Handchir Mikrochir Plast Chir 2013; 45(04): 200-201
DOI: 10.1055/s-0033-1351249
Kommentar
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Kommentar zu der Arbeit: Bauchwandhernien nach medianer Laparotomie. Ein Konzept zur „anatomisch funktionellen“ Wiederherstellung von A. Wenger, B. Del Frari, H. Piza-Katzer, Handchir Mikrochir Plast Chir 2013; 45: 51–58

Comment to Following Article: Incisional Hernias after Median Laparotomy. A Concept for Anatomic Reconstruction of the Abdominal Wall by A. Wenger, B. Del Frari, H. Piza-Katzer, Handchir Mikrochir Plast Chir 2013; 45: 51–58
F. Stelzner
1   em. Direktor d. Chirurg Univ. Klinik, Bonn-Venusberg
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eingereicht 21 June 2013

akzeptiert 26 June 2013

Publication Date:
22 August 2013 (online)

Allgemein bekannte, oder Modethemen für die Praxis gehören der Ergebniswelt an und erreichen uns über die mit 90% sehr häufigen Informationen. Sehr große Fallzahlen, mit vielen Autoren vergleichen und werten sich. Über die Kritik, dass gerade hier minimale Signifikanz sich immer einstellen kann, oder dass auch randomisiert kontrollierte Studien durch eine weniger erfahrene Kontrollperson das Ziel verfehlen, werden schweigend in Kauf genommen [8].

Ganz anders ist das mit der kreativen Forschung für die Praxis, die mit 10% selten uns erreichende Ideenwelt. Zu ihr gehört die obige Mitteilung.

Schwer zu verstehen ist das Vergessen grundlegender Erkenntnisse, die nach oft langen Latenzzeiten wieder erkannt werden [5] [6] [7] oder das Gewicht eines Namens über Jahrhunderte [1].

Der Nicht-Arzt und Enzyklopädist A. Cornelius Celsus (25BC–AD50) erlebte mit seinen 1478 wieder aufgefundenen Büchern „de Medicina“, in denen er sich auch mit der chirurgischen Therapie der Nabelhernie befasst, bis ins 19. Jahrhundert 60 Auflagen und Übersetzungen in die Kultursprachen, die letzte, französische erschien 1876 [1]. Theophrast von Hohenheim nannte sich Paracelsus, dem Celsus ebenbürtig.

Das von Frau Piza-Katzer und Mitarbeitern mit ihrer neuen Methode behandelte Krankengut ­unterlag einer strengen Auslese, die 22 von 36 Pa­tienten erfüllten. 50% Erstfälle, 36,4% nach mehrfachen vergeblichen Eingriffen. Dieses sehr anspruchsvolle Vorgehen wurde zwischen 1992 und 2012 für diese Übersicht bearbeitet, wobei individuelle 3–12 Monate präoperativ, und weitere 5 Monate postoperativ und länger, die Mitarbeit der Patienten erforderlich gewesen sind. Die dabei nicht erwähnte vorzügliche Menschenführungskunst sei aber angemerkt.

Dieses, trotz der doch sehr umfangreichen Her­nienliteratur noch nie so entwickelte Vorgehen wird zuerst begründet.

Die Bauchdecke darf nicht isoliert gesehen werden. Sie ist mit Halte- und Schutzaufgaben ein Gegenspieler der Rückenmuskulatur. Damit trägt sie zur Stabilisierung der Wirbelsäule bei, sie hängt auch mit der Atmung zusammen, mit dem aufrechten Gang und mit der Entleerung abdomineller Hohlorgane [5] [6]. Zu ihr gehören also auch das Zwerchfell und der Beckenboden. Eine Laparotomie, missglückt zerstört das ganze Verspannungssystems mit erheblichen Folgen aller eben genannten Funktionen, bis zu den Hüftgelenken.

Dazu greift Frau Piza-Katzer auch auf lange zurückliegende Erkenntnisse zurück, die schon 1988, 1991 und 1993 gewonnen wurden, jedoch in der inzwischen so häufig geänderten chirurgischen Praxis der Herniebehandlung, kaum berücksichtigt worden sind. Selbst der an diesen neuen Erkenntnissen beteiligte jetzige Kommentator blieb bei seiner chirurgischen Hernien-Praxis in den herkömmlichen Bahnen. Wir hatten 1991 [3] [4] durch anatomische, EMG und später PET-CT-Untersuchungen festgestellt, dass die Bauchhöhle die urtümlichste Körperhöhle ist. Zu ihr gehört mit den Flachmuskeln der Bauchdecke auch das Zwerchfell und der muskuläre Beckenboden, die alle eine bis ins ZNS reichenden Steuerung unterliegen, und in einem Tag und Nacht unterhaltenen, variablen Ruhetonus verharren [3] [4]. In dieser Körperhöhle sind auch die cranialen und caudalen Abschlusssysteme, an der Speiseröhre und anorectal integriert [5] [6]. Diese urtümlichste Körperhöhle hat auch ein die Muskeln führendes Fascienskelett, das in der Fusion der Linia alba ventral, zentral verwebt ist [3].

Eine Laparotomie zerstört die Lebensbahn der Bauchhöhle, selbst wenn sie heilt, erreicht die Festigkeit der Linia alba erst nach einem Jahr 50% der unversehrten [3]. Viel größer ist der Schaden wenn der Verschluss misslingt, und sich eine Hernie bildet. Die Bauchdecke versteift, die Muskeln schrumpfen.

Das sehr umfangreiche, sich über Monate hinziehende präoperative Management, das Muskelprüfungen, Muskelübungen, Gewichtsreduktion, Tragen eines Mieders usw. einschließt hat tatsächlich den Erfolg, dass die bei einer Hernie geschrumpfte Muskulatur so „umerzogen“ wird, dass die erstrebte spannungslose vierschichtige Nahtfähigkeit erreicht werden kann.

Sehr wichtig und eindrucksvoll ist der Hinwels auf 4 Einzelfälle, die nach verunglückten Vorversuchen, die jeder Leser selbst sehr gut einschätzen kann, zur Behandlung kamen. Dabei ist die hier angewendete Nahttechnik wie das Nahtmaterial, das allgemein bekannte.

Aber es sind dabei viele Einzelheiten zu beachten, z. B. die Naht der locker nebeneinander liegenden Muskulatur mit langsam resorbierenden Nahtmaterial 3/0, oder die von uns schon 1988 als nicht schnürend im Experiment nachgewiesene, ideal haltende fortlaufende Naht mit unresorbierbaren Fäden [2]. Sie ist heute Allgemeingut.

Ein großer, bisher nie in diesem Zusammenhang vorgestellter Erfolg ist die Rekonstruktion eines „schönen Bauches“. Solche „apollinischen“ und „aphroditischen“ Bauchformen haben wir als Resultat eines Hernienverschlusses noch nie gesehen.

Die langen Beobachtungszeiten dazu nicht zu vergessen, (mittlere Nachuntersuchungszeit 57,3 Monate).

In dem jetzt folgenden Abschnitt „Ergebnisse“ sind auch die 2 minimalen Rezidive besprochen und während des postoperativen Managements werden gleichzeitig z. B. Spezialuntersuchungen für die Tumornachsorge vorgenommen.

Dieses von einer hervorragenden Chirurgin erfundene, mit ihren Mitarbeitern durchgeführte, und so sorgfältig überprüfte Vorgehen ist als bahnbrechender Fortschritt in der kreativen Verbindung mit bewährten Mitteln zu sehen. Hier ist der Nachweis gelungen, dass ein durch eine Narbenhernie, ja selbst nach ­mehreren vergeblichen Hernien-­Rekonstruktionsversuchen, entgleistes Muskelfascienareal umerzogen werden kann. Die spontanaktive Körperhöhle ist wieder hergestellt.

Bleiben wir noch bei der Antike: Auch für diese kreative Neuerung gilt der Satz der Römer: Invidia gloriae comes.

Ich zitiere in Abwandlung noch einen Rat Frau Piza-Katzers und ihrer Mitarbeiter:

Wer sich aber wundern sollte,
dass nach so vielen wissenschaftlichen Arbeiten
über ein Alltagsthema, Laparotomienarbenhernle,
auch uns die Abfassung elner solchen Schrift in den Sinne kommen
konnte, der lese zuvor alle Schriften jener anderen durch, mache sich darauf an die unsrige, und dann erst wundere er sich.
Flavus Arrianos
(95–180AD)

 
  • Literatur

  • 1 Köckerling E, Köckerling D, Lomas C. Cornelius Celsus – ancient encyclopedist, surgeon-scientist or master of surgery?. Langenb Arch of surg 2013; 398: 609-616
  • 2 Stelzner F. Theorie und Praxis der fortlaufenden Laparotomie naht (Platzbauch und Narbenhernien). Chirurg 1988; 59: 654-658
  • 3 Stelzner F. Das Fascienskelett der Bauchhöhle – Hernie und anorektale Inkontinenz. Langenb Archiv 1991; 376: 108-120
  • 4 Stelzner F, Beyenburg S, Hahn N. Erworbene Bauchmuskelstörungen (Die Bauchdeckendenervation in der Schwangerschaft, die Denervationsinkontinenz, die kontinente und inkontinente Obstipation. Langenb Archiv 1993; 378: 49-59
  • 5 Stelzner F, von Malek D. Das krurale Zwerchfell gehört zum oesophagealen Kontinenzorgan. Zbitt f Chir 2012; 137: 372-379
  • 6 Stelzner F. Der paradoxe Sphinkter und der allbekannte Sphinkter. Mitteil d Deutsch Ges f Chir 2012; 41: 311-314
  • 7 Stelzner F. Otto Goetze – Hyperthermia – von der Idee zur Therapie. Chirurg. Allgemeine 14. Zeitung f Klinik u. Praxis. Kaden-Verlaf Heidelberg 2013; (im Druck)
  • 8 Strobel O, Büchler MW. The Problem of poor control arm in randomized controlled trials. Brit J Surg 2013; 100: 172-173