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DOI: 10.1055/s-0032-1333452
Supported Employment – Herr Lindner will Arbeit
Subject Editor:
Publication History
Publication Date:
11 January 2013 (online)
- Ein Ansatz aus den USA
- Auf die individuellen Fähigkeiten kommt es an
- Das erste Praktikum
- Ansprechpartner: der Job Coach und ein Pate vor Ort
- Nicht jedes Praktikum mündet in einen Arbeitsvertrag
- Aus den Erfahrungen für die Zukunft lernen
Menschen mit Behinderung schaffen viel zu selten den Sprung auf den ersten Arbeitsmarkt. Die Unterstützte Beschäftigung ermöglicht ihnen den Weg zu einer dauerhaften, sozialversicherungspflichtigen Arbeit. Ergotherapieschülerinnen aus Leipzig wollten sich den Weg genauer ansehen und trafen sich mit Oliver Lindner, der diese Maßnahme gerade absolviert.
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Projektgruppe der ET 65 der Bernd-Blindow-Schule in Leipzig


Sieben Ergotherapieschülerinnen, v. l. oben: Inga Arends, Anja Lentzsch, Johanna Hechler, Marlies Östreicher; v. l. unten: Anna Stühmeier, Johanna Kölzsch, Urte Riewerts und deren Dozentin Tina Pruschmann (nicht im Bild) nahmen im Rahmen einer Projektarbeit die Maßnahme „Supported Employment“ unter die Lupe. Wichtig war ihnen dabei, die Perspektive der Teilnehmer kennenzulernen.
Herr Lindner wünscht sich eine feste Arbeitsstelle. „Nicht immer hin und her müssen“, sagt der 25-Jährige. Es ist ein nachvollziehbarer Wunsch. Aber für ihn ist das Ziel schwerer zu erreichen als für viele andere. Er hat eine Lernbehinderung und besitzt einen 9.-Klasse-Abschluss einer Förderschule. Einen Beruf hat er nicht gelernt. Eine Arbeit, genauer gesagt eine dauerhafte und sozialversicherungspflichtige Arbeit, hat er bislang nicht gefunden. Oliver Lindner lebt in Leipzig, einer Stadt mit einer Arbeitslosenquote von 10,9 Prozent [1]. Im Vergleich: Der bundesweite Durchschnitt liegt derzeit bei 6,5 Prozent [2].
In den vergangenen Jahren hielt er sich mit kleinen Aushilfsjobs und der Unterstützung der Arbeitsagentur über Wasser. Ende 2010 bot ihm die Agentur die Teilnahme an der Maßnahme „Supported Employment“ bei der Fortbildungsakademie der Wirtschaft gGmbH (FAW) in Leipzig an.
Supported Employment - das heißt: erst platzieren, dann qualifizieren. Die Teilnehmer werden im Rahmen eines Praktikums auf den Arbeitsmarkt vermittelt und direkt am Arbeitsplatz qualifiziert. Anders als bei der traditionellen Arbeitstherapie. Deren Fokus liegt auf der (Wieder-)Herstellung von Arbeitsfähigkeiten in einem geschützten Rahmen.
Ein Ansatz aus den USA
Supported Employment, auch als Unterstützte Beschäftigung bekannt, kommt ursprünglich aus den USA. Dieser Ansatz wurde entwickelt, um Menschen mit psychischen, geistigen oder körperlichen Behinderungen wiedereinzugliedern [3]. Eine multizentrische Studie aus dem Jahr 2007 belegt zudem die Übertragbarkeit auf europäische Arbeitsmarktverhältnisse [4]. Seit Ende 2008 ist Supported Employment in Deutschland gesetzlich verankert (§ 38a SGB IX).
Die zweijährige Maßnahme wird in der Regel von der Bundesagentur für Arbeit bezahlt, aber auch von Integrationsämtern oder von der Renten- und Unfallversicherung. Eine Finanzierung ist außerdem im Rahmen des Persönlichen Budgets möglich, auf das es seit 2008 einen Rechtsanspruch gibt [5]. Während der Maßnahme sind die Teilnehmer sozialversichert. Benötigt ein Mensch nach Berufseintritt eine dauerhafte Begleitung, zahlen das in der Regel die Integrationsämter.
Supported Employment richtet sich an Menschen,
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> die einen besonderen Bedarf an Unterstützung haben,
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> aber nicht das Angebot der Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) benötigen und
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> einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz anstreben [5]. Dieser neue Ansatz in der Arbeitsrehabilitation setzt an einem für die Ergotherapie zentralen Ziel an: Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen oder Behinderungen die gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.


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Auf die individuellen Fähigkeiten kommt es an
„Am ersten Tag wurde viel geredet“, erinnert sich Oliver Lindner an seinen Start in der FAW. In der Orientierungsphase der Maßnahme geht es darum, herauszufinden, welche Schlüsselqualifikationen und Kompetenzen der Teilnehmer mitbringt und welche Vorstellungen und Wünsche er hat („Supported Employment“). Es finden Gespräche statt, die Teilnehmer lösen einfache, standardisierte Handwerksaufgaben, Mathe und Deutsch stehen auf dem Programm. Die Mitarbeiter der Leipziger Fortbildungsakademie fragen außerdem nach den Stärken, Neigungen und Interessen der Teilnehmer. Dabei geht es zunächst um allgemeine Aspekte einer Arbeitstätigkeit wie etwa Umgang mit Menschen, körperliche Tätigkeiten oder Arbeit in einem Büro.
Cornelia Delling, pädagogische Mitarbeiterin und Job Coach bei der FAW, betont: „Wir wollen die Interessen der Teilnehmer erfassen. Denn wir orientieren uns an dem, was jemand machen will, und nicht daran, welcher Betrieb gerade Jobs zu vergeben hat.“ Job Coaches wie Cornelia Delling begleiten die Teilnehmer der Maßnahme bei allen Schritten rund um deren Qualifizierung und Integration auf den ersten Arbeitsmarkt. Insbesondere unterstützen sie die Teilnehmer unmittelbar am Arbeitsplatz. Im Bereich der Arbeitstherapie sind Ergotherapeuten, Pädagogen oder Sozialarbeiter aufgrund ihrer Ausbildung prädestinierte Berufsgruppen, um das Job Coaching durchzuführen („Weiterbildung“).
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Das erste Praktikum
Was Oliver Lindner wollte und was nicht, erzählte er Job Coach Cornelia Delling sofort: „Bloß nicht irgendwo drinnen sitzen, lieber etwas Praktisches machen und etwas, wo man nicht so viel reden muss.“ Seine Kompetenzen lagen in seinen handwerklichen Fähigkeiten: Er konnte einfache Arbeitsaufgaben sicher ausführen und brachte Grundkenntnisse und Erfahrung in der Verwendung verschiedener Werkzeuge und Maschinen mit wie Säge, Hammer, Feile, Bohrmaschine und Rasenmäher.
Mithilfe von Cornelia Delling durchforstete er Zeitungen und das Internet und suchte Firmen, die ihn interessierten. Zum Schluss hatte er fünf Leipziger Firmen aus den Bereichen Tiefbau sowie Straßen- und Fensterbau auf seiner Wunschliste. Für alle diese Firmen bekam er jeweils einen Laufzettel. Auf den Laufzetteln präsentiert sich die FAW und stellt das Konzept der Unterstützten Beschäftigung vor. Oliver Lindner besuchte an einem Tag alle fünf Firmen auf seiner Liste. „Ich habe alle Zettel losgekriegt“, berichtete er stolz. Losgekriegt bedeutet, dass die Verantwortlichen der Firma den Zettel als Bestätigung abgestempelt und unterschrieben haben. „Das persönliche Vorstellen ist ein aufregender und wichtiger Schritt für die Teilnehmer“, bestätigt auch Cornelia Delling. Herrn Lindners Mut war von Erfolg gekrönt. Alle Firmen signalisierten Interesse an einem Praktikum. Er entschied sich dann für eine Tiefbaufirma, denn das hieß, draußen sein, nicht so viel reden müssen und vor allem mit den Händen arbeiten: Schachten, Pflastern, Teerarbeiten.
Überblick
Supported Employment (oder: Unterstützte Beschäftigung) dauert bis zu 24 Monate und kann in Einzelfällen maximal 12 Monate verlängert werden. Sie wird in drei Phasen eingeteilt:
Orientierungsphase:
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> Teilnehmer und Job Coach erstellen ein Interessen- und Qualifizierungsprofil.
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> zeitnahe Erprobung im Betrieb und tendenzielle Festlegung auf ein Berufsfeld
Qualifizierungsphase:
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> Der Job Coach unterstützt die Einarbeitung im Betrieb.
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> Der Teilnehmer erwirbt berufliche und berufsübergreifende Kenntnisse und Schlüsselqualifikationen.
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> Der am besten geeignete Arbeitsplatz wird festgelegt.
Stabilisierungsphase:
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> Die Phase beginnt, sobald ein Teilnehmer die Tätigkeiten am Arbeitsplatz beherrscht und der Betrieb die Absicht geäußert hat, den Teilnehmer einzustellen.
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> selbstständiges Arbeiten im betrieblichen Alltag
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> Ziel: Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung
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Ansprechpartner: der Job Coach und ein Pate vor Ort
Die Qualifizierung am Arbeitsplatz steht bei der FAW auf zwei Säulen: Es gibt den Job Coach und einen Paten in der Praktikumsfirma. Wer sich als Pate eignen könnte, überlegt der Job Coach gemeinsam mit den Verantwortlichen in der Firma. Der Pate soll Ansprechpartner für den Teilnehmer sein und ihn in seiner täglichen Arbeit unterstützen. Außerdem ist er ein wichtiger Ansprechpartner für den Job Coach. Ebenso wie der Pate begleitet der Job Coach den Teilnehmer in den Arbeitsprozessen. Er berät aber auch den Paten, die Vorgesetzten und die Kollegen in pädagogischen Fragen, etwa zum Umgang mit Behinderung oder mit Konflikten. Wie sehr der Job Coach den Teilnehmer und die Firma unterstützt, hängt vom Bedarf ab. Die Spannbreite reicht von einem wöchentlichen Besuch bis hin zur aktiven Mitarbeit am Arbeitsplatz der Teilnehmer. Cornelia Delling besuchte Herrn Lindner nur einmal wöchentlich. Mehr Unterstützung war nicht erforderlich. Sie ließ sich von Oliver Lindner neue Arbeitsschritte zeigen und erklären. Gemeinsam reflektierten sie Arbeitsabläufe, die Fortschritte, die er erreichte, beziehungsweise was ihm noch schwerfiel. Bei Oliver Lindner spielte vor allem der Pate eine wichtige Rolle: Er zeigte und erläuterte ihm die Arbeitsabläufe, sodass Herr Lindner diese umsetzen konnte.
Qualifizierung zum Integrationsberater
Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Unterstützte Beschäftigung (BAG UG) fungiert als bundesweite Interessenvertretung mit dem Ziel, die Maßnahme zu verbreiten. Dafür bietet sie unterschiedliche Weiterbildungen an. Neben Seminaren zu speziellen Themen wie Gesprächsführung und Konfliktmanagement können Ergotherapeuten auch die berufsbegleitende Weiterbildung „Integrationsberatung mit dem Konzept der Unterstützten Beschäftigung“ absolvieren. Weitere Informationen gibt es auf der Internetseite: www.bag-ub.de.
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Nicht jedes Praktikum mündet in einen Arbeitsvertrag
In der Regel vereinbaren die Job Coaches gemeinsam mit den Unternehmen und den Teilnehmern eine sechswöchige Praktikumszeit. „Mit diesem Zeitraum haben wir gute Erfahrungen gemacht“, berichtet Cornelia Delling. In dieser Zeit können sich Teilnehmer und Arbeitgeber besser kennenlernen. Nach Ablauf der sechs Wochen besprechen alle Beteiligten, wie groß das Interesse an einer längeren Zusammenarbeit ist. Dabei geht es auch um die Frage einer möglichen Übernahme. Die Praktika lassen sich auch verlängern, allerdings nur, wenn die Signale für eine Übernahme auf Grün stehen. „Das Praktikum hat keinen Selbstzweck. Ziel ist und bleibt die Übernahme in eine Beschäftigung“, betont Cornelia Delling.
Dennoch ist Geduld gefragt, und nicht jedes Praktikum endet mit der Unterschrift unter einen Arbeitsvertrag. Es ist durchaus üblich, im Verlauf der zwei Jahre mehrere Praktika zu absolvieren. Eine Erfahrung, die auch Herr Lindner machen musste. Eine Übernahme in der Tiefbaufirma war leider nicht im Gespräch. Profitiert hat er trotzdem: Oliver Lindner lernte, mit den spezifischen Werkzeugen des Tiefbaus umzugehen. Er kann jetzt zum Beispiel eine Rüttelplatte bedienen. Er half außerdem bei der Verkehrssicherung und weiß, was zu tun ist, bevor ein Bagger auf der Straße rangieren kann. Und er hat gelernt, konstruktiver mit Konflikten umzugehen, die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit zu erkennen und „Nein“ zu sagen.
Sein zweites Praktikum absolvierte er bei der Stadtreinigung. „Die Straße kehren, die Mülleimer am Bahnhof und in der Stadt ausleeren, das Laub zusammenfegen und die Kehrmaschinen sauber machen“, fasst Oliver Lindner seine Aufgaben zusammen. Im Frühsommer 2012 gab es dann eine gute Gelegenheit. Die Stadt schrieb zwei Stellen in diesem Bereich aus. „Ich hab eine richtige Bewerbung abgegeben wie die anderen auch“, erzählt er stolz. Durch das Praktikum konnte er seine Kompetenzen unter Beweis stellen, und auch das positive Feedback seiner Kollegen und Vorgesetzten machte ihm Mut. Leider hat es dennoch nicht geklappt. Andere Bewerber bekamen die Stellen. „Das war eine große Enttäuschung“, berichtet Herr Lindner.
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Aus den Erfahrungen für die Zukunft lernen
Cornelia Delling weiß, dass Rückschläge wie diese Teil einer ernst genommenen gesellschaftlichen Teilhabe sind und dass es wichtig ist, damit konstruktiv umzugehen. Oliver Lindner hatte die Möglichkeit, nach dem Praktikum bei der Stadtreinigung einen Flurfördermittelschein - so heißt der Staplerschein offiziell - zu machen. Er kann jetzt Gabelstapler fahren und bedienen. „Das ist gut für die nächste Bewerbung“, sagt er. Und die Chancen stehen nicht schlecht, nach Abschluss der Maßnahme nicht mehr zu den 10,9 Prozent der Arbeitssuchenden in Leipzig zu gehören: Sieben Teilnehmer schlossen die Maßnahme bei der FAW seit 2009 ab. Fünf von ihnen haben einen festen Arbeitsplatz!
Oliver Lindner befindet sich derzeit in seinem dritten Praktikum - diesmal bei einer Autoreinigungsfirma. Außerdem hat er eine Initiativbewerbung bei der Stadtreinigung abgegeben. Die Qualifizierung direkt am Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt zeigt bereits deutliche positive Veränderungen: Herr Lindner bringt mehr Kompetenzen und mehr Erfahrung mit, und er ist selbstbewusster geworden. In seinen Praktika konnte er verschiedene Grundarbeitsfähigkeiten erwerben: Er kann sich seine Zeit gut einteilen, kommt pünktlich zu Terminen, seine Vorgesetzten können sich darauf verlassen, dass er eine angefangene Arbeit zu Ende führt und dass er sich Hilfe holt, wenn er einmal nicht weiterkommt. Das Spektrum der Geräte und Maschinen, die er bedienen kann, ist größer geworden, und er ergreift jetzt öfter die Initiative. Das bedeutet, er hält die Augen offen und sucht nach Chancen, die nächste Bewerbung abzuschicken.
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