Einleitung
Mit der Entwicklung der Osteosynthese in der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie
wurden verschiedene Systeme entwickelt, die kleiner, einfacher zu handhaben geworden
sind und extraorale Verfahren vermeiden. Mittlerweile hat sich die Fixierung von Unterkieferfrakturen
mit Miniplatten zu einer Standardbehandlung entwickelt [1]. Dennoch wurden Komplikationen bei der Miniplatten-Osteosynthese des Unterkiefers
v. a. im Kieferwinkelbereich in bis zu 30 % der Fälle beschrieben. Hierzu gehören
die Bewegung und das Lösen von Schrauben, die zum Scheitern der Frakturbehandlung
führen. Außerdem stört der Druck der Platte die Blutversorgung, was zu Knochennekrose
im Bereich der Schrauben und zum Verlust der Friktion der Platte führt.
Um die Miniplatten-Osteosynthese zu verbessern, wurde ein neues internes Mini-Locking-System
in Zusammenarbeit mit dem AO/ASIF-Institut (Davos, Schweiz) entwickelt.
Materialien und Methoden
Dimensionen des neuen Mini-Locking-Systems sind mit herkömmlichen 2,0-mm-Miniplatten-Systemen
vergleichbar. Zusätzlich hat die selbstschneidende 2,0-mm-Locking-Schraube ein spezielles
doppeltes Gewinde um den Schraubenkopf.
Die Locking-Platte hat ein entsprechendes Innengewinde in den Schraubenlöchern. Beim
Einsetzen verriegelt sich die Locking-Schraube in das korrespondierende Gewinde der
Plattenlöcher ([Abb. 1]).
Abb. 1 Mini-Locking-System (Plattendicke 1,0 mm, Schraube Außendurchmesser 2,0 mm).
In einer präklinischen Untersuchung am AO/ASIF-Institut (Davos, Schweiz) haben wir
die Handhabung und mechanische Stabilität des neuen Mini-Locking-Systems gegenüber
dem herkömmlichen 2,0-mm-Miniplatten-System bewiesen.
Standardisierte Osteotomien im rechten Unterkieferwinkel wurden bei 16 menschlichen
Leichen durchgeführt und mit einer 6-Loch-Platte (Länge 40 mm, Dicke 1,0 mm) und 6
Schrauben (Länge 6,0 mm, Außendurchmesser 2,0 mm) eines jeden Systems an der Linea
obliqua fixiert.
Acht Unterkiefer wurden mit dem Mini-Locking-System und 8 Unterkiefer mit konventionellen
Miniplatten fixiert.
Um den Einfluss der anatomischen Unterschiede auszuschalten, wurden die Unterkiefer
in 2 äquivalente Testgruppen nach der Matched-Pairs-Methode aufgeteilt.
Nach der Osteosynthese wurden die Spalten (Distanzierung) und die Torsion an den Osteotomiespalten
(kranial und kaudal) gemessen.
Die mechanische Stabilität der verschiedenen Fixationsmethoden wurde gemäß der Kroon-Methode
[3] mit einem 3-dimensionalen In-vitro-Modell ([Abb. 2]) getestet.
Abb. 2 3-D-Belastungs-In-vitro-Modell.
Die Anwendung von funktionellen Belastungen mit 20, 35, 50 und 65 N wurde an 9 verschiedenen
Stellen entlang der Zahnreihe durchgeführt. Die funktionalen Belastungen wurden nacheinander
ohne Anziehen der Schrauben bei jeder Belastung durchgeführt. Änderungen der Dimension
als Reaktion auf Distraktion oder Kompression wurden computergestützt an 3 Stellen
der Osteotomie (kranial, lingual, kaudal) mit Dehnungsmessstreifen erfasst.
Statistische Auswertungen wurden mit Varianzanalysen durchgeführt (General mixed model
analysis of variance, Mann-Whitney-Test).
Ergebnisse
Nach der Osteosynthese zeigten die Unterkiefer, die mit dem Mini-Locking-System versorgt
wurden, die kleinste Spaltmasse (Distanzierung) und Torsionen.
Im Vergleich zu den Miniplatten waren die Unterschiede signifikant ([Abb. 3]). An der kaudalen Stelle der Osteotomie waren sie am signifikantesten (p = 0,010).
Abb. 3 Distanzierung und Torsion nach Osteosynthese.
Bei der Simulation der Muskelkräfte mit mechanischer Belastung wurden in beiden Gruppen
die typischen zunehmenden Dislokationen am kaudalen Rand des Unterkiefers beobachtet,
wenn die Belastung näher an die Osteotomiestelle übertragen wurde ([Abb. 4]).
Abb. 4 Osteotomie am Kieferwinkel mit Mini-Locking-System fixiert während der funktionellen
Belastung. Typische Dislokation am kaudalen Rand des Unterkiefers, wenn die Belastung
näher an die Osteotomiestelle übertragen wurde.
Außer den zunehmenden Dislokationen wurden keine Unterschiede bez. der Charakteristik
der Verteilung von Werten beim Erhöhen der funktionellen Belastung beobachtet.
Im Vergleich zu den verschiedenen Methoden der Fixierung zeigte das Mini-Locking-System
die beste Stabilität.
In Bezug auf die 4 verschiedenen Belastungskräfte waren die Werte in allen Belastungspositionen
signifikant niedriger für das Mini-Locking-System als für die Miniplatten. Die höchste
Signifikanz (p = 0,015) zeigte sich am kaudalen Dehnungsmessstreifen ([Abb. 5]).
Abb. 5 Distraktion und Kompression an der kaudalen Seite der Osteotomie (Belastung mit 35 N).
Rosa Säulen Mini-Locking-System. Hellblaue Säulen Miniplatte.
Diskussion
Der Vergleich der verschiedenen Methoden der Osteosynthese zeigte, dass bei der Fixierung
mit Miniplatten vermehrte Verdrehung (Torsion) und Distanzierung der Knochenfragmente
während des Anziehens der Schrauben auftraten, wenn die Platten auf den Knochen angepresst
wurden.
Dies ist das Ergebnis der unterschiedlichen Fixierungsmethode. Bei Verwendung konventioneller
Miniplatten ist es essenziell, die Platte exakt an die Knochenoberfläche zu adaptieren.
Es werden letzte Inkongruenzen von Platten- zu Knochenoberfläche beim Anziehen der
Schrauben auf die mobilen Knochenfragmente übertragen. Damit kommt es zu vermehrter
Verdrehung und Distanzierung und einem primären Repositionsverlust.
Wenn das Mini-Locking-System mit Locking-Schrauben fixert wird, bleibt die Reposition
nahezu unverändert. Daher muss die Platte nicht so genau wie bei konventionellen Plattensystemen
adaptiert werden.
Bei der mechanischen Belastung wurden in beiden Gruppen die typischen zunehmenden
Dislokationen am kaudalen Rand des Unterkiefers beobachtet, wenn die Belastung näher
an die Osteotomiestelle übertragen wurde [3], [4].
Andererseits zeigte das Mini-Locking-System die beste Stabilität. Dies ist auch das
Ergebnis der unterschiedlichen Fixierungsmethode.
Bei der konventionellen Technik drückt das Anziehen der Schrauben die Platte gegen
den Knochen. Dieser Druck erzeugt Friktion, die wesentlich zur Primärstabilität beiträgt
([Abb. 6]). Am Schraubengewinde hat nur die Seite, die zu der Platte orientiert ist, an der
Entwicklung des Druckes auf die Platte Anteil.
Abb. 6 Primärstabilität bei konventioneller Miniplatte. Pfeil = Belastungsverteilung und
Druck/Gegendruck (Reibung) an der Platte/Knochen.
Bei dem Mini-Locking-System werden die auftretenden Kräfte vom Knochen direkt auf
die Schrauben, von dort auf die Platte und auf der anderen Frakturseite wieder über
die Schrauben auf den Knochen übertragen. Die Reibung zwischen Platte und Knochen
ist zur Stabilität nicht notwendig. Auf jeder Frakturseite verankern sich die Schrauben
zum einen in der Platte und zum anderen in der äußeren Kortikalis, sodass ein mechanisch
starrer stabiler Rahmen gebildet wird ([Abb. 7]). Kräfte an der Schraube werden besser über die ganze Gewindekontur verteilt.
Abb. 7 Primärstabilität beim Mini-Locking-System. Pfeil = Belastungsverteilung direkte Übertragung
vom Knochen auf die Schrauben, von dort auf die Platte und auf der anderen Frakturseite
wieder über die Schrauben auf den Knochen). Rechtecke = mechanisch starrer Rahmen
als Ergebnis der Verriegelung der Schraube in der Platte sowie in den Knochen.
In Trümmer- oder Defektfrakturen kann die Fixierung mit konventionellen Plattensystemen
zur sekundären Dislokation führen, wenn der Druck zwischen Platte und Knochen nicht
mehr gewährleistet ist. Die Plattenosteosynthese mit Locking-Schrauben kann diese
Art von sekundärer Dislokation vermeiden. Auch in schlechter Knochenqualität kann
die Verankerung der Schrauben zu einer Lockerung und damit zum anschließenden Verlust
der Reposition führen. Durch die sichere Verriegelung der Schraube in der Platte kann
dieses Problem mit dem Mini-Locking-System vermieden werden.
Schlussfolgerung
Das neue interne Mini-Locking-System kombiniert 2 Prinzipien mit mehreren Vorteilen.
Das Locking-Prinzip verhindert das Abziehen sowie die Bewegung und die Lockerung von
Schrauben. Die Fixierungstechnik imitiert die Prinzipien eines Fixateurs.
Dies vereinfacht die Biegung der Platte und vermindert die Torsion oder die Distanzierung
an der Frakturstelle. Die erhöhte Stabilität ist das Ergebnis des mechanisch starren
Rahmens und der Belastungsübertragung wie oben beschrieben. Der fehlende Druck unter
der Platte verhindert Interferenzen mit der Gefäßversorgung des Knochens und ermöglicht
das Periostwachstum unter den Platten, was die Frakturheilung unterstützt. Dies wurde
klinisch bei allen mit Mini-Locking-Platten behandelten Frakturen bei der Plattenentfernung
nach 6 Monaten beobachtet.
Zusätzlich zu den kleinen Mini-Locking-Platten wurden 2 größere Platten für ein breiteres
Spektrum von Indikationen entwickelt. Die 2,0-mm-Schraube passt zu allen Plattenkonfigurationen
und kann mono- oder bikortikal angewendet werden. Bei Bedarf können auch Non-Locking-Schrauben,
die eine größere Angulation erlauben, benutzt werden.
Die ersten klinischen Anwendungen mit allen 3 Plattenprofilen zeigten hervorragende
Ergebnisse. Besonders bei schweren Frakturen und Trümmerfrakturen ([Abb. 8]) sowie bei Frakturen des atrophischen Unterkiefers ([Abb. 9]) ist die Osteosynthese mit dem Mini-Locking-System mittlerweile eine Standardtherapie
in unserer Klinik geworden.
Abb. 8 Prä- und postoperative Röntgenaufnahmen einer schweren dislozierten Fraktur, Corpus
mandibula links. Fixation mit 2 Mini-Locking-Platten (klein und medium).
Abb. 9 Postoperative Röntgenaufnahme einer doppelseitigen Fraktur eines atrophischen Unterkiefers.
Fixation mit 2 Mini-Locking-Platten (medium); zusätzlich eine linke Jochbogenfraktur
mit 3 Mini-Locking-Platten fixiert (klein).