raucherpavillon oder in der Freizeit doch wieder
kann. In unserem stationären Reha-Programm für Patienten mit chronischen Rückenschmerzen
IOPKO erläutern wir dann unter anderem Rentenrecht und sozialmedizinische Beurteilung.
? Das ändert wohl kaum die Einstellung eines Patienten, der partout die Rente will?
Warten Sie. Im Rahmen einer speziellen Veranstaltung erläutern wir dem Patienten zu
Beginn der Rehabilitation das Rentenrecht und die sozialmedizinischen Beurteilungskriterien.
Wir spielen die Sache dann in kleinen Gruppen durch. Jeder beurteilt auch einmal in
der Arztrolle, ob ein Musterpatient denn noch arbeiten kann oder nicht mehr. Am ICF-Modell
aufgebaut. Und glauben Sie mir, mancher, der selber eigentlich überhaupt nicht mehr
konnte, urteilt dann als "Arzt" knallhart gegen die vorzeitige Rente, viel härter
als mancher echte Arzt. Die meisten erkennen auch, dass ihre persönliche Situation
nicht auf eine Rente hinaus läuft. Und genau in dem Augenblick haben wir ihn, können
wir eine ernsthafte Diskussion mit ihm beginnen, welche Möglichkeiten medizinische
und berufliche Reha bieten.
? Jetzt haben Sie den Trick verraten.
(Lacht). Ich will hier auf keinen Fall beschönigen. Manche Patienten sind wirklich
arm dran. Mitunter ist es traurige Pflicht, jemandem zu sagen, dass er umschulen muss.
? Was kann Reha wirklich? Kann Reha überhaupt liefern, Leute länger im Arbeitsleben
zu halten?
Ich denke ja. Der wesentliche Anteil derjenigen, die hierzulande eine Rehabilitationsmaßnahme
zu Lasten der Rentenversicherung macht, geht auch wieder arbeiten.
? Vier Monate Gewinn an zusätzlicher Arbeitszeit gelten als Minimum, damit sich Reha
für die Rentenversicherung rechnet. Das schaffen Sie?
Nicht auf jeden Fall, nein. Aber wenn wir diesen unspezifischen Rückenschmerz multimodal
angehen, multidisziplinär, nicht nur der Orthopäde, sondern auch Psychologe, Physiotherapeut
und andere therapeutische Berufe, vielleicht auch der Diät-Berater zusammenarbeiten…
Wenn wir mit dem Patienten Verhaltensmuster erarbeiten, Programme mit hoher Intensität
fahren, werden wir vielen zu einem längeren Arbeitsleben verhelfen.
Unser größtes Problem ist derzeit, dass wir die Patienten oft viel zu spät bekommen.
Ideal zur Chronifizierungsprophylaxe wäre, wenn wir die Menschen mit Rückenschmerzen
spätestens drei Monate nach Erstdiagnose bekommen.
? Und das klappt nicht?
Allgemein- und Fachärzte denken oft noch zu spät an eine Reha. Und wir haben da leider
ein großes Beharrungsvermögen im System. Es geht viel besser in Netzwerken wie hier
in der Rückenallianz Osnabrück. Da arbeiten 12 bis 15 niedergelassene Orthopäden,
zwei Psychologen, zwei Rehakliniken, ein Operateur eng zusammen. Der Patient bezahlt
eine Gebühr von 50 Euro als Eintritt, eine IGEL-Leistung. Dafür kriegt er für ein
Screening den Örebro-Fragebogen, der die psychosoziale Dimension des Patienten recht
gut erfasst. Und dann wird der Patient im Netzwerk auch wirklich dorthin geschickt,
wo wir ihm am besten helfen können.
Viele Orthopäden nutzen solch einen Screeningbogen heute leider noch nicht. Der zweite
Engpass vor Ort bleibt, dass es oft an Psychotherapeuten für solch eine interdisziplinäre
Behandlung fehlt, bzw. keine Termine zu bekommen sind.
? Sie bieten auch eine stationäre Reha bei Rückenschmerzen an. Ihr IOPKO-Programm
wird in der Fachszene als eines der wenigen hiesigen Programme diskutiert, für das
echte Erfolgsbelege im Vergleich zu einer Kontrollgruppe vorliegen. Könnten Sie es
kurz vorstellen?
IOPKO steht für Integriertes orthopädisch-psychosomatisches Behandlungskonzept. Wir
teilen unsere Patienten dabei einer von drei Gruppen zu. Das leistet ein Team, das
am Anfang die Diagnostik macht, Arzt, Psycho- und Physiotherapeut. Allerdings stellen
wir das derzeit um auf eine Batterie an Fragebögen, weil das sonst personell kaum
mehr zu schaffen ist.
? Welche drei Gruppen an Patienten haben Sie dann?
Einmal sprechen wir von der Rückentraining-Gruppe. Das sind reine somatische Patienten
mit Haltungsinsuffizienz, die kriegen vor allem ein knackiges Rücken-Trainings-Aufbauprogramm.
Die zweite Gruppe heißt bei uns Rückenfit. Es sind unsere psychosozialen Problemfälle,
die ein intensives somatisch-psychosoziales Programm erhalten. Dann gibt es noch die
Gruppe der "Individuell Verplanten". Patienten, die aus irgendwelchen Gründen, etwa
wegen Sprachbarrieren, nicht am normalen Programm teilnehmen können.
? In einer aktuellen Arbeit schreiben aber auch Sie: Es gibt kaum aussagekräftige
Assessment-Instrumente und kein prognostisch valides Ablaufschema für eine patientenspezifische
Intervention …
Bisher nicht. Was wir versuchen ist eine Annäherung für ein gutes Assessment. Was
wir dafür haben, sind Teillösungen. Ich gehe aber davon aus, dass wir mehr und mehr
ein flächendeckendes Screening bei den Rentenversicherungen umsetzen. Vor allem fehlt
uns noch ein Assessment, das uns alle Fragen löst. Das Beste in dieser Hinsicht, was
wir derzeit haben, ist der RMK-Fragebogen (siehe auch Interview Spyra). Wir sind gerade
mit dabei, ihn weiter zu testen.
? Nochmal zu IOPKO. Ihre Studie dazu hat ergeben, dass Erfolge wie Schmerzreduktion
auch noch zehn Monate nach Reha-Ende bei den Teilnehmern signifikant besser gelang,
als bei einer Kontrollgruppe, die eine "normale" Reha bekam. Am Arbeitsmarkt aber
schnitten beide Gruppen gleich gut oder schlecht ab. Also nützt auch IOPKO den Leuten
am Arbeitsmarkt nicht mehr als andere Programme?
Das ist nicht ganz richtig. Wir hatten in der Interventionsgruppe schon deutlich weniger
Arbeitsunfähigkeitszeiten (AU-Zeiten). Das Problem bei der Frage nach Arbeitsplatzeffekten
ist und das ist wirklich das Theater da dran: Sie können der orthopädischen Reha häufig
nicht eine wesentliche Änderung von Beschäftigungszahlen abverlangen. Denn wir können
den Arbeitsmarkt nicht beeinflussen. Ein chronischer Rückenschmerzpatient über 55,
der hat ein Problem überhaupt wieder einen Job zu finden, insbesondere, wenn er körperlich
arbeitet.
? Wenn es so ist, wie Sie sagen, lässt sich in Studien ja kaum zeigen, dass Reha für
das Motto Reha vor Rente wirklich taugt?
Das bleibt ein Problem.
? Es wäre schön, auch mal ein fünf-Jahres-Follow-Up nach IOPKO zu kriegen?
Das ist schwer. Da muss man sagen, schon allein unsere Studie mit 10 Monaten Follow
Up hat drei bis vier Jahre gedauert, um die erforderliche Power und Fallzahl zu bekommen.
Es ist aber richtig, wir müssen weitere Studien bringen, möglichst mit objektivierbaren
Parametern wie der Frage nach der Arbeitsfähigkeit.
? Warum einigen sich nicht alle Reha-Kliniken in Deutschland auf einige wenige, dafür
möglichst gut untersuchte Programme? Die Landschaft wirkt extrem verschachtelt, jede
Einrichtung mit ihrem Programm …
Derzeit versucht die DRV über die Einführung evidenzbasierter Therapiestandards diesem
Problem entgegen zu wirken (siehe auch Haupttext).
? Die Versicherungen könnte aber ein Programm wie IOPKO als Standard einrichten?
Nein, Sie können die wesentlichen Inhalte zur Vorschrift machen. Und das ist über
die Therapiestandards der DRV gemacht.
? Wird es einmal Fallpauschalen, Reha-DRGs geben? Wäre das ein Weg der Qualitätssteuerung?
Das wäre auf lange Sicht sicherlich sinnvoll, aber davon sind wir noch ein gutes Stück
weg.