Zeitschrift für Palliativmedizin 2012; 13(3): 107-108
DOI: 10.1055/s-0032-1315401
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Sterbehilfeklinik in den Niederlanden eröffnet

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Publication Date:
23 May 2012 (online)

Liebe Leserinnen und Leser,

Anfang März wurde in Den Haag die erste Sterbehilfeklinik der Welt eröffnet. Nach Angaben des Betreibers, der Niederländischen Vereinigung für ein freiwilliges Lebensende (NVVE), soll die Klinik als Anlaufstelle für alle Niederländer dienen, die Sterben wollen aber keinen Arzt finden, der bereit ist, diesen Wunsch zu erfüllen. Zur Klinik gehören sechs ambulante Sterbehilfe-Teams, bestehend aus je einem Arzt und einer Pflegekraft. Ein ergänzendes stationäres Angebot ist geplant. Die NVVE schätzt, dass jährlich rund 1000 Patienten die Unterstützung der Klinik in Anspruch nehmen wollen. Dieses Angebot soll auch nicht Sterbenskranken zur Verfügung stehen [1]. Ist dies – wie von Gegnern seit Jahren befürchtet – nun der Dammbruch oder nur eine folgerichtige Entwicklung hinsichtlich einer liberalen Sterbehilfepolitik?

In den Niederlanden gibt es seit 2002 ein Gesetz, welches Ärzten ermöglicht, straffrei Tötung auf Verlangen und Beihilfe zum Suizid zu leisten. Das Gesetz regelt nun eine seit Jahren bestehende und von den Gerichten geduldete Praxis. Die Grundlagen dazu bieten Sorgfaltskriterien, die von der KNMG, der größten niederländischen Ärztevereinigung, bereits 1984 definiert wurden. Nach diesen muss der Patient seine Bitte freiwillig und nach reiflicher Überlegung stellen. Das Verlangen nach Sterbehilfe muss Ausdruck eines vom Patienten selbst als aussichtslos und unerträglich empfundenen Leidens sein. Arzt und Patient müssen gemeinsam zu der Überzeugung gelangen, dass es für den Patienten keine andere annehmbare Lösung gibt. Dies setzt voraus, dass der Arzt den Patienten über die Situation und seine Aussichten aufgeklärt hat. Ein zweiter, unabhängiger Arzt muss mit dem Patienten sprechen und das Vorliegen der genannten Kriterien schriftlich bestätigen. Das Gesetz sieht ferner vor, dass der Arzt die von ihm durchgeführte Sterbehilfehandlung einer Kontrollkommission meldet. Diese besteht aus einem Juristen, einem Arzt und einem Ethiker. Gelangt die Kommission zu dem Ergebnis, dass alle Sorgfaltskriterien eingehalten wurden, muss der Arzt keine strafrechtlichen Schritte befürchten. Im Jahre 2010 wurden knapp 3000 Fälle von Tötung auf Verlangen und 200 Fälle von Beihilfe zum Suizid gemeldet [2].

In Deutschland reagieren Politiker und ärztliche Standesvertreter auf die Forderungen nach einer Liberalisierung der Sterbehilfe zumeist reflexhaft mit dem Argument, dass eine gute und flächendeckende Palliativmedizin den Ruf nach aktiver Sterbehilfe verstummen lässt. Die Lösung „Palliativmedizin statt Sterbehilfe“ wird jedoch der Komplexität der Problematik nicht gerecht: Zwar stellen palliative Angebote ein wichtiges Präventiv gegen vorschnelle Sterbehilfe dar, aber auch bei guter palliativer Versorgung wird es immer Patienten geben, deren Leiden nicht angemessen gelindert werden kann, oder die einen schnellen Tod den palliativen Angeboten vorziehen. Der mit dem Argument verbundene Vorwurf, aktive Sterbehilfe würde in Ländern wie Niederlande, Belgien oder Luxemburg nur deshalb praktiziert, weil es dort keine gute palliative Versorgung gäbe, ist nicht haltbar: Ein Bericht der European Association for Palliative Care (EAPC) aus 2011 zeigt, dass Palliative Care in diesen Ländern nicht schlechter entwickelt ist als im übrigen Europa [3].

Doch auch wenn man Tötung auf Verlangen und Beihilfe zum Suizid nicht grundsätzlich ablehnt, gibt es einige Punkte, die einem angesichts der neuen Entwicklung in den Niederlanden zu denken geben: Befürworter sehen aktive Sterbehilfe oft als Ausdruck und Konsequenz einer vertrauensvollen Arzt-Patienten-Beziehung. In den Niederlanden führen Hausärzte rund 90% der Sterbehilfe durch. Sie kennen und begleiten ihre Patienten in der Regel auch über einen längeren Zeitraum. Bei den Mitarbeitern der neuen Sterbehilfeklinik ist das anders, hier konzentriert sich das Verhältnis zum Patienten ausschließlich auf die Sterbehilfe. Dadurch besteht die Gefahr, dass Alternativen von vornherein ausgeblendet werden.

Bislang werden in den Niederlanden rund zwei Drittel der Anträge auf Sterbehilfe von den Ärzten abgelehnt – weniger aus grundsätzlichen moralischen Bedenken, sondern weil die Voraussetzungen zur Sterbehilfe nicht erfüllt sind. Da sich die Angebote der neuen Sterbehilfeklinik ausdrücklich an Patienten richten, deren Wunsch nach Sterbehilfe von anderen Ärzten abgelehnt wurde, ist zu befürchten, dass die bestehenden Sorgfaltskriterien aufgeweicht werden. Eine weitere Liberalisierung der Sterbehilfepraxis ist auch erklärtes Ziel der NVVE. So war die neue Sterbehilfeklinik ursprünglich auch als Anlaufstelle für Lebensmüde aller Art geplant, die einen von Ärzten begleiteten Suizid begehen wollen. Von diesem Vorhaben ist man vorerst wieder abgerückt, da Suizidbeihilfe in den Niederlanden nur im Rahmen der oben genannten Sorgfaltskriterien möglich ist.

Nach Angaben des Vereins rufen jährlich tausende Menschen in der Geschäftsstelle an, weil sie sterben wollen und Rat suchen. Petra de Jong, die Direktorin der NVVE, sieht es nicht als Aufgabe des Vereins, suizidwillige Menschen von ihrem Vorhaben abzubringen. Einen solchen Versuch hält sie für „paternalistisch“. Stattdessen erhalten die Anrufer Informationen, wie ein Suizid möglichst sicher gelingt [1]. Wie frei und autonom aber ist die Entscheidung eines schwer kranken oder lebensmüden Menschen, der auf entsprechende Anfrage die Anleitung zum Suizid ausgehändigt bekommt, ohne dass vorher andere Alternativen mit ihm besprochen und ausprobiert werden?

PD Dr. Alfred Simon
Akademie für Ethik in der Medizin
Universitätsmedizin Göttingen

[1] SPIEGEL ONLINE, Höflinger L: Tödlicher Hausbesuch (19.3.2012). Im Internet: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-84430240.html (Stand: 16.04.2012)

[2] Jaarverslag 2010, Regionale toetsingscommissies euthanasie (2011). Im Internet: http://www.euthanasiecommissie.nl/doc/pdf/RTE%20jaarverslag%202010_29870.pdf (Stand: 15.4.2012)

[3] European Association for Palliative Care (2011): Palliative Care Development in Countries with an Euthanasia Law. Report for the Commission on Assisted Dying Briefing Papers. Im Internet: http://www.commissiononassisteddying.co.uk/wp-content/uploads/2011/10/EAPC-Briefing-Paper-Palliative-Care-in-Countries-with-a-Euthanasia-Law.pdf (Stand: 15.4.2012)

PD Dr. Alfred Simon