Aktuelle Urol 2013; 44(04): 251-252
DOI: 10.1055/s-0033-1351760
Referiert und kommentiert
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Überaktive Blase – Entspannter durch selektiven Adrenozeptor-Agonisten?

Rezensent(en):
Anna Hecker

Eur Urol 2012;
62: 834-840
Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
31. Juli 2013 (online)

 
 

Eine neue Strategie, um das Leiden von Frauen mit überaktiver Blase zu lindern, verspricht der selektive β3-Adrenozeptor-Agonist Solabegron. Er ist in der Lage, die glatte Muskulatur der Harnblase zu entspannen. Bisher waren Betroffene in erster Linie auf Anticholinergika angewiesen, die aufgrund von Unwirksamkeit und Nebenwirkungen häufig keine langfristige Lösung sind. Ob Solabegron eine Alternative sein kann, sollte jetzt eine placebokontrollierte Studie klären.
Eur Urol 2012; 62: 834–840

mit Kommentar

In der menschlichen Harnblase ist der β3-Subtyp der am stärksten vertretene β-Adrenozeptor. Man nimmt derzeit an, dass entsprechende selektive Agonisten pathologische Detrusorkontraktionen relaxieren können, ohne die physiologische Blasenfunktion zu beeinträchtigen. So war der selektive β3-Adrenozeptor-Agonist Solabegron des Pharmaunternehmens AltheRx in vorklinischen Studien in der Lage, die glatte Muskulatur der Blase zu entspannen. Die Autoren der vorliegenden Studie Eliot H. Ohlstein, Mitarbeiter von AltheRx Pharmaceuticals, Malvern / USA, Alexander von Keitz, Marburg, und Martin C. Michel, Univ.-Klinikum Mainz, haben nun untersucht, inwiefern Frauen mit überaktiver Blase von diesem Wirkstoff profitieren können. Die Studie wurde mit maßgeblicher Beteiligung von GlaxoSmithKline Pharmaceuticals durchgeführt.

An der randomisierten, doppelblinden Multicenterstudie nahmen 258 erwachsene Frauen mit überaktiver Blase teil (durchschnittliches Alter 54 Jahre). "Überaktiv" war definiert als eine oder mehr Inkontinenzepisoden und durchschnittlich 8 oder mehr Miktionen jeweils innerhalb von 24 h. Die Teilnehmerinnen waren je nach Medikation in 3 Gruppen aufgeteilt:

  • Solabegron 50 mg (n = 88)

  • Solabegron 125 mg (n = 85)

  • Placebo (n = 85)

Die Einnahme erfolgte bei allen Gruppen 2-mal täglich. Die Frauen wurden an insgesamt 54 verschiedenen internationalen Zentren behandelt. Das Studienziel war in erster Linie die prozentuale Reduktion der täglichen Inkontinenzepisoden über einen Beobachtungszeitraum von 8 Wochen. Sekundär werteten die Autoren die Zwischenergebnisse in den Wochen 4 und 8 aus sowie das Miktionsvolumen und die Episoden plötzlichen Harndrangs.

Keine unerwarteten Nebenwirkungen

In der Placebogruppe vollendeten 93 % der Frauen die Studie, in den Verumgruppen waren es jeweils 82 und 85 % (50 bzw. 125 mg Solabegron). Unerwünschte Nebenwirkungen erlebten jeweils 1 % der Teilnehmerinnen unter Placebo, 11 % unter Solabegron 50 mg und 6 % unter Solabegron 125 mg. Damit waren die Nebenwirkungen nicht dosisabhängig. Nach Angaben der Autoren wurden die Präparate im Allgemeinen gut vertragen. Die meisten Beschwerden waren Kopfschmerz und Nasopharyngitis. Eine Auswirkung auf Vitalfunktionen, wie den Blutdruck oder die Herzrate, fanden die Untersucher nicht.


#

21 % effektiver als Placebo

Im Vergleich zu Placebo war der Effekt von Solabegron am Ende der 8. Woche statistisch signifikant (p = 0,025): Die Gabe des β3-Adrenozeptor-Agonisten in einer Dosis von 125 mg verminderte die Inkontinenzepisoden um etwa 21 % stärker als das Placebo-Präparat. Die für das primäre Ergebnis angesteuerte statistische Power von 80 % wäre allerdings erst bei einer Behandlungsdifferenz von 27 % erfüllt gewesen. Von den sekundären Studienzielen verbesserten sich das Miktionsvolumen und die Anzahl der Miktionen/ 24 h unter 125 mg Solabegron in Woche 8 signifikant gegenüber Placebo (‣ Tab. [ 1 ]). Die Episoden plötzlichen Harndrangs bleiben in den Ergebnissen unerwähnt.

Zoom Image
Tab. 1 Abnahme der Inkontinenzepisoden und Miktionen pro 24 h sowie Zunahme des Miktionsvolumens vom Studienbeginn bis zur 4. und 8. Woche in Abhängigkeit von der Medikation. Signifikante Differenzen (p < 0,05) im Vergleich zur Placebogruppe sind mit * markiert.
Fazit

Über den Studienzeitraum von 8 Wochen sei die Wirksamkeit von 125 mg Solabegron vergleichbar gewesen mit den bisher dokumentierten Ergebnissen von Muskarin-Rezeptor-Antagonisten, so die Autoren. Der β3-Adrenozeptor-Agonist habe die Inkontinenzepisoden signifikant gesenkt und dabei nicht zu unerwarteten Nebenwirkungen geführt. Die Wissenschaftler versprechen sich von diesem Ansatz eine effiziente Alternative zu den bisherigen Therapien der überaktiven Blase.


#
Kommentar

Neue Substanzklasse für OAB-Behandlung

In der Novemberausgabe von "European Urology" werden die Ergebnisse einer Phase-II-Studie zur Wirksamkeit des selektiven ß3-Adrenozeptor-Agonisten Solabegron bei Frauen mit überaktiver Blase (OAB, engl.: overactive bladder) vorgestellt. Vom pharmazeutischen Unternehmen GlaxoSmithKline in Auftrag gegeben und finanziert, wurde diese Studie multizentrisch, randomisiert, doppelt verblindet und placebokontrolliert an 258 Frauen in Argentinien, Australien, Finnland, Frankreich, Deutschland, Südkorea, Lettland, den Niederlanden, Neuseeland, Polen, Slowenien, Südafrika, Spanien und Taiwan durchgeführt. Vor Einschluss in die Studie mussten mittels eines 3-tägigen elektronischen Miktionstagebuchs durchschnittlich mindestens 8 Miktionen, eine Inkontinenzepisode, eine Drangepisode pro Tag, ein Miktionsvolumen von maximal 250 ml und eine Tagesdiurese von nicht über 3000 ml erfasst sein. Eine 1-wöchige medikationsfreie Einlaufphase (2 Wochen bei Patientinnen, die zuvor unter anticholinerger Therapie standen) wurde gefolgt von einer 8-wöchigen Behandlungsphase, in der die Patientinnen 2-mal täglich entweder 50 mg oder 125 mg Solabegron oder ein Placebo erhielten. Jeweils zu Studienbeginn, nach 4 und nach 8 Wochen wurden OAB-Symptome sowie Miktionsvolumina mittels eines 3-tägigen elektronischen Protokolls erneut erfasst. Gleichzeitig wurden die gängigen Blutlaborparameter, Restharnmengen, Vitalzeichen, Blutdruck und EKG kontrolliert. Der primäre Endpunkt bestand in der prozentualen Verringerung der Zahl der Inkontinenzepisoden nach Ablauf der gesamten 8 Behandlungswochen: Hier konnte die 125 mg-Formulierung mit über 60 % eine signifikant stärkere Reduzierung erreichen als das Placebo, das allerdings mit rund 40 % die für OABStudien typische hohe Ansprechrate zeigte. Die 50 mg-Dosierung war dem Placebo nur in der 4-Wochen-Zwischenauswertung signifikant überlegen. Sekundäre Endpunkte wie die (prozentuale und numerische) Reduktion der Tagesmiktionsfrequenz und die (prozentuale und numerische) Steigerung des Miktionsvolumens konnten ebenfalls durch die Gabe von 125 mg Solabegron 2-mal täglich in statistisch signifikanter Weise erreicht werden.

Angaben zu weiteren sekundären Endpunkten wie Reduktion der Drangepisoden (mit oder ohne Inkontinenz) oder der nächtlichen Miktionsfrequenz fehlen. Das Nebenwirkungsspektrum ist auffällig begrenzt: Mundtrockenheit oder Obstipation werden nicht häufiger als in der Placebogruppe beobachtet, beide Dosierungen haben weiterhin keinen Einfluss auf Herzfrequenz oder Blutdruck. Ebenso wenig fanden sich Änderungen bei Blutwerten und EKG-Parametern. Als häufigste Nebenwirkungen wurden Kopfschmerzen (8 % in allen Gruppen einschließlich Placebo) und eine Nasopharyngitis (6–11 % in allen Gruppen einschließlich Placebo) beschrieben. Dennoch ergab sich für die Verumgruppen eine höhere Abbruchquote von 6 bzw. 11 % im Vergleich zur Placebogruppe (1 %).

Bisher drei Andrenozeptor-Agonisten entwickelt

Nach über 3 Jahrzehnten wird gegenwärtig eine neue Substanzklasse in die orale Therapie der überaktiven Blase (OAB) eingeführt: ß-Adrenozeptoren vermitteln nach sympathischer Stimulation (Noradrenalin) über eine Aktivierung der Adenylylzyklase und eine konsekutive Erhöhung des intrazellulären cAMP-Spiegels eine direkte Relaxation des Detrusors. Der menschliche Detrusor exprimiert vornehmlich den ß3-Adrenozeptor-Subtyp. Bisher wurden 3 verschiedene ß3-Agonisten entwickelt: Mirabegron, Ritobegron und Solabegron. Für alle 3 Substanzen wurde in Organbad- und In- Vivo-Studien eine detrusorrelaxierende Wirkung nachgewiesen. Im Tierversuch zeigten sich die Substanzen besonders effektiv bei der Reduktion experimentell induzierter, spontaner Detrusorkontraktionen, ohne die reguläre Blasenentleerung wesentlich zu stören (zur Übersicht s.: [ 1 ]). Hieraus ergab sich die Hoffnung auf eine neue Gruppe von Wirkstoffen bei der Behandlung der OAB ohne das bekannte Nebenwirkungsspektrum oraler Anticholinergika, das bei vielen Patienten erfahrungsgemäß zum Therapieabbruch führt.

Mirabegron gut untersucht

Klinisch besteht die weitaus größte Erfahrung mit der Substanz Mirabegron. Hier wurden bereits 2 Phase-III-Studien mit 1300 bzw. knapp 2000 Patienten vorgelegt, in denen Mirabegron seine Überlegenheit bei der Reduktion von (Drang-) Inkontinenzepisoden und der Tagesmiktionsfrequenz sowie bei der Steigerung des durchschnittlichen Miktionsvolumens gegenüber Placebo-Präparaten und Tolterodin unter Beweis stellen konnte [ 2 ], [ 3 ]. Auch hier konnten Mundtrockenheit oder Obstipation im Verumarm nicht häufiger als in den Vergleichsgruppen festgestellt werden, allerdings eine leicht erhöhte Herzfrequenz und Hypertonie. Entsprechend hat die europäische Arzneimittelagentur EM die Zulassung für Mirabegron im November 2012 empfohlen, das in den Dosierungen zu 25 und 50 mg als Retardtablette auf den Markt kommen soll.

Geringere Nebenwirkungen bei Solabegron?

Ob mit Solabegron in Zukunft ein weiterer Wirkstoff dieser Substanzklasse zur Verfügung steht, der bei vergleichbarer Effektivität eventuell geringere kardiovaskulären Nebenwirkungen hat, wird durch die sich anschließenden Phase-III-Studien zu klären sein. Wünschenswert ist in diesem Zusammenhang auch eine Antwort auf die Frage, ob Solabegron die oft als besonders störend empfundene Drangsymptomatik lindern kann – diese Antwort war die vorliegende Studie schuldig geblieben. In jedem Fall ist die Aussicht verlockend, in Zukunft bei Versagen oder Unverträglichkeit von Anticholinergika auf mehrere Vertreter einer neuen Substanzklasse zugreifen zu können – oder beide Gruppen zu kombinieren.

PD Dr. Alexander Roosen, München


#

PD Dr. Alexander Roosen


ist Oberarzt an der Urologischen Klinik und Poliklinik, Klinikum der Universität München

Zoom Image
  • Literatur

  • 1 Igawa Y, Michel MC. Naunyn Schmiedebergs Arch Pharmacol 2013; 386: 177-183
  • 2 Nitti VW et al. J Urol 2013; 189: 1388-1395
  • 3 Khullar V et al. Eur Urol 2013; 63: 283-295

  • Literatur

  • 1 Igawa Y, Michel MC. Naunyn Schmiedebergs Arch Pharmacol 2013; 386: 177-183
  • 2 Nitti VW et al. J Urol 2013; 189: 1388-1395
  • 3 Khullar V et al. Eur Urol 2013; 63: 283-295

 
Zoom Image
Zoom Image
Tab. 1 Abnahme der Inkontinenzepisoden und Miktionen pro 24 h sowie Zunahme des Miktionsvolumens vom Studienbeginn bis zur 4. und 8. Woche in Abhängigkeit von der Medikation. Signifikante Differenzen (p < 0,05) im Vergleich zur Placebogruppe sind mit * markiert.