Via medici 2012; 17(04): 56-57
DOI: 10.1055/s-0032-1328910
medizin
© Georg Thieme Verlag Stuttgart - New York

Brief aus der Praxis, Nr. 1: Visusverlust


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Publication Date:
20 September 2012 (online)

Ein Patient kommt in die Ambulanz – und sieht auf einem Auge nicht mehr richtig. Dieses Symptom löst sofort eine ganze Flut von Differenzialdiagnosen aus. Thao Tran, Assistenzärztin im Krankenhaus Leonberg, erzählt in einem Brief aus der Praxis , wie sie so einen Fall erfolgreich gemanagt hat.

Liebe Kollegen im Studium.

als Studentin habe ich mir die Arbeit in einer internistischen Notfallambulanz immer unglaublich spannend und abwechslungsreich vorgestellt: Ein Myokardinfarkt folgt dem nächsten, zwischendurch versorgt man eine gastrointestinale Blutung oder eine akute Nierenkolik. Und natürlich hat man immer noch genug Zeit für emotionale Gespräche mit den Patienten und deren Angehörigen. Rückblickend hatte ich mich bei dieser Vorstellung wohl zu sehr von Arztserien à la Emergency Room oder Grey’s Anatomy beeinflussen lassen. In der Realität kommen die Patienten oft mit banalen Dingen in die Ambulanz, die Zeit für Gespräche ist stark begrenzt – und was ich so auch nicht erwartet hätte: Man wird ständig mit Krankheitsbildern konfrontiert, die so gar nichts mit der Inneren Medizin zu tun haben … zumindest auf den ersten Blick!

Ich erinnere mich noch sehr genau an einen Fall, den ich in einem meiner ersten Samstagsdienste erlebt habe. Die Ambulanzschwester kündigte mir einen neuen Patienten mit Sehstörungen an, was mich innerlich aufstöhnen ließ. Ophthalmologie war nicht gerade eins meiner Lieblingsfächer gewesen. Fieberhaft dachte ich über mögliche Ursachen für einen Visusverlust nach. Das einzige, was mir spontan einfiel, waren die Netzhautablösung und der Zentralarterienverschluss. Und konnte nicht auch eine diabetische Retinopathie Sehstörungen verursachen? Bevor ich mir weiter das Hirn zermartern konnte, betrat auch schon der Patient den Untersuchungsraum. Ich hatte einen rüstigen, 77-jährigen Herrn vor mir stehen, der von seiner Frau ins Krankenhaus gebracht worden war. Vor drei Stunden sei ihm plötzlich eine Sehschwäche des linken Auges aufgefallen. Er könne nur verschwommen sehen. Da sich die Symptomatik nicht gebessert habe, sei er zur Sicherheit ins Krankenhaus gekommen. Auf die Frage, ob er denn sonst etwas Ungewöhnliches bemerkt habe, erzählte der Patient, dass er auch ein pelziges Gefühl im linken Arm habe. Zuerst habe er gedacht, sein Arm wäre eingeschlafen, doch die Gefühlsstörung habe angehalten, was doch sehr ungewöhnlich wäre. Das ließ mich aufhorchen. Die Frage zu weiteren Parästhesien in den Beinen verneinte der Patient, auch sei ihm keine Schwäche der Extremitäten aufgefallen. Ihm sei jedoch sehr schwindlig, was das Laufen erschwerte. Ansonsten hatte er bis auf eine Magenperforation vor einem Monat keine Vorerkrankungen. Medikamente nahm der Patient nicht ein. In der klinischen Untersuchung fiel mir nichts Besonderes auf, die orientierende neurologische Untersuchung ergab eine Sensibilitätsstörung des kompletten linken Armes, die Kraft in beiden Händen war gleich, der Romberg- und Unterberger-Tretversuch waren unauffällig und es waren keine Paresen zu eruieren. Die Augenuntersuchung bereitete mir mehr Schwierigkeiten. Ich hatte ja keine Spaltlampe, ganz abgesehen davon, dass ich sie wohl auch nicht hätte bedienen können. Und auch eine Sehtafel zur Überprüfung der Sehschärfe war nicht vorhanden. Also ließ ich den Patienten lediglich mit den Augen meinem Finger folgen und versuchte, sein Gesichtsfeld auszutesten, wobei das linke Gesichtsfeld deutlich eingeschränkt zu sein schien. Die Ambulanzschwester hatte dem Patienten bereits ein Routine-Labor abgenommen sowie ein EKG geschrieben. Beides war unauffällig.

Häufige Ursachen für einen plötzlichen Visusverlust
  • Migräne mit Aura

  • Neuritis nervi optici

  • zerebrale Ischämie (TIA bzw. Schlaganfall)

  • Netzhautablösung

  • Zentralarterien- bzw. Arterienastverschluss

  • akutes Glaukom

  • Makulablutung

  • Arteriitis temporalis

  • toxische bzw. physikalische Netzhautschäden

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Abb.: Angiografie mit Bestätigung einer hochgradigen, kurzstreckigen Stenosierung, unmittelbar am Abgang der Arteria carotis interna (ACI)
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Abb.: Nachweis einer hochgradigen Stenose der ACI in der Doppler-sonografie mit durch die Einengung bedingten poststenotischen Rezirkulationen (blau) und Strömungsturbulenzen (grün)

Ganz ehrlich: In diesem Moment war ich ratlos, womit ich es hier tatsächlich zu tun hatte. Denkbar war eine Migräne mit neurologischen Symptomen. Vielleicht hatte der Patient aber auch eine transitorisch ischämische Attacke (TIA). Das wäre dann eher die komplizierte Version, denn immerhin tritt in 10% der Fälle in den ersten beiden Tagen nach einer TIA ein Schlaganfall auf, in den ersten 14 Tagen sind es sogar 15%. Eine schnelle Diagnostik und Sekundärprophylaxe kann dieses Risiko deutlich vermindern. Daher entschloss ich mich, ein CT des Schädels (CCT) durchzuführen. Gemäß den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie soll bei Verdacht auf einen Schlaganfall innerhalb von 25 Minuten nach Eintreffen des Patienten ein CCT erfolgen. Steht ein MRT genauso rasch zur Verfügung, kann auch dies durchgeführt werden. Wie heißt es so schön? „Time is brain“! Jede Minute auf dem Weg zur Rettung von Hirngewebe zählt. Die optimale „door-to-needle time“ vom Eintreffen des Patienten bis zur Lyse-Behandlung beträgt 60 Minuten, wobei insgesamt nicht mehr als 4,5 Stunden seit dem Schlaganfall vergangen sein sollten. Doch nach 30 Minuten gab der Radiologe Entwarnung: Er könne keine frische Ischämie oder Blutung feststellen. Zwar sehe er ausgeprägte Marklagerläsionen, ob sich dahinter ein Infarkt verstecke, könne er aber nur mit einem MRT beurteilen – und das war am Wochenende nicht in Betrieb. Ich war also so schlau wie vorher.

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Abb.: Thao Tran arbeitet als Assistenzärztin im Krankenhaus Leon-berg. Ihre ersten zwölf Monate hat sie in der Gastroenterologie verbracht. Seit fünf Monaten kämpft sie in der Kardiologie mit Vorhofflimmern, Synkopen, kardialen Dekompensationen & Co. Nächstes Jahr erwartet sie eine weitere Herausforderung: die „gefürchtete“ Rotation auf die Intensivstation.

Mein Tipp, falls Ihr mal in eine ähnliche Situation kommt: Scheut nicht davor zurück, zuzugeben, dass Ihr nicht mehr weiterwisst, und holt Euch Hilfe von außen. Das machte ich in diesem Fall nämlich auch. Das Ganze war neurologisch geprägt und meine Fachkompetenzen damit überschritten. Daher rief ich die diensthabende Neurologin an. Diese hörte sich meine Schilderung an – und gab mir recht: Auch sie hielt die Verdachtsdiagnose einer TIA für wahrscheinlich. Glücklicherweise konnte sie den Patienten gleich übernehmen, sodass ich den Patienten in die Neurologie verlegen konnte. Dort wurde unter anderem ein MRT-Schädel durchgeführt, in dem sich ebenfalls keine frische Ischämie darstellte. Im Rahmen der Ursachenforschung wurde eine Echokardiografie durchgeführt, um kardiale Embolien als Genese der Ischämie auszuschließen. Auch in der Duplexsonografie der Hirnbasisarterien fanden sich keine Auffälligkeiten. In der Duplexsono der extrakraniellen, hirnversorgenden Arterien war dann allerdings eine hochgradige Abgangsstenose der Arteria carotis interna zu erkennen, sodass zusammenfassend die Diagnose einer rechtszerebralen transitorisch ischämischen Attacke arterio-arteriell-embolischer Genese gestellt wurde. Eine OP der Stenose lehnte der Patient ab, sodass lediglich eine Sekundärprophylaxe mit ASS und eine gefäßprotektive Therapie mit Simvastatin begonnen wurden.

Unterm Strich hat das Ganze also gut funktioniert. Ich denke, ich habe angemessen reagiert, und der Patient ist gut versorgt worden. Seit diesem Fall bin ich allerdings vorsichtig geworden, wenn sich Patienten mit vermeintlich „harmlosen“ Symptomen vorstellen. Man weiß nie, was sich dahinter verbirgt, und muss wirklich immer auf der Hut sein. In diesem Sinne: Genießt das Studium! ;-)

Sie sind bereits Assistenzarzt oder im PJ und haben eine spannende bzw. lehrreiche Kasuistik erlebt, die Sie in einem „Brief aus der Praxis“ für jüngere Kollegen in Via medici schildern möchten? Dann schreiben Sie an: via.medici@thieme.de

Eure Thao