Der Klinikarzt 2012; 41(5): 213
DOI: 10.1055/s-0032-1316499
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Der gute Arzt: Bald nur noch ein Wunschtraum?

Matthias Leschke
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Publication Date:
04 June 2012 (online)

Vor ein paar Jahrzehnten waren 80-Jährige noch eine Ausnahme. Viele Menschen erreichen heute ein fast schon biblisches Alter, was diverse Leiden und Gebrechen nach sich ziehen kann. Herz und Kreislauf machen Probleme, Knochen und Gelenke schmerzen.

Doch die Medizin kann das inzwischen fast alles richten. Ein aktueller Fall: Die Anzahl von Knie- und Hüftoperationen steigt drastisch an. Inklusive Nachbehandlung kostet uns das 3,5 Milliarden Euro im Jahr. Gesundheitsminister Bahr ist jetzt vorgeprescht: „Deutschland gilt als Weltmeister bei den Endoprothesen für Knie und Hüften“ sagte er in einem Interview mit der Rheinischen Post.

In England praktiziert man die Rationierung medizinischer Leistungen schon länger: Für Senioren gibt es keine künstlichen Hüften mehr. Warum müssen Leute in diesem Alter auch wie Junge herumspringen? Fast würde man meinen, Krücken tun es auch. Die Empörung, die solche Äußerungen hervorrufen, ist zu verstehen, denn es handelt sich nicht nur um ein paar Ältere – die Senioren sind mittlerweile in der Mehrzahl. Ein Leben lang haben sie geackert, und jetzt will man ihnen das verweigern, was routinemäßig möglich ist: eine neue schmerzfreie Hüfte. Für die Misswirtschaft bankrotter Staaten wird dem Volk ein Billionen Euro schwerer Rettungsschirm schmackhaft gemacht, aber ein paar kleine Milliarden für die Endoprothetik – nein Danke – die Empörung ist verständlich. Was tun?

Die moderne Technik hat ein neues Zeitalter eingeläutet. Auch die Medizintechnik leistet heute Dinge, die man früher für utopisch gehalten hat: Die aktuellen Daten von Herzpatienten lassen sich in Echtzeit an den Kardiologen übermitteln, und er greift ein, bevor es kritisch wird. Telemedizin heißt dieses Geschenk der Moderne. Wenn man diese Entwicklung weiter denkt, dann stellt sich die Frage, wer kann dies zukünftig bezahlen? Die Klinik nicht, der Arzt nicht, die Kasse nicht und der gesundheitsbewusste Zeitgenosse meist noch viel weniger.

Wir sind demnach an einem Punkt angelangt, wo die technischen Möglichkeiten fast schon zur Farce werden, wo sie den Arzt ersetzen, zumindest den Arzt alter Prägung. In vielen Kliniken wird der Patient erst durch die diagnostische Mangel gedreht: Eine lange Liste an Laboruntersuchungen, die Stafette der bildgebenden Verfahren, Screenings, und wenn dann die Akte auf dem Bildschirm vorliegt, überlegt sich der Arzt, was der Patient denn haben könnte. Der Arzt stellt sich dann quasi nur noch die einzelnen diagnostischen Puzzleteile der Medizintechnik zusammen und zieht daraus sein diagnostisches Fazit. Leider funktioniert das aber nicht immer. Mitunter fängt jetzt eine Odyssee für den Patienten an. Was da diagnostiziert und leitliniengerecht (denn individuell getraut sich heute nur noch selten ein Arzt zu therapieren) behandelt wird, führt nicht zum Erfolg. Schmerzen bleiben, das Leiden spricht nicht auf die Tabletten oder die OP an. Also zum nächsten Arzt oder zur nächsten Klinik. Und es kann lange dauern, bis irgendwann ein Mediziner nach längerem eingehendem Gespräch klar sieht und die richtige Diagnose stellt.

Wir wissen ja, für ein ausführliches Gespräch mit dem Patienten hat der frei praktizierende Arzt keine Zeit. Er würde sie sich gerne nehmen, doch die Kassen zahlen das nicht. Die bezahlen die Technik. Apparatemedizin ist etwas Handfestes, und will der Doktor nicht pleite gehen, beugt er sich dem Diktat der Apparate. Im Krankenhaus läuft dies nicht besser. Die Assistenten verordnen die Technik, denn die Kunst der Anamnese lehren die Chefs auch nur noch am Rande. Keine Zeit. Chefärzte fühlen sich von ihrem Management gedrängt, Zielvereinbarungen werden vereinbart, es gibt Boni oder – falls das Umsatzziel nicht erreicht wird – manchmal sogar Gehaltsabzüge. Chefs und Oberärzte haben keine Zeit mehr für ihre Patienten. Zertifizierungen, Kommissionen, Controllingsession, externe und interne Meetings, die praktizierende Medizin bleibt da auf der Strecke.

Der Hype der Medizintechnologie macht uns nicht gesünder. Wir brauchen den Arzt in der Praxis und in der Klinik, der uns zuhört. Der mal in die Familiengeschichte schaut, der die soziale und psychische Situation auslotet, der seinen Patienten aufmerksam mustert, abtastet, abhört, die Gesichtsfarbe beurteilt und für seinen diagnostischen Verdacht eigentlich kaum, höchstens zur Verifizierung, ein wenig gezielte Medizintechnik braucht. Nur: Dem Arzt bezahlt das keiner. Die Kassenchefs plädieren zwar für die sprechende Medizin, aber sie tun einen Teufel, dies auch umzusetzen. Keiner getraut es sich.

In den Kliniken ist das noch gravierender. Seitdem häufig Wirtschaftlichkeit vor Medizin rangiert, gilt es Umsatz zu machen, einen hohen CMI anzustreben, prestigeträchtige DRGs zu akquirieren. Was unterscheidet dann eine Klinik, die ihren Chefärzten vorgibt, wie viele Eingriffe dieser oder jener Art sie machen müssen, noch von einer Autofirma, die ihren Managern Umsatzmargen vorgibt? Auch die Klinikmanager können nicht anders. Wirtschaftliche Zwänge: Die schwarze Null muss stehen.

Es wäre, um hoffnungsvoll zu schließen, zu wünschen, dass wir in uns gehen und uns unsere „Kunden“ wieder als Patienten vorstellen dürfen. Ins Krankenhaus gehört Menschlichkeit. Gesundheit ist kein Geschäft oder zumindest ein besonders sensibles. Ein Grund mehr, die sprechende Medizin wieder einzuführen und zu honorieren. Wirtschaftlichkeit und Medizin müssen parallel gehen. Der gute Arzt muss honoriert werden.