Via medici 2012; 17(05): 36-37
DOI: 10.1055/s-0032-1331276
medizin
© Georg Thieme Verlag Stuttgart - New York

Brief aus der Praxis, Nr. 4: Aggressive Patientin im Entzug


Subject Editor:
Further Information

Publication History

Publication Date:
16 November 2012 (online)

Eigentlich will man als Mediziner ja helfen und Gutes tun. Wird man persönlich attackiert – zum Beispiel von einem Patienten in einer Psychose –, kommt man mit dieser Strategie aber natürlich nicht weit ... In diesem Brief aus der Praxis erzählt Pjler Arne Conrad aus Halle, wie er während eines Nachtdienstes von einer Patientin im Entzugssyndrom tätlich angegriffen wurde.

Liebe Kommilitonen!

was die Chirurgie anbelangt, hatte ich vor dem PJ eigentlich nur ein großes Ziel: In diesem Fach wollte ich mich keinesfalls verausgaben. Doch dann geschah das Unerwartete: Die chirurgischen Kollegen in meinem Wunschkrankenhaus auf dem platten Land schafften es, mir das beste Tertial meines Lebens zu bereiten! Und weil es so schön war, mache ich dort jetzt hin und wieder einen Nachtdienst als „studentische Aushilfe“ an prognostisch arbeitsreichen Wochenenden. Das hilft mir, beim vielen Kreuzen vor dem Hammerexamen nicht meschugge zu werden, und bringt Geld in die knappe Haushaltskasse. Einer dieser „Nachtdienste“ wird mir wohl ewig in Erinnerung bleiben:

Der Abend begann eigentlich ganz harmlos – wie immer mit ordentlich einkleiden, „Mitternachtssnack“ im Kühlschrank deponieren und gefühlten hundert Leuten „Hallo“ sagen. Die Schwestern haben sich sehr gefreut, glaubten sie mich doch schon an die Lernhölle verloren zu haben, und aus lauter Freude haben sie mich gleich mal zwei Stunden auf Station mit PJler-Routine beschäftigt – also Blut abnehmen, Flexülen legen, Infusionen anhängen, Arztschrift vorlesen … und so weiter.

Dann nahm das Schicksal seinen Lauf: Eine junge Frau wurde vom diensthabenden Kollegen aus der Ambulanz angekündigt mit Verdacht auf subakute Appendizitis. Ich möge sie doch bitte auf Station aufnehmen – oben sei viel los. Na gut, dachte ich mir. Schließlich werde ich dafür ja jetzt bezahlt! Doch schon beim ersten Blickkontakt schwante mir übles: Die „junge Frau“ entpuppte sich als 28-jährige mit 50-jährigem Äußerem, und offensichtlich hatte sie schon alles missbraucht, was sich missbrauchen lässt. Von Amphetamin bis Zolpidem! Ich wette, die hätte auch in die Teppichkante gebissen, wenn das eine stimulierende Wirkung auf sie gehabt hätte ... Wie auch immer – das Aufnahmegespräch gestaltete sich schwierig und drehte sich nur um Zeitpunkt und Dosierung ihrer Entwöhnungstherapie. Ganz nebenbei hatte sie natürlich kaum noch Venen und einen fiesen Spritzenabszess am Oberschenkel. Auf meine Nachfrage, woher der käme, zuckte sie nur mit den Schultern und antwortete: „Das Zeug war wohl doch nicht so rein, wie die mir gesagt haben …“

In weiser Voraussicht, dass die Situation im Laufe der Nacht noch schwieriger werden könnte, holte ich mir mal gleich noch den Psychiater ans Bett. Doch der meinte nur ganz konsiliarisch-kulant: „Also mit dem Abszess ist das nix für uns. Und wenn sie entzügig wird, dann komm ich noch mal ...“ Ratet mal, wen ich nicht mehr gesehen hab, bis die Sonne wieder aufgegangen war? Und ratet mal, wer innerhalb der nächsten Stunden entzügig wurde?

Zoom Image

Wir spielten das Spiel „ICH BRAUCH WAS, DU A... !!!“ und „Bitte bleiben sie ruhig liegen“ dann bis etwa Mitternacht. Dann haben der Assistenzarzt und ich all unseren Mut zusammengenommen und Haloperidol gespritzt – bis Ruhe war. Leider war es nur die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm. Nach gefühlten zehn Minuten Nachtruhe wurde ich panisch von der Nachtschwester auf Station gerufen mit dem Hinweis, die Patientin liefe Amok … Nun. Wenn sie nicht das Bett auf dem Rücken getragen hätte, wäre das wohl so gewesen. Mit herausgetretenem Fußteil hatte sie es irgendwie geschafft, sich aufrecht hinzustellen – das Bett mit den Fixiergurten windschief senkrecht hinter ihr. Mit der „schrägen Ladung“ konnte sie nur Amok gegen den Türrahmen laufen! Mein ärztlicher Kollege hatte sich zu diesem Zeitpunkt mit dem Oberarzt zur Akutversorgung einer GI-Blutung unbemerkt in den OP verdrückt. Deswegen wurden die Schwester und ich telefonisch angewiesen, auf eigene Faust zu handeln: Die Polizei sei schon informiert und „auf dem Weg“ – was immer das heißen mochte.

Hilfreiche Verhaltensweisen im Umgang mit aggressiven Patienten:

  • Achten Sie auf objektive Warnhinweise, die darauf hindeuten, dass eine Eskalation bevorstehen könnte!

  • Nehmen Sie verbale Drohungen ernst!

  • Halten Sie Distanz und achten Sie auf offene Fluchtwege!

  • Reden Sie mit dem Patienten und versuchen Sie, deeskalierend auf ihn einzuwirken!

  • Versuchen Sie bei Gefahr möglichst rasch eine personelle Übermacht herzustellen! Informieren Sie Kollegen, den Sicherheitsdienst und die Polizei!

  • Ziehen Sie frühzeitig und wenn die Bedingungen erfüllt sind (z. B. bei „Gefahr im Verzug“), eine Fixierung in Erwägung! Denn: Auch wenn eine solche Maßnahme schlimm ist, eine aggressive Attacke ist schlimmer – für alle Beteiligten.

Habt Ihr schon mal versucht, eine fixierte Patientin, die ihr eigenes Bett auf dem Rücken hat, wieder in selbiges zu legen? Ich auch nicht!!

Um die Patientin aus der misslichen Situation zu befreien, schnitt ich sie kurzerhand los – was ich wohl besser nicht getan hätte. Durch das Angriffsgebaren der Patientin genötigt, blieb mir nichts anders übrig, als mich dem Nahkampf zu stellen. Das würde ich niemandem zur Nachahmung empfehlen! Aber in dieser Situation war der Zug für jede Deeskalation schon längst abgefahren – und wenn man erst mal die Hände der Patientin in deren eigenem Nacken fixiert hat, während man auf ihrem Rücken kniet, dann sieht die Welt auch schon wieder besser aus. Immerhin hat die Patientin es nicht geschafft, mich anzuspucken oder gar zu beißen. Ich wusste schon immer, warum ich früher mal Judo gelernt hatte. Und nachdem die „echten Ärzte“ aus dem OP zurück waren, eine weitere Dosis Haloperidol drin und uns die Polizei die ordnungsgemäße und verletzungsfreie Versorgung der Patientin bestätigt hatte, durfte ich den Rest der Nacht auch friedlich durchschlafen. Meine Maßnahmen wurden als „rechtfertigender“ Notstand und Notwehr gewertet. Also von daher bin ich beruhigt. Leider hat die Schwester ein Foto von mir nach dem „Scharmützel“ gemacht, wo ich doch ein wenig derangiert aussehe. Und auch wenn sich meine Pflege-Kolleginnen sonst nicht mit Technik auskennen und keinen Stecker in den Perfusor kriegen, aber dass am Sonntag früh dieses Bild von mir druckfrisch in der Stationsküche hing, mit dem Untertitel „Unser neuer Anstaltspfleger“ – das war problemlos möglich ...

Also, mein Tipp, wenn es Euch am Schreibtisch zu langweilig ist: Sucht Euch eine anständige Ambulanz in einem Dorfkrankenhaus – und lernt für einen Hungerlohn etwas fürs Leben!

Sie sind bereits Assistenzarzt oder in einem höheren Semester und haben eine spannende bzw. lehrreiche Kasuistik erlebt, die Sie in einem „Brief aus der Praxis“ für jüngere Kollegen in Via medici bzw. Via medici online schildern möchten? Dann schreiben Sie an: via.medici@thieme.de . Die besten Beiträge werden honoriert.

Die bisherigen Beiträge in dieser Reihe finden Sie unter: www.thieme.de/viamedici/medizin/krankheiten/uebersicht.html

Lieben Gruß

Euer Ame

PS: In den Tagen nach diesem Ereignis fand ich kreuzen und lesen (selbst Innere!) übrigens gar nicht mehr so schlimm …