Die Multiple Sklerose (MS) ist die häufigste entzündliche Erkrankung des Zentralen
Nervensystems (ZNS). Das Konzept der MS als einer Autoimmunerkrankung des ZNS
basiert auf verschiedenen, voneinander unabhängigen Beobachtungen und Befunden. Zum
Beispiel können sowohl der klinische Verlauf als auch die neuropathologischen
Veränderungen der MS in verschiedenen autoimmunen Tiermodellen simuliert werden. Das
klassische Tiermodell der MS ist die aktiv induzierte, experimentell autoimmune
Encephalomyelitis (EAE). Hierbei wird durch aktive Immunisierung mit
Myelin-Autoantigenen die Selbsttoleranz des Immunsystems durchbrochen. Bei der
neuesten Generation von EAE-Modellen entwickeln sich die Krankheitszeichen spontan,
d. h. ohne jegliche externe Manipulation (spontane EAE) [[1]]. Transgene Mäuse, deren T-Lymphozyten Myelin-spezifische
Antigenrezeptoren exprimieren, entwickeln spontane „Schübe“, die den Schüben der
menschlichen MS frappierend ähnlich sind [[2]].
Bei EAE und MS wandern autoreaktive T-Lymphozyten in das ZNS ein, um dort entweder
als Effektor-T-Lymphozyten direkt Schaden anzurichten oder als regulierende
Immunzellen indirekt die Gewebeschädigung zu beeinflussen. Zusätzlich sind u. a.
Autoantikörper und B-Lymphozyten an der komplexen Autoimmunreaktion beteiligt.
Gerade die Antikörper-vermittelten Autoimmunreaktionen haben große Bedeutung erlangt
als mögliche Biomarker. Ein spektakuläres Beispiel sind Autoantikörper gegen
Aquaporin-4, ein für Wassermoleküle durchlässiges Kanalprotein, das im ZNS vor allem
auf Astrozyten exprimiert wird. Der Nachweis solcher anti-Aquaporin-4-Antikörper
erlaubt die Abgrenzung einer Gruppe neuroinflammatorischer Erkrankungen, der
sogenannten „Neuromyelitis-optica-(NMO)-Spektrum“-Erkrankungen, die im Vergleich zur
MS klinische Besonderheiten aufweisen [[3]]. Diese
Abgrenzung hat vor allem auch therapeutische Konsequenzen, weil sich die
immunmodulierende Therapie der MS und der NMO-Spektrum Erkrankungen fundamental
unterscheidet. Bei einigen MS-Patienten lassen sich ebenfalls Autoantikörper
nachweisen, die z. B. gegen Myelinantigene, neuronale Antigene oder
Astrozyten-Antigene gerichtet sind [[4]]. Allerdings
können diese potentiellen Biomarker bisher noch nicht mit einem klinischen Phänotyp
verknüpft werden.
Genetische Untersuchungen sprechen ebenfalls für eine Autoimmunpathogenese der MS.
So
sind aus genomweiten Assoziations-Studien (GWAS) inzwischen mehr als 50 Gene
bekannt, die zum MS-Erkrankungsrisiko beitragen [[5]].
Den quantitativ größten Beitrag zum genetischen MS-Risiko leistet das HLA (MHC)
Klasse II-Molekül HLA-DR15 (DRB1*15:1). Auch die meisten anderen identifizierten
Risikoallele spielen interessanterweise ebenfalls eine Rolle in der Antigenerkennung
und Aktivierung von T-Lymphozyten, wie man es aufgrund der aus tierexperimentellen
Befunden abgeleiteten pathogenetischen Konzepte auch erwarten würde.
Aus der Autoimmunpathogenese der MS lassen sich die therapeutischen Strategien
ableiten. Allerdings basierte die Interferon-Therapie, mit der vor etwa 20 Jahren
die moderne Ära der MS-Therapie begonnen hatte, ursprünglich auf der (vermutlich)
irrtümlichen Annahme einer chronischen Virusinfektion als Ursache der MS. Erst
später stellte sich heraus, dass Interferon-beta vielfältige Effekte auf
verschiedene Immunfunktionen ausübt, und dass somit der therapeutische Effekt von
Interferon-beta mit der Autoimmunpathogenese in Einklang steht. In einer ganzen
Reihe von – insgesamt sehr konsistenten – Therapiestudien zeigte sich, dass
Interferon-beta den Krankheitsverlauf günstig beeinflussen kann, d. h. insbesondere
die Schubfrequenz und auch die kernspintomografischen Aktivitätszeichen reduziert.
Im Anschluss an die Einführung des ersten Interferon-beta-Präparats (Betaferon,
Schering) wurden in den folgenden Jahren weitere MS-Therapien zugelassen. Derzeit
umfasst die Liste der für die Therapie der schubförmigen MS zur Verfügung stehenden
Medikamente neben verschiedenen Interferon-beta-Präparaten das Glatirameracetat
(Peptidgemisch mit immunmodulierenden Eigenschaften), Natalizumab
(anti-Alpha-4-Integrin monoklonaler Antikörper), und Fingolimod
(Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Modulator) [[6]].
Voraussichtlich noch in 2013 werden weitere Präparate in Europa auf den Markt kommen
(u. a. Dimethylfumarat (Fumarsäurester; eine ähnliche Substanz wird bereits für die
Therapie der Psoriasis eingesetzt), Teriflunomid
(De-novo-Pyrimidin-Synthese-Blocker), und Alemtuzumab (Leukozyten-depletierender,
anti-CD52 monoklonaler Antikörper) [[6]]. Die erwiesene
Wirksamkeit einer ganzen Reihe von immunsuppressiven und immunmodulierenden
Substanzen mit völlig unterschiedlichem Wirkungsmechanismus liefert ein weiteres
überzeugendes Argument für die Autoimmunpathogenese der MS.
Die genannten immunmodulierenden Therapien sind ausschließlich, oder zumindest ganz
überwiegend, nur bei der schubförmigen MS, nicht jedoch bei der sekundär oder primär
progredienten MS geprüft bzw. wirksam. Tierexperimentelle Befunde und
neuropathologische Untersuchungen beim Menschen sprechen dafür, dass bei der
progredienten MS nicht mehr die entzündliche Demyelinisierung im Vordergrund steht,
sondern die sekundäre Degeneration von Neuronen und Axonen. Diese „neurodegenerative
Komponente“ der MS setzt vermutlich bereits sehr früh im Krankheitsverlauf ein und
dominiert im späteren Verlauf. Eines der vorrangingen Ziele der aktuellen
Therapieforschung ist daher die Entwicklung neuroprotektiver Therapien. Hierbei gibt
es nahe liegende Synergien mit anderen Bereichen der Neurologie, insbesondere den
primär neurodegenerativen Erkrankungen wie M. Alzheimer und M. Parkinson.