Einleitung
Orofaziale Spalten gehören zu den häufigsten angeborenen Missbildungen. Die häufigste
Variante ist eine Verbindung von Mund- und Nasenhöhle im Bereich der Lippen, des Kiefers
und des Gaumens.
Die Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten (LKG) können eine Reihe an Beeinträchtigungen
und Folgeerkrankungen hervorrufen. Im Einzelnen können dies eine Neigung zu entzündlichen
Mittelohrerkrankungen, eine Behinderung der Laut- und Stimmbildung sowie der Sprachentwicklung
und Hörbehinderungen sein. Zudem treten immer Malokklusionen und Dysgnathien sowie
ästhetische Beeinträchtigungen auf. Das soziale Verhalten wird dadurch maßgeblich
beeinflusst. Darüber hinaus gibt es Kombinationen mit zusätzlichen Fehlbildungen (z. B.
im Rahmen eines Syndroms), die schwerwiegende funktionelle
Störungen mit sich bringen können, wie akute Ateminsuffizienz, Ernährungsprobleme,
geistige Behinderung, Herzfunktionsstörungen u. a.
Aufgrund von embryonalen und epidemiologischen Daten können die Spalten in vier Formen
unterteilt werden [1]:
Die Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten können einseitig oder beidseitig auftreten. Ausnahme:
Spalten im weichen Gaumen sind immer median. Sie variieren zwischen Minimalvarianten (z. B. eine Lippenkerbe oder eine gespaltene Uvula) und Maximalvarianten (durchgängige Spalten des weichen und harten Gaumens, des Alveolarfortsatzes und
der Lippe bis in den Naseneingang).
Die klinisch-morphologische Klassifikation der Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten nach
der internationalen LAHSHAL-Kodierung [2] gibt dem Kliniker ein wichtiges Instrument in die Hand, die Spalte zunächst nach
dem Phänotyp zu beschreiben (Abb. [1]).
Abb. 1 Der betroffene Bereich wird mit dem initialen Buchstaben gekennzeichnet (L = Lip;
A = Alveolus; H = Hard palate; S = Soft palate) [2]. Ist ein Bereich nicht betroffen, kommt ein Bindestrich zum Einsatz. a Spalte des weichen Gaumens. b Spalte des harten und weichen Gaumens. c Rechtsseitige Lippen-Kiefer-Spalte. d Rechtsseitige Lippen-Kiefer-Gaumenspalte. e Doppelseitige Lippen-Kiefer-Gaumenspalte.
Zusammen mit den syndromalen Formen wird die Prävalenz auf 1 : 600 lebenden Geburten
weltweit geschätzt und schwankt in Abhängigkeit von der ethnischen Zugehörigkeit stark.
Schätzungsweise sind orofaziale Spalten bei 30–50 % der Patienten Teil eines übergeordneten
Syndroms. Für die nicht syndromalen Formen in den Europäischen Populationen wird die
Prävalenz auf 1 : 1000 für Lippenspalten mit oder ohne Gaumenbeteiligung und auf 1 : 2400
für isolierte Gaumenspalten geschätzt [3]. Männer sind häufiger bei Lippenspalten mit oder ohne Gaumenbeteiligung und
Frauen häufiger bei isolierten Gaumenspalten betroffen [4].
Die Ätiologie der orofazialen Spalten ist komplex und multifaktoriell im Sinne von
genetischen Einflüssen mit variablem Einfluss von exogenen Faktoren. Man geht davon
aus, dass es in Abhängigkeit vom Ausmaß der Exposition der Schwangeren gegenüber einer
Noxe und dem individuellen genetischen Hintergrund des Kindes zur Manifestation der
Spalte kommen kann.
Als exogene Faktoren werden folgende Einflüsse in der Frühschwangerschaft diskutiert:
-
Rauchen
-
Folsäuremangel
-
mangelhafte Ernährung
-
teratogene Medikation
-
Strahlenbelastung
-
Stress
-
Alkoholabusus
-
Hypoxie
-
Virusinfektionen
-
andere Einflüsse
Für das Rauchen als Risikofaktor [5] und die Folsäureeinnahme als Prophylaxe [6] liegt mittlerweile eine relativ gesicherte Evidenz vor. Die Wichtigkeit von exogenen
Faktoren für eine Spaltbildung wird bekräftigt durch Hinweise, dass im Rahmen einer
geplanten Schwangerschaft eine bewusst eingehaltene gesunde Lebensführung als protektiver
Faktor wirken kann [7].
Merke: Wichtige Prophylaxe gegen eine Spaltbildung: Folsäureeinnahme und kein Rauchen während
der Schwangerschaft!
Aus genetischer Sicht wird unterschieden zwischen isolierten Spalt-Fehlbildungen und
Kombinationen von orofazialen Spalten mit anderen Fehlbildungen, häufig in Form eines
komplexen Syndroms [8]. Ergebnisse aus Zwillingsstudien haben ergeben, dass zumindest für die nicht syndromalen
Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten die sog. Heritabilität (ein Maß für den Beitrag genetischer Faktoren bei der Entstehung einer Auffälligkeit)
mit über 90 % sehr hoch ist. Dies bedeutet, dass exogene Risikofaktoren für die Entstehung
der isolierten Lippen-, Kiefer-,
Gaumenspalte offenbar eine untergeordnete Rolle spielen. Welche die ursächlichen genetischen
Risikofaktoren sind, ist bislang nur bruchstückhaft bekannt. In den letzten Jahren
wurden allerdings signifikante Fortschritte auf diesem Gebiet erzielt – mittels sog.
genomweiter Assoziationsuntersuchungen konnten mehrere Regionen im humanen Genom identifiziert
werden, in denen ursächliche Risikofaktoren liegen. Wie die Risikofaktoren in diesen
Regionen im Detail beschaffen sind, ist aber immer noch unbekannt [3], [9], [10], [11], [12].
Allgemeines zur Therapie
Die Therapie der orofazialen Spalten ist komplex, langwierig und bedarf eines hohen
Grades an Interdisziplinarität zwischen mehreren Therapeuten (s. Infobox). Aus diesen
Gründen konzentriert sich die Behandlung in der Regel in sog. „Spaltzentren“, wo die Therapeuten in räumlicher Nähe zueinander stehen und sie die einzelnen Behandlungsschritte
gut koordinieren können. Darüber hinaus ist eine Standardisierung und Zentralisation
der Therapie in Spaltzentren mit hohen Erfahrungswerten und mit Chirurgen, die viele
Spaltoperationen pro Jahr durchführen, mit besseren
Behandlungsergebnissen assoziiert [51].
Beteiligte Disziplinen in der Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten-Therapie
-
Gynäkologe (Pränataldiagnostik)
-
Kinderarzt
-
Kieferorthopäde
-
Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurg und plastischer Chirurg
-
HNO-Arzt (Pädaudiologie)
-
Logopäde
-
Psychologe
-
Allgemeinzahnarzt
-
Humangenetiker
Merke: Das Kernstück eines Behandlungsplans ist der chirurgische Spaltverschluss, der von
den anderen Disziplinen mit diversen Behandlungsschritten begleitet wird.
Die Wiederherstellung von Form und Funktion birgt – in Abhängigkeit von der gesetzten
Priorität – die Gefahr, dass zwischen den zur Verfügung stehenden therapeutischen
Maßnahmen Konflikte entstehen. So fordert einerseits eine schnelle ästhetische Rehabilitation ein frühes
operatives Trauma, das zu ausgeprägten Wachstumsstörungen führen kann. Andererseits
ist das Erlangen einer ungestörten Funktion, besonders von Sprache und Gehör, an die
frühzeitige Rekonstruktion der gespaltenen anatomischen Strukturen geknüpft. Mangels
allgemein anerkannter therapeutischer Richtlinien
unterscheidet sich die Therapie in den verschiedenen Spaltzentren sowohl in den Behandlungsmethoden
an sich, aber vor allem auch in der zeitlichen Koordination der einzelnen Behandlungsschritte
zueinander. Die Ursache dafür ist in der Bewertung des Behandlungserfolgs zu suchen,
der erst am Ende des Wachstums objektiv zu beurteilen ist, also zu einer Zeit, die
15 und mehr Jahre nach den ersten und bedeutendsten Maßnahmen liegt [13]. Ein weiterer limitierender Faktor ist die Anzahl der behandelten Patienten pro
Behandler und Jahr, die relativ hoch
sein muss, um statistisch adäquate Ergebnisse zu generieren. Zum Beispiel müsste ein
Chirurg über 60 Neufälle pro Jahr behandeln, um seine Ergebnisse über unilaterale
Spalten bezüglich der Zahnbogenrelation innerhalb einer Dekade mit genügender Aussagekraft
analysieren zu können [52].
Dieser Artikel wird sich auf das Behandlungskonzept des Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten-Zentrums
des Universitätsklinikums Bonn konzentrieren.
Merke: Ein allgemein anerkanntes LKG-Behandlungskonzept im Sinne von Stellungnahmen, Leitlinien
oder gar Richtlinien gibt es bis heute nicht.
Interdisziplinäres Behandlungskonzept (Zusammenfassung)
Interdisziplinäres Behandlungskonzept (Zusammenfassung)
Das Bonner Langzeitprotokoll wurde sukzessiv über die Zeit modernisiert und dem aktuellen
Stand der Forschung angepasst. Kernstück des Konzepts ist die interdisziplinäre Sprechstunde, in der alle Patienten bis zum Abschluss des Wachstums mindestens ein Mal im Jahr
vorgestellt werden. In der Sprechstunde werden die einzelnen Behandlungsschritte geplant
und koordiniert (Abb. [2]).
Abb. 2 Das Behandlungsprotokoll des Spaltzentrums des Universitätsklinikums Bonn: Schematische
Abbildung der Hauptdisziplinen in zeitlicher Reihenfolge von der Geburt bis zum 18.
Lebensjahr.
In der Regel wird eine orofaziale Spalte im Rahmen der Pränataldiagnostik schon vor der Geburt diagnostiziert. Die Eltern haben nach der sonografischen Diagnosefindung
die Möglichkeit, sich in der interdisziplinären Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten-Sprechstunde
über die Dysmorphie und die Therapiemöglichkeiten beraten zu lassen. In diesem Sinne
werden ihnen Ängste und Vorbehalte genommen und sie können sich auf die Therapiemaßnahmen
nach der Geburt einstellen.
Direkt nach der Geburt wird der kleine Patient im Rahmen des stationären Aufenthalts
dem Spaltteam vorgestellt. Bei Bedarf kann eine humangenetische Beratung und Diagnostik erfolgen. Die Behandlung beginnt in den ersten Lebenswochen mit einer Formung der
Alveolarfortsatzsegmente, der Lippe und der Nase durch herausnehmbare Apparaturen
(Nasoalveolar Molding). Der primäre Lippenverschluss wird im Alter von ca. 6 Monaten in Kombination mit einer primären Rhinoplastik durchgeführt; eine frühe nasale Korrektur ist ein wichtiger Baustein im Gesamtkonzept.
Die Rekonstruktion des Gaumens erfolgt in Alter von ca. 18 Monaten vor der eigentlichen Sprachentwicklung. Die meistens
notwendige Parazentese (Durchstechung) des Trommelfells und der Einsatz eines Paukenröhrchens werden zeitgleich
mit den ersten beiden Operationen durchgeführt. Im Anschluss unterstützt die logopädische Begleittherapie die Sprachentwicklung, die im Einzelfall durch einen sprechunterstützenden chirurgischen Eingriff im Alter von 5–6 Jahren positiv beeinflusst werden kann. Eine kieferorthopädische Frühbehandlung ist in der Regel
ab dem 6. Lebensjahr in vielen Fällen notwendig, um transversale und sagittale Kreuzbisse
zu überstellen und einen regelrechten Durchbruch der bleibenden Zähne zu ermöglichen.
Das freie Knochentransplantat zum Verschluss der Spalte im Alveolarfortsatzbereich wird in der Regel erst nach
kieferorthopädischer Erweiterung des Oberkiefers im Alter von 6–11 Jahren eingebracht,
wenn die spaltnahen Zähne (seitlicher Schneidezahn oder Eckzahn) sich noch vor dem
Durchbruch befinden. Fast alle Spaltpatienten müssen im Anschluss – in der Regel aufwendig
– kieferorthopädisch
behandelt werden. Sekundäre Operationen können im Einzelfall darüber hinaus indiziert sein.
Merke: Ziel der Therapeuten sind ein gutes Ergebnis hinsichtlich Ästhetik im Sinne eines
normalen Soziallebens ohne Stigmatisierung sowie suffiziente Kau-, Atmungs-, Sprach-
und Ernährungsfunktionen.
Als Grundprinzip gilt, dass im Rahmen der operativen Korrekturen zur Rekonstruktion
der Weichgewebe das Gewebe sehr vorsichtig behandelt wird und durch ein möglichst
atraumatisches Vorgehen die Narbenbildung gering gehalten wird. In diesem Sinne ist
das Ergebnis weniger von der verwendeten operativen Technik, sondern vielmehr von
der Erfahrung des jeweiligen Operateurs abhängig. Der Chirurg erzielt dabei in der Regel bessere Ergebnisse, wenn die Dysmorphie
weniger ausgeprägt ist und deren Ausmaß zusätzlich durch das präoperative Nasoalveolar
Molding verringert wird.
In den folgenden Kapiteln werden auszugsweise wichtige Schritte im Bonner Behandlungskonzept
genauer erläutert.
Humangenetische Diagnostik und Beratung
Humangenetische Diagnostik und Beratung
Basierend auf epidemiologischen Beobachtungen geht man heute von einem genetisch komplexen
Hintergrund bei nicht syndromalen Spaltformen aus.
Merke: Das Zusammentreffen mehrerer genetischer und evtl. zusätzlich äußerer Risikofaktoren
führt zur Spaltbildung.
Die Wiederholungswahrscheinlichkeit für nahe Verwandte eines Betroffenen ist bei der nicht syndromalen Lippen-Kiefer-Gaumenspalte
entsprechend gering (2–4 %). Bislang sind nur einige wenige für nicht syndromale Spalten
ursächliche Gene/Regionen im menschlichen Genom identifiziert worden, jedoch bei Weitem
noch nicht alle. Es besteht entsprechend keine Möglichkeit, mittels Untersuchung einer
DNA-Probe eines Betroffenen zu sichern, dass dieser eine nicht syndromale Spalte hat.
Gesichtsspalten, die im Zuge übergeordneter Syndrome auftreten, sind insgesamt seltener.
Man schätzt den Anteil der syndromalen Formen unter Lippen-Kiefer-Gaumenspalten auf
ca. 30 % und unter Gaumenspalten auf ca. 50 %. Syndromale Spaltformen sind sowohl
hinsichtlich der weiteren Symptome als auch der genetischen Ursache eine äußerst heterogene
Gruppe. Typischerweise handelt es sich um monogen erbliche Erkrankungsbilder, d. h. eine genetische Veränderung einer einzigen Erbanlage ist ursächlich. Die Erkrankungen
folgen entsprechend oft einem Mendelʼschen Erbgang. Es können
verhältnismäßig hohe Wiederholungsrisiken für die Kinder und/oder Geschwister eines
Betroffenen bestehen.
Die Diagnosestellung eines übergeordneten Syndroms beim einzelnen Betroffenen erfolgt
meist anhand der dafür typischen Symptomkombination. Wenn für das vermutete Syndrom
ein ursächliches Gen bzw. ein ursächlicher genetischer Mechanismus bekannt ist, so
kann dies anhand einer DNA-Probe des Patienten untersucht werden. Wird dabei eine
kausale genetische Veränderung identifiziert, so ist die Verdachtsdiagnose bestätigt. Dann sind klare Aussagen zu Ursache und Wiederholungsrisiken möglich,
mitunter auch grobe Angaben zu weiteren möglichen Symptomen und Prognosen. Wird keine
kausale Mutation gefunden, sind andere Differenzialdiagnosen zu erwähnen, die u. U. ebenfalls mittels einer genetischen Untersuchung abgeklärt
werden können.
Merke: Die klinisch-anamnestische Diagnosestellung eines Syndroms ist häufig schwierig.
Oft bilden sich die charakteristischen Symptome erst im Laufe der Kindheit aus.
Die Betroffenen und deren Eltern stellen, oft im Zusammenhang mit weiterer Familienplanung,
die Frage nach der Einordnung (syndromal/nicht syndromal?) und der Wiederholungswahrscheinlichkeit
für eine Spalte bei weiteren Kindern. Die „Ratsuchenden“ treffen dabei auf einen „humangenetischen Berater“, in der Regel eine(n) Fachärztin/Facharzt für Humangenetik. Anhand einer ausführlichen
Anamnese einschließlich Familienanamnese und einer körperlichen Untersuchung des Betroffenen
wird zunächst die Frage geklärt, ob evtl. ein übergeordnetes Syndrom vorliegt. Bei
Vorliegen einer
nicht syndromalen Spaltform werden der genetisch komplexe Hintergrund und die sich
daraus ergebenden Wiederholungsrisiken erläutert. Bei Verdacht auf ein übergeordnetes
Syndrom werden den Eltern der zugrunde liegende Erbgang und evtl. Ziele einer möglichen
genetischen Diagnostik erläutert und auf Wunsch veranlasst. Nach Abschluss aller Gespräche
und diagnostischen Maßnahmen werden die Inhalte der humangenetischen Beratung im sog.
„Beratungsbrief“ schriftlich zusammengefasst.
Die humangenetische Beratung ist für die Ratsuchenden freiwillig. Es gilt das Prinzip
der „Nichtdirektivität“, d. h. aus der Beratung soll eine Entscheidungshilfe für die
Ratsuchenden erwachsen („informierte Selbstbestimmung“). Es handelt sich um eine kassenärztliche Leistung, für die die gleichen Rahmenbedingungen gelten wie für alle ärztlichen Leistungen
(Datenschutz, Schweigepflicht, Aufklärungspflicht). Im seit 2010 in Deutschland gültigen
Gendiagnostikgesetz (GenDG) ist die humangenetische Beratung als zentraler Punkt verankert.
Merke: Fragen die Betroffenen oder ihre Eltern nach genetischen Ursachen der Spalte sowie
nach eventuellen Wiederholungsrisiken für weitere Kinder, so ist eine humangenetische
Beratung zu empfehlen.
Nasoalveolar Molding (NAM)
Nasoalveolar Molding (NAM)
Allgemeines
„Nasoalveolar Molding“ (NAM) ist eine Kombination von verschiedenen Techniken, durch
die die chirurgische Rekonstruktion im Spaltbereich im Sinne einer Ausformung des
Gewebes und Reduktion der Deformität unterstützt wird. Das NAM bewirkt eine plastische
Umformung und Wachstumsmodulation des Nasenknorpels, der umgebenden Weichgewebe (Haut,
Muskeln, Mukosa) und der Maxilla.
Nasoalveolar Molding (NAM)
Plastische Umformung und Wachstumsmodulation des Nasenknorpels, der umgebenden Weichgewebe
und der Maxilla zur präoperativen Reduktion der Deformität bei einer Lippen-, Kiefer-,
Gaumenspalte.
Mit Abschluss der Formgebung vor der Operation ist die Spaltweite reduziert, die Lippensegmente
können mit wenig Kraft manuell aneinander approximiert werden oder berühren sich im
Idealfall bereits. Ziel ist, die Spannung des postoperativen Wundverschlusses klein
zu halten und die resultierende Narbenbildung zu reduzieren. Wenngleich es darüber
nur begrenzte Evidenz gibt [14], ist es in der plastischen Chirurgie üblich, Schnittführungen so zu legen, dass
der postoperative Wundverschluss möglichst spannungsfrei bleibt. Eine ausgeprägte
Narbenbildung würde das operative Ergebnis aus ästhetischer und funktioneller Sicht
infrage stellen und langfristig zu Wachstumshemmungen des Mittelgesichts führen.
Neben einer potenziell reduzierten Narbenbildung im Bereich der Lippe kann durch das
NAM und die primäre Lippenrhinoplastik langfristig die Form der Nase verbessert und
das Ausmaß der Kieferspalte und somit der späteren Knochentransplantation reduziert
werden. Folglich ist eine verbesserte Gesichtsästhetik und Oberkieferentwicklung sowie
eine Verminderung der Anzahl, des Ausmaßes und der Komplexität von zukünftigen kieferverlagernden
Operationen und plastischen Lippen- und Nasenkorrekturen zu erwarten [15].
Langfristige Ziele von NAM
-
Verbesserung der Nasenform
-
Reduktion des Ausmaßes der Knochentransplantation im Alveolarfortsatzbereich
-
Reduktion der Narben an der Lippe und am Gaumen, Verbesserung der Oberkieferentwicklung
und der Gesichtsästhetik
-
Verminderung der Anzahl, des Ausmaßes und der Komplexität von zukünftigen kieferverlagernden
Operationen und plastischen Lippen- und Nasenkorrekturen
Historie
Behandlungsansätze zur präoperativen Ausformung der Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalten
gibt es schon seit dem 17. Jahrhundert. Nach 1950 wurde die Entwicklung durch ständige
Vorstellung neuer intraoraler und extraoraler Apparaturen intensiviert. McNeil kombinierte
Lippenbandagen mit intraoralen Apparaturen [16], Georgiade und Latham stellten eine invasive aktive Gaumenplatte mit Schraube vor,
die innerhalb kürzester Zeit zu einer Verkleinerung der Kieferspalte durch Bewegung
der Alveolarfortsatzsegmente führt [17],
und Hotz und Gnoinski entwickelten die im europäischen Raum stark verbreitete passive
Gaumenplatte, die zu einer Verkleinerung der Kieferspalte unter Ausnutzung des natürlichen
Wachstums führt [18]. Matsuo stellte eine nicht chirurgische Methode zur Korrektur der nasalen Deformität
als begleitende Maßnahme nach dem operativen Lippenverschluss vor [19]. Die heutige NAM-Technik entwickelte sich als Konglomerat und Modifikation der vorhandenen
Ideen: Dogliotti und Bennun [20] und Grayson und
Cutting [21], [22] und deren Teams haben in den 1990er-Jahren eine Gaumenplatte mit nasaler Extension
zur Formung der intra- und extraoralen Gewebe beschrieben.
NAM-Ansatz
Die NAM-Technik kombiniert die Vorteile der intraoralen passiven Platten – im Sinne
einer Wachstumsförderung im Bereich der Alveolarfortsätze und Verkleinerung der Kiefer-/Gaumenspalte
– mit extraoralen Elementen und dem Ziel einer erhöhten Symmetrie von Lippe und Nase.
Für die klassischen Behandlungskonzepte mit einfachen Gaumenplatten gibt es zur Zeit
keine Evidenz für eine Verbesserung der Behandlungsergebnisse außer des Verhinderns
eines anterio-posterioren Kollapses der Prämaxilla bei beidseitigen Spalten und einer
vorübergehenden Verbesserung der Sprache [23], [24], [53]. Für die NAM-Konzepte, die die Formung der Nase berücksichtigen, gibt es schwache
bis genügende Evidenz, dass sie zu einer Verbesserung der Nasensymmetrie und der Nasensteglänge
sowie zu einer Reduktion der Anzahl von operativen Nasenkorrekturen führen können
[24]–[27], [53]. Aus diesem Grund werden in Bonn seit einigen Jahren NAM-Apparaturen verwendet und
man konzentriert sich zunehmend auf die
extraoralen Behandlungsziele, wobei die intraoralen Ziele weiter verfolgt werden.
Merke: Die NAM-Technik kombiniert die Vorteile der intraoralen passiven Platten mit extraoralen
Elementen und dem Ziel einer erhöhten Symmetrie von Lippe und Nase.
NAM-Technik im Detail
Die NAM-Apparatur (Abb. [3]) wird vom Kieferorthopäden des Spaltteams in der Regel innerhalb der ersten Woche
nach der Geburt angepasst.
Abb. 3 NAM-Apparaturen. a Für eine einseitige und b für eine doppelseitige Spalte.
Abformung. Als erstes wird eine Abformung des Oberkiefers mit Silikon vorgenommen. Dies ist
insofern wichtig, da bei Alginat Materialreste im Spaltbereich verbleiben können,
die z. B. zu einer Aspiration führen können.
Gaumenplatte. Im kieferorthopädischen Labor wird eine Kunststoffplatte hergestellt, wobei der Spaltbereich
in der Regel mit Wachs ausgeblockt wird und somit frei von Kunststoff bleibt.
Merke: Die Gaumenplatte ist vor allem eine Wachstumsstimulationsplatte und ist für die Ernährung
des Neugeborenen oder Säuglings mit Gaumenspalte in der Regel nicht erforderlich.
Der Begriff „Trinkplatte“ ist obsolet.
Die Lage der in der Spalte liegenden Zunge wird sofort nach Einsetzen der Gaumenplatte
normalisiert. Die Gaumenspalte hält sie kaudal von der Spalte ab und der Zungendruck
auf die Spaltränder bleibt aus. Das erlaubt die spontane Verkleinerung der Kiefer-
und Gaumenspalte durch das physiologische Wachstum der Alveolarfortsatzsegmente. Durch
Schaffung eines Gegenlagers im Sinne der künstlichen Trennung von Mund- und Nasenraum
wird zusätzlich die Schluckfunktion normalisiert und das Trinken und Stillen ggf.
erleichtert. Jedoch ist der Aufbau eines Saugvakuums bei einem
Gaumenspaltpatienten mit und ohne Platte nicht möglich, da sie die Funktion des weichen
Gaumens nicht ersetzen und den Mundraum nicht abdichten kann. Für die überwiegende
Mehrheit der Babys ist die Ernährung auch ohne Platte sehr gut möglich. Man darf nicht
vergessen, dass in vielen Zentren weltweit überhaupt keine Platten eingesetzt werden
bzw. die meisten Patienten in der Dritten Welt keinen Zugang zu irgendeinem Therapeuten
in diesem jungen Alter haben; trotzdem trinken und wachsen auch diese Spaltpatienten.
Ein positiver Effekt von Gaumenplatten im Sinne einer
Verbesserung der Ernährungsfunktion sowie des Körperwachstums des Patienten konnte
in 2 randomisierten prospektiven Studien nicht nachgewiesen werden [28], [54].
Die Platte wird 24 Stunden am Tag getragen, auch während des Trinkens und Schlafens.
Sie liegt dabei locker im Mund und das Baby fixiert sie mit der Zunge nach kranial.
En passant wird durch diesen zusätzlichen Reiz eine evtl. vorhandene Zungenrücklage
korrigiert (z. B. bei der Pierre-Robin-Sequenz). Eine Druckstellenkontrolle findet
in regelmäßigen Abständen statt.
Pflaster. Bei extremen Lippenspalten wird schon früh ein hautfarbendes Pflaster auf die Lippe
geklebt, das die gespaltenen Lippensegmente zueinander zieht. Prinzipiell wird versucht,
die Spalte initial zu verkleinern, wodurch im nächsten Schritt die Spannung im Gewebe,
die Druckstellen und der Diskomfort reduziert werden.
Nasensteg. Die Apparatur wird anschließend um einen aus weichem Kunststoff verkleideten Nasensteg
ergänzt (Abb. [3]), der eine nach frontokranial ausgerichtete Kraft auf den Nasendom ausübt. Spätestens
dann wird das hautfarbende Pflaster mit Zug auf die Lippensegmenten geklebt. Die Platte
wird mit dem Pflaster und/oder Haftgel gegen die Abzugskräfte verankert. Der Nasensteg
ist hinter dem Pflaster versteckt und polstert den abgeflachten Nasenflügel aus. Die
Apparatur kaschiert die Dysmorphie insoweit, dass die Spalte und die Nasenabweichung
augenscheinlich verschwinden und oft nur nach aufmerksamem Betrachten von einem Laien
wahrnehmbar sind (Abb. [4]).
Abb. 4 Sofortige Kaschierung der Spalte in einer Sitzung.
Compliance. Die Sozialisierung des Patienten bis zur Lippenoperation kann somit merklich gesteigert
werden und die Motivation und Compliance der Eltern ist im Allgemeinen sehr hoch.
In diesem Sinne implementiert das Bonner Team bewusst eine einfache und ästhetische
NAM-Apparatur ohne auffällige extraorale Teile.
Merke: Die Eltern sind durch die alltägliche Handhabung der Apparatur (Einsetzen, Säubern,
Pflasterwechsel) aktiv an der Behandlung beteiligt und deren psychische Belastung
verbessert sich merklich nach den ersten therapeutischen Maßnahmen.
Intraoraler Teil: alveolar molding. Der intraorale Teil der NAM-Apparatur, die Gaumenplatte, sorgt für eine Reduktion
der Breite der Kiefer- und Gaumenspalte (Abb. [5]), wodurch die korrekte Ausrichtung der Nase und der Lippe zusätzlich gefördert wird.
Gleichzeitig wird für eine gute Schluck- und Ernährungsfunktion gesorgt.
Abb. 5 Veranschaulichung der Wirkung der Gaumenplatte auf die intraoralen Strukturen (alveolar
molding). Die beidseitige Gaumenspalte und die einseitige Kieferspalte verkleinern
sich deutlich. a Zustand nach der Geburt. b Nach Einsetzen der Gaumenplatte. c Mit 6 Monaten. Für diese Effekte gibt es nach heutigem Stand der Forschung – außer
einer vorübergehenden Verbesserung der Sprache – keine Evidenz für eine Verbesserung
der Behandlungsergebnisse [23], [24].
Extraoraler Teil: nasal molding. Der extraorale Teil der Apparatur bewirkt eine Verlängerung des Nasenstegs (Columella),
eine verbesserte Definition des Subnasalpunktes, einen Gewebezugewinn der Nasenschleimhaut
im Spaltbereich, eine Verbesserung der Symmetrie der Nasenspitze und der Nasenknorpel
sowie eine Erhöhung der Konvexität des betroffenen Nasenflügels.
Darüber hinaus werden die gespaltenen Lippensegmente horizontal zueinander bewegt
und die Lippenspalte wird kleiner. Die Patienten zeigen postoperativ kleine Narben
und eine gute Nasenform (Abb. [6] und [7]).
Abb. 6 Beispiel einer NAM-Behandlung bei einem Patienten mit einseitiger Spalte. a Zustand bei Geburt. b Zuerst wird eine einfache Gaumenplatte eingesetzt, die c im weiteren Verlauf um einen Nasensteg und ein Lippenpflaster erweitert wird. d Die Apparatur führt zu einer deutlichen präoperativen Reduktion der Lippenspalte
und Symmetrisierung der Nasenspitze mit 6 Monaten. e Postoperativ wird das Ergebnis mit einem Nasenretainer retiniert. f Ergebnis 1 Jahr nach der Lippenplastik.
Abb. 7 Ansicht auf den Naseneingang des Patienten aus Abb. [6]. a Zustand bei Geburt. b Nach Einsetzen der Gaumenplatte. c Der Nasensteg drückt den flachen S-förmigen Nasenflügel der betroffenen Seite nach
anterior–kranial und erhöht dessen Konvexität, das Pflaster zieht die Lippensegmente
zueinander. d Die Nase gewinnt an Symmetrie, der betroffene Nasenflügel ist konvex und die Lippenspalte
kleiner mit 6 Monaten. Der intraorale Teil der Apparatur sorgt für eine Approximierung
der Kieferstümpfe, hier
idealerweise bis zu einem Kontakt. e Nasenretainer in situ. f Ergebnis 1 Jahr nach der Lippenplastik.
Zwei Stege. Bei beidseitigen Spalten werden zwei Stege angebracht, die zu einem späteren Zeitpunkt
mit einer Brücke aus weichem Kunststoff miteinander verbunden werden (Abb. [3]
b). Die Stege üben eine frontokranial ausgerichtete Kraft auf den Nasendom und die
Brücke übt eine posterior-kraniale Kraft auf den Subnasalpunkt aus. Ein vertikales
Pflaster zieht das Prolabium, den mitleren Teil der Lippe, nach kaudal-posterior zur
Gaumenplatte hin. Die Columella (Nasensteg) und das Prolabium werden dadurch gestreckt.
Das horizontale
Pflaster zieht die lateralen Lippensegmente zueinander und zum Prolabium. Die intraorale
Gaumenplatte sorgt, außer für eine gute Schluckfunktion, für eine Reduktion der Breite
der Kiefer- und Gaumenspalte durch Wachstum und Nivellierung der Kiefersegmente, eine
Wirkung, die die Columella-Verlängerung zusätzlich fördert. Haftgel und das vertikale
Pflaster sorgen für eine gute Verankerung der Apparatur. Die Patienten zeigen postoperativ
kleine Narben und eine gute Lippen-/Nasenkonfiguration (Abb. [8] und [9]).
Abb. 8 Beispiel einer NAM-Behandlung bei einem Patienten mit beidseitiger Lippen-, Kiefer-,
Gaumenspalte. a Zustand bei Geburt. b Die Gaumenplatte wird um zwei Nasenstege und horizontale und vertikale Pflaster erweitert.
c Später werden die Stege mit einer Brücke aus weichem Kunststoff miteinander verbunden.
d Die Apparatur führt zu einer deutlichen präoperativen Reduktion der Lippenspalte.
e Postoperativ wird das Ergebnis mit einem Nasenretainer stabilisiert. f Ergebnis 1 Jahr nach der Lippenplastik.
Abb. 9 Ansicht auf den Naseneingang das Patienten aus Abb. [8]. a Zustand bei Geburt. b NAM-Apparatur mit 2 Stegen ohne Querverbindung. c Die Nasenspitze wird durch die Stege gehalten und die Columella wird um eine Querverbindung
der Stege mit dem vertikalen Pflaster nach kaudal–posterior gezogen. Die Querverbindung
drückt am Subnasalpunkt nach posterior–kranial (gestrichelter Pfeil). d Die Apparatur führt zur Anpassung der Prämaxilla in den Kieferbogen und somit zu
einer relativen Retrusion des Prolabiums und
zu einer Verlängerung der Columella bei erhaltener Nasenspitzenprominenz. e Nasenretainer in situ. f Ergebnis 1 Jahr nach der Lippenplastik.
Erhalten des Erreichten. Die erreichte Form der Nase wird direkt postoperativ durch Fixationsnähte im Nasendom
und im seitlichen Flügel des Nasenflügelknorpels (Crus laterale) und danach durch
einen herausnehmbaren Nasenlochretainer (Abb. [6]
e, [7]
e, [8]
e und [9]
e) gesichert. Nach der Lippenplastik wird eine neue Gaumenplatte ohne Nasenstege eingesetzt
und bis zur Gaumenplastik getragen. Sie bewirkt eine weitere Reduktion der
Gaumenspalte durch das Abhalten der Zunge.
Merke: Langfristig kann man erwarten, dass durch die reduzierten Narben das Wachstum des
maxillären Komplexes weniger gehemmt, die Ästhetik verbessert und die Komplexität
der weiteren Behandlung im Sinne von Sekundäroperationen reduziert werden [29].
Durch NAM-Apparaturen anzustrebende Behandlungsziele
-
Elongation der Columella
-
Verbesserung der Definition des Punctum subnasale
-
Expansion der nasalen Mukosa im Spaltbereich
-
Verbesserung der Symmetrie der Nasenspitze
-
Vergrößerung der Konvexität des betroffenen Nasenflügels
-
Reduktion der Breite der Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalte
-
Verbesserung der Schluckfunktion
-
sofortige Kaschierung der Dysmorphie mit psychosozialen Vorteilen
Bonner Konzept. Die NAM-Technik wurde in der Poliklinik für Kieferorthopädie des Universitätsklinikums
Bonn im Jahr 2008 eingeführt und seitdem weiterentwickelt. Der Schwerpunkt wurde auf
höchstmögliche Effizienz der Apparatur bei gleichzeitiger einfacher Handhabung und
ästhetischer Anwendung gelegt [30]. Das zuvor praktizierte Konzept der passiven Platte (alveolar molding) wurde um
den Therapiebaustein des aktiven Nasenstegs (nasal molding) für die Lippenspalten
ergänzt. Von chirurgischer Seite wurde das Konzept modifiziert, um der
veränderten Nasenknorpelanatomie und einer bereits früh zu erreichenden Nasensymmetrie
Rechnung zu tragen. Die NAM-Technik ist im europäischen Raum – anders als in Amerika
und Asien – kaum verbreitet. Sie ist ohne Frage eine sehr aufwendige Technik, die
eines entsprechend weitergebildeten und erfahrenen Therapeuten bedarf und die Elternmitarbeit
fordert. Angesichts der schwachen – aber durchaus positiven – Evidenz über deren Wirksamkeit
ist es verständlich, dass dieses Konzept bis jetzt in umlagefinanzierten Gesundheitssystemen
weniger Einzug gefunden hat.
Merke: NAM ist ein wichtiger Bestandteil im Rahmen eines interdisziplinären Behandlungskonzepts
und kann nicht als alleinige Maßnahme zum Erfolg führen. Die chirurgische Expertise
bei der primären Operation ist für den Erfolg essenziell.
Chirurgische Korrektur der Lippe und Nase
Chirurgische Korrektur der Lippe und Nase
Allgemeines
Der Verschluss der LKG-Spalte stellt den Chirurgen vor eine große Verantwortung und
Herausforderung gegenüber dem Patienten und dessen Familie. Das Behandlungsergebnis
ist in hohem Maße von der Erfahrung und den Fertigkeiten des Operateurs und vom Ausmaß
der Dysmorphie abhängig [31].
Der Verschluss von Lippenspalten wird in der Regel mit 6 Lebensmonaten durchgeführt.
In diesem Alter ist beim sonst gesunden Kind der Allgemeinzustand mit einem Körpergewicht
von 5000–6000 g und einem Hämoglobinwert von 10 g/dl so gut, dass eine Vollnarkose
ohne erhöhtes Risiko durchgeführt werden kann. Zu diesem Zeitpunkt sind die spaltnahen
Gewebe kräftig ausgebildet, ein Umstand, der eine stabile Rekonstruktion begünstigt.
Einseitige Spalten
Zur Versorgung einer einseitigen Lippenspalte sind in der Literatur verschiedenste
Techniken beschrieben worden und werden auch heute noch in modifizierter Form angewendet,
z. B.:
-
Veau (gerade Schnittführung)
-
Millard (Rotationslappentechnik)
-
Pfeiffer (Wellenschnitttechnik)
In Bonn wird der Lippenverschluss mittels modifiziertem Dreiecksläppchen nach Tennison-Randall
[33] mit Kieferspaltverschluss nach Axhausen [34] durchgeführt, kombiniert mit einer primären Rhinoplastik nach Kenneth E. Sayler
[31].
Für eine Wiederherstellung der normalen perioralen Anatomie wurde bereits von Randall,
Sawhney, Kernahan, Nicolau und Park der Fokus auf ein komplettes Ablösen der fehlerhaft
inserierten Muskulatur mit primärer Rekonstruktion der zirkulären Muskelschlinge des
M. orbicularis oris gelegt (Abb. [10] und [11]).
Abb. 10 Sagittalschnitt M. orbicularis oris. Der M. orbicularis oris besteht anatomisch und
funktionell betrachtet aus 2 Komponenten: einem oberflächigen Anteil (Pars superficialis)
mit oberem (kranialen) und unterem (kaudalen) Bündel, zuständig für die Mundöffnung,
und einem tiefen Anteil (Pars peripheralis), der sich in kaudal–anteriorer Richtung
hinter dem Lippenrot (Vermillion) umstülpt (Pars marginalis) und zuständig für den
Mundschluss ist [31], [32].
Abb. 11 a Muskelorientierung bei normaler Anatomie: 1 oberes und unteres Bündel der Pars superficialis
des M. orbicularis oris, 2 Pars Marginalis des M. orbicularis oris. 3 Äußere Kanten
Philtrum. 4 Crus laterale. 5 Crus mediale. 6 Vermillion (Lippenrot). 7 Kupidorbogen
(Amorbogen). b Muskelorientierung bei einer partiellen einseitigen Lippenspalte. c Muskelorientierung bei einer vollständigen einseitigen Lippenspalte. d Doppelseitige Spalte [35].
Im Falle einer unilateralen Spalte verläuft das untere Bündel der Pars superficialis
auf der Spaltseite unterhalb der Nasenbasis nicht horizontal, sondern vertikal, um
fälschlicherweise am Periost der Apertura piriformis (knöcherne Nasenöffnung) und
am Nasenflügel anzusetzen. Durch die Muskelkontraktionen des Mundes kommt es nun zu
einer Deformation des noch plastisch verformbaren Nasenflügels. Dies wird durch das
fehlerhaft verlaufende obere Bündel der Pars superficialis, die seitlich am Nasenflügel
und der Nasolabialfalte ansetzt, verstärkt. Durch die fehlende Vereinigung
zur Gegenseite resultiert im Rahmen des Muskelzusammenspiels zudem eine Verformung
der vorderen Nasenscheidewand (die sog. Septumdeviation, Abb. [11]
c).
Merke: Die spaltbedingte muskuläre Dysbalance führt im Bereich des Nasenflügelknorpels dazu,
dass 1. das Crus laterale des Nasenflügels (seitlicher Flügel des Nasenflügelknorpels)
verlängert und leicht S-förmig deformiert ist, 2. das Nasenloch nicht längs, sondern
quer gestellt ist und somit die Nasenflügelbasis auf der Spaltseite verbreitert und
3. das spaltseitige Crus mediale im Bereich der Columella verkürzt ist.
Nach Milderung eines Teils dieser Pathologien durch das NAM wird den beschriebenen
komplexen Abweichungen neben der Rekonstruktion einer fehlerhaft verlaufenden Lippenmuskulatur
bereits durch die Rhinoplastiktechnik nach Sayler Aufmerksamkeit gezollt.
Veränderte Anatomie bei Lippenspalten
-
Dehiszenz des M. orbicularis oris
-
fehlerhafter Muskelfaserverlauf des M. orbicularis oris
-
deformierter und fehlinserierter spaltseitiger Nasenflügel
-
spaltseitig quer-ovaler Naseneingang durch Verkürzung der spaltseitigen Columellakante
und verbreiterter Nasenbasis
-
offener Nasenboden
-
verlagerte Nasenscheidewand
Lippenverschluss
Die Operationstechnik des in Bonn primär verwendeten Lippenverschlusses basiert auf
dem Prinzip der Winkelschnittführung, um mittels Läppchenaustausch eine symmetrische Lippenform mit harmonischem Kupidobogen (auch Amorbogen genannt) und ein suffizientes „Pouting“ (Lippenfülle) zu erreichen.
Unter dem Kupidobogen versteht man die bogenförmige Grenzlinie des Oberlippenrots
zum Oberlippenweiß (Abb. [11]
a). Die verkürzte Oberlippe auf der Spaltseite muss zu der Länge der Gegenseite angeglichen
werden. Nach Festlegung von anatomischen Markierungspunkten und Ausmessen der spaltseitigen
und der gesunden Philtrumlänge wird die Planung mit Festlegung der Austauschläppchenbreite komplettiert (Abb. [12]
a und [13]
a, b). Dabei beträgt die Kantenlänge des
gleichschenklig gestalteten Dreieckläppchens genau die Länge, um welche die beiden
Philtrumlängen differieren. Das Läppchen wird zudem lippenrotnah gelegt, um den Narbenhochzug
im Rahmen der postoperativen Narbenkontraktion zu unterbrechen und das korrigierte
ästhetische Ergebnis zu wahren.
Abb. 12
a Markierung der Schnittführung nach Tennison-Randall.
b Einlagerung des lippennahen Dreieckläppchens.
c Korrrektur des Nasenflügelknorpels, Mobilisation des ligamentären Ansatzes und der
Haut über dem Crus laterale und mediale mit Aufsicht der Nasenbodenrekonstruktion
nach Axhausen.
d Approximierung der Nasenbasis und Anhebung der Nasenspitzenregion, Verschmälerung
der Nasenflügelbasis mittels Naht.
e Zustand nach Lippenplastik.
Abb. 13 a Ausmessen der Philtrumkantendifferenz mit dem Castroviejo-Zirkel. b Einzeichnen der Markierungspunkte zur Planung der Schnittführung. c Präparation der Lippenstümpfe. d Rekonstruktion der perinasalen/perioralen Muskulatur mit in situ befindlichen Nasenflügelnähten.
e Spannungsfrei approximierte Lippenstümpfe. f Zustand nach Lippenplastik.
Prinzipiell wird durch die zickzackförmige Schnittführung nach Tennison-Randall (Abb. [12]
b und [13]
c) versucht, das auf der betroffenen Seite verkürzte Philtrum zu verlängern sowie einen
geradlinigen – vertikal konstriktiven – postoperativen Narbenzug zu vermeiden. In jedem chirurgischen Konzept bedarf es jedoch einer gestalterischen
Freiheit, um die Operationstechnik dem individuellen Zustand anzupassen.
Für die Rekonstruktion von Lippe und Nase sind eine ausreichend bemessene Mobilisation der anatomischen Einheiten und deren exakte Vereinigung bzw. korrigierte Verlagerung wichtiger Bestandteil. Die Muskulatur wird dazu von
ihrer Unterlage zwischen Periost und Muskulatur bis in die Region der fazialen Kieferhöhlenwand
paranasal und in die Jochbeinregion gelöst.
Merke: Für das ästhetische Endresultat ist nicht nur eine Fokussierung auf die Lippe, sondern
auch auf die Nase wichtig.
Primäre Rhinoplastik
Die primäre Korrektur der Nase wird durchgeführt mit (Abb. [12]
c und d) [31], [36]:
-
geschlossener Technik im Sinne einer Lösung des ligamentären Ansatzes des Nasenflügelknorpels
-
komplettem Deattachment des bedeckenden Weichgewebes
-
Verschmälerung der Nasenflügelbasis mittels Naht
-
Loslösung und Umorientierung der paranasalen Muskulatur
-
Rekonstruktion des anterioren Nasenbodens
Dadurch erhält man gute Ergebnisse des Naseneingangs, ohne dass eine weitere Intervention
an der knöchernen Nasenbegrenzung zu diesem Zeitpunkt notwendig ist.
Im Rahmen der Primäroperation wird neben der Vereinigung der Lippe und der Korrektur der Nase auch die anatomisch
korrekte Vereinigung des M. orbicularis oris mit Integration der perinasalen Muskulatur
und der Schaffung eines Vestibulums durchgeführt.
Die Nahtentfernung intra- wie extraoral wird entweder noch während des meist einwöchigen stationären
Aufenthalts oder kurz danach in einer Maskennarkose stressfrei für das Kind vorgenommen.
Im Anschluss an eine solche Nasenoperation wird ein Nasenretainer über einen Zeitraum
von 6 Monaten zum Erhalt stabiler Langzeitergebnisse getragen.
Beidseitige Spalten
Bei den doppelseitigen Lippenspalten liegt das Therapieziel in der:
-
Verlängerung des hypoplastischen Prolabiums (d. h. dem Lippenanteil vor der Prämaxilla)
-
Auffüllung des defizitären Lippenrotes
-
Muskelrekonstruktion im muskelfreien Prolabium
Hierbei wird in Bonn die gerade Schnittführung nach Veau mit Auffüllung des Lippenrotes durch gestielte Vermillionläppchen gewählt
(Abb. [14]). Die Operationstechnik wurde modifiziert nach Cronin zur zusätzlichen Verlängerung der Prolabiums und nach
Axhausen zur Rekonstruktion des Nasenbodens. Der Nasenboden wird dabei durch einen
Septum-Zwischenkieferlappen verschlossen, der mit dem Mukoperiostlappen der Apertura
piriformis vernäht wird. Im Gegensatz zu einer einseitigen LKG-Spalte ist neben der
besonderen Anatomie des Prolabiums,
der verkürzten Columella und dem oft stark protrudiert stehenden Zwischenkiefer Rechnung
zu tragen. Im Rahmen des Eingriffs wird zudem die Naseneingangsanatomie ähnlich wie
bei der einseitigen Lippenspalte mit Harmonisierung des Nasenflügels korrigiert und
durch die Vereinigung der Muskelstümpfe der M. orbicularis oris rekonstruiert.
Abb. 14 Korrektur der doppelseitigen Lippenspalte. a Markierungen der geraden Schnittführung nach Veau-Cronin. b Präparation der Austauschläppchen im Vermillion. c Zustand nach erfolgter beidseitiger Lippenplastik [37].
Merke: Das Prolabium des Zwischenkiefers ist in der Regel bei beidseitigen Spalten ohne
Muskulatur.
Ist in seltenen Fällen die sagittale Stufe zwischen Zwischenkiefer und seitlichen Lippenstümpfen zum Zeitpunkt
der Operation nach NAM weiterhin sehr groß, besteht die Indikation eines beidseitigen
zweizeitigen Verschlusses nach Tennison-Randall. Die Schwierigkeit besteht bei diesem
Vorgehen darin, eine Asymmetrie zu vermeiden.
Parazentese
Die Ohrtrompete (eustachische Röhre, Tuba auditiva) beginnt im Mittelohr als offener knöcherner Gang
und endet im Nasenrachen als weicher knorpeliger Schlauch. Beim Schlucken wird der
Gang von Muskelfasern, die vom Gaumensegel kommen (M. levator veli palatini und M. tensor
veli palatini), geöffnet. Luft gelangt in die Paukenhöhle, sodass das Trommelfell
immer ausgespannt ist und gut schwingt, wenn die Schallwellen auftreffen. Zusätzlich
bietet die Ohrtrompete eine Drainage-Funktion, verhindert dabei aber den Rückfluss
von Flüssigkeiten vom Mund. Dieser Mechanismus der
Belüftung ist für die Funktion des Mittelohres wichtig.
Im Falle einer Gaumenspalte – auch einer submukösen, nicht sichtbaren Spalte – ist
die Anatomie dieser Region häufig atypisch, sodass das Zusammenspiel der Muskelfasern
zur Öffnung der Eustachischen Röhre nicht ausreicht. Ein Mittelohrerguss mit Schallleitungsschwerhörigkeit kann die Folge sein.
Im Vorfeld zum primären Lippenverschluss wird der Patient in der Pädaudiologie der
HNO-Klinik zum Ausschluss eines Seromukotympanons (Paukenerguss) vorgestellt. In Abhängigkeit vom Lokalbefund erfolgt die Indikationsstellung zur
Inzision des Trommelfells im Sinne einer Parazentese, die – sofern indiziert – einzeitig
mit dem Lippenverschluss von HNO-ärztlicher Seite durchgeführt wird. Zeitgleich wird
ein Paukenröhrchen in das Trommelfell inseriert, womit eine vorübergehende Paukendrainage zum äußeren
Gehörgang sichergestellt wird.
Cave: Ohne regelmäßige HNO-ärztliche Untersuchung droht bei Spaltpatienten eine Schwerhörigkeit
in Folge rezidivierender Mittelohrentzündungen!
Chirurgische Korrektur des harten und weichen Gaumens
Chirurgische Korrektur des harten und weichen Gaumens
Gaumenspalten stellen anatomisch nicht nur die Kontinuitätstrennung des harten und
weichen Gaumens dar (Abb. [15]), sondern eine weit umfangreichere Fehlbildung, die mit einer hypoplastischen und in ihrem Verlauf fehlinserierten Muskulatur einhergeht
(Abb. [16] und [17]). Im Gegensatz zum fehlgebildeten Weichgaumen findet man normalerweise eine kräftige
Aponeurose in der Mitte, posterior des Hartgaumens, gebildet durch M. levator veli palatini
und M. palatopharyngeus. Beide Muskeln
kreuzen im Bereich der Aponeurose zur Gegenseite. In dieser Form fehlt sie bei Spaltpatienten,
und durch die pathologische Insertion am Hinterrand des Hartgaumens kommt es zu unphysiologischen
Muskelwirkungen. Im Vergleich zum Gesunden ist zudem der Abstand zwischen der geteilten
Uvula und der Rachenhinterwand vergrößert.
Abb. 15 Intraorale Ansicht einer beidseitigen Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalte.
Abb. 16 Diaphanoskopie einer submukösen Gaumenspalte.
Abb. 17 a Gesunder, b gespaltener Gaumen. Die Muskeln verlaufen im gesunden Gaumen gekreuzt und quer, im
gespaltenen Gaumen längs und parallel zur Spalte. Man beachte die Längendifferenz
im Bereich der Uvula zur Rachenhinterwand (Pfeile)!
Merke: Neben der Trennung der Nasenhöhle von der Mundhöhle ist das Ziel des Hart- und Weichgaumenverschlusses
die Rekonstruktion der Muskelschlinge im Weichgaumenbereich sowie eine Verlängerung
des Gaumens zur Verbesserung der velopharyngealen Kompetenz.
Eine Ausnahme stellt die submuköse Weichgaumenspalte als Minimalform dar (Abb. [16]). Sie ist gekennzeichnet durch die Symptomtrias [38]:
Gleich den Lippenspalten gibt es auch hier alle Varianten, von einer dezenten Ausprägung
bis zum Vollbild der Symptomatik. Aufgrund der daher zum Teil schwierigen Diagnostik
gehört neben der klinischen Untersuchung und der Diaphanoskopie eine nasale Endoskopie zum Untersuchungsgang in Bonn. Ein MRT kann indiziert sein, ist aber nicht Standardverfahren
in diesem Konzept.
Harter Gaumen
Zum Hartgaumenverschluss bei durchgehenden Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten wird ein
Mukoperiostlappen vom Vomer in der Technik nach Pichler unter die Mukosa der zuvor
im Übergangsbereich von nasaler zu oraler Schleimhaut separierten Blätter eingestülpt
und vernäht (Abb. [18]). Acht Wochen später wird nach sekundärer Wundheilung und Epithelisierung im Bereich
des Hartgaumens der Weichgaumen verschlossen.
Abb. 18 Pichler-Plastik zum operativen Verschluss des harten Gaumens.
a Hart-Weichgaumenspalte. b Präparation Vomer-Lappen. c Eingenähter Mukoperiostlappen unter spaltseitiger palatinaler Mukosa. d Ergebnis 6–8 Wochen nach der Pichler-Plastik mit Einheilung des Mukoperiostlappens
und sekundärer Epithelisierung (vor dem dann noch anstehenden Weichgaumenverschluss).
Die Muskulatur des Weichgaumens verläuft noch parallel zur Spalte nach vorne, um im
Hartgaumen zu inserieren (gelber Bereich).
e Z. n. fertiger Pichler-Plastik. Die Fläche (links von der Naht) granuliert sekundär
und epithelisiert.
Weicher Gaumen
Die chirurgische Therapie der Velumspalte besteht in einer Rekonstruktion der Muskelschlinge und erfolgt in
Bonn nach Widmaier (Abb. [19]). Diese Operationstechnik kann sowohl für die isolierte Velumspalte als auch zum
Verschluss des Velums nach vorausgegangenem Verschluss des harten Gaumens eingesetzt
werden. Hierbei werden zwei Stiellappen unter Schonung der A. palatina präpariert,
die Muskulatur von ihrer Fehlinsertion gelöst und in horizontaler Richtung in der
Mitte im Sinne einer intravelaren Veloplastik nach Kriens vereinigt. Zur
Verlängerung des zu kurzen Weichgaumens erfolgt eine Dorsalverlagung im Sinne einer
VY-Plastik durch Verschieben der Stiellappen nach mediodorsal unter Kürzung der überstehenden
Schleimhaut am vorderen Spaltrand.
Abb. 19 Widmeier-Plastik.
a Weichgaumenspalte mit fehlerhaft verlaufender Muskulatur nach Präparation der Widmeier-Lappenplastik.
b Push-back-Technik durch Distal- und Medialverlagerung des Weichgaumens. Nach Ablösung
der fehlerhaft inserierten Muskulatur vom Hinterrand des Hartgaumens Rekonstruktion
der M.-levator-veli-palatini-Schlinge. Abschließend Muskel- und Schleimhautnaht. Der
weiche Gaumen wird dabei nach posterior verlängert.
c Vereinigung der nasalen Schleimhaut kranial der Muskelschicht.
d Vereinigte Weichgaumenmuskulatur kaudal der nasalen Schleimhaut.
Je nach Lokalbefund ist zu entscheiden, ob einzeitig eine Stiellappenplastik oder ein zweizeitiges Vorgehen mit primärem Verschluss des Hartgaumens und sekundärem Weichgaumenverschluss erfolgen
soll. Durch ein zweizeitiges Vorgehen kann über die „Push-back“-Technik ein längerer
Gaumen resultieren. Ein zu früher Gaumenverschluss kann das Oberkieferwachstum inhibieren,
wobei hierüber in der Literatur Dissens besteht. Auf der anderen Seite wird frühzeitig
eine gute Sprachfunktion gefordert. Der optimale Zeitpunkt für den Gaumenverschluss
ist daher diffizil
festzulegen. Es muss zwischen optimaler Lautbildung und bestmöglichem Oberkieferwachstum
abgewogen werden [39]. In Bonn wird der Gaumen in der Regel mit 15–18 Monaten operiert.
Logopädische Behandlung
In der logopädischen Diagnostik und Therapie von Kindern mit orofazialen Spalten wird
besonderes Augenmerk auf die Besonderheiten bei der Nahrungsaufnahme im Säuglingsalter
sowie den Spracherwerb im Kindesalter gelegt. Die Gefahr einer Sprachbehinderung ist
erhöht und sollte frühzeitig erkannt werden. Drei Ursachen für eine sekundäre Sprachbehinderung
können angenommen werden [40]:
Sprachentwicklungsstörung. Sie kann sich z. B. durch eine Tubenbelüftungsstörung entwickeln und alle sprachlichen
Modalitäten (expressive und rezeptive Leistungen) negativ beeinflussen.
Gestörte Artikulation und Interdentalität. Im Sinne einer Rückverlagerung der Sprachbildung kommt es zu einer gestörten Artikulation
bezogen auf die Plosive (Abb. [20]) und zu einer gestörten Interdentalität bezogen auf die Zischlaute (/s/,/ss/,/z/,/sch/)
oder auf die Laute der 2. Artikulationszone (/l/,/d/,/t/,/n/). Als primärer Mechanismus
wird eine Fehllage der Zunge angenommen.
Abb. 20 Lokalisation von Plosiven (Laute, die durch plötzliche Sprengung entstehen, auch
Explosivlaute). a Normale Artikulation: p/b Lippen; t/d Zungenspitze; k/g Zungenkörper. b Insuffizienter velopharyngealer Abschluss (z. B. bei einem operierten Spaltpatienten
mit zu kurzem weichen Gaumen): nasaler Durchschlag und kompensatorische, zurückverlagerte
glottale Artikulation. c Oronasale Fistel (Restloch nach Gaumenplastik) mit Verlagerung der Artikulation nach
velar (zum weichen Gaumen hin) [41].
Gestörte Resonanz und Stimmgebung. Die pathologischen Druck- und Volumenverhältnisse führen durch Kompensationen zu
einer unphysiologischen Atmung und zu Mitbewegungen der mimischen Muskulatur beim
Sprechen. Durch den fehlenden velopharyngealen Abschluss kommt es zu einer Hypernasalität
und nasalem Durchschlag. Tertiär können dadurch hyperfunktionelle Dysphonien entstehen.
Die Ziele logopädischer Interventionen ändern sich aufgrund der individuellen Ausprägung
der Fehlbildung und sind abhängig vom Alter des Kindes und seiner motorischen, emotionalen
und kognitiven Entwicklung. Innerhalb dieser Zeit werden das Kind und dessen Umfeld
im Rahmen der LKG-Sprechstunde in regelmäßigen Abständen von einem Logopäden beobachtet,
der die Therapie mit dem externen behandelnden Logopäden koordiniert. Dabei nimmt
außer der logopädischen auch eine myofunktionelle Begleittherapie eine wichtige Rolle
in der Rehabilitation der Patienten ein.
Frühe sekundäre Operationen
Frühe sekundäre Operationen
Im Rahmen der sog. sekundären Operationen wird eine Optimierung der versorgten Spalte
vorgenommen. In Abhängigkeit vom Schweregrad der Spaltbildung können trotz sorgfältiger
und zeitgerecht durchgeführter Maßnahmen – wie NAM und chirurgische Primäreingriffe
– ästhetische Beeinträchtigungen und Funktionsstörungen zurückbleiben. Mit dem Ziel,
den Kindern einen normalen Schulalltag zu ermöglichen, können Korrekturen am Gaumen,
der Lippe und den Weichgeweben des Naseneingangs um das 5. Lebensjahr indiziert sein.
Nasen-/Lippenkorrektur
So liegt beispielsweise ein Therapieziel bei einer beidseitigen Lippenspalte in einer
Nasenstegverlängerung mit Anhebung und Verschmälerung der Nasenspitze. Es können aber
auch Naseneingangskorrekturen und Korrekturoperationen im Bereich der Lippe wie eine
Rekonturierung des Amorbogens, eine Narbenkorrektur oder die Korrektur eines Pfeiffenlochs
(vertikal zu kurzes Lippenrot) vonnöten sein.
Korrektur oronasaler Fisteln (Restlöcher)
Oronasale Fisteln am Gaumen stellen sich als persistierende, mit Epithel ausgekleidete
Verbindungen zwischen Mund- und Nasenhöhle dar. Sie können eine Ursache für einen
persistierenden Luftverlust über die Nase trotz funktionierendem Weichgaumen sein
und zu Sprechstörungen führen (Abb. [20]
c). Zudem kann es zu Rückfluss von Flüssigkeiten oder weichen Speisen wie Joghurt aus
der Nase kommen. Prädisponierend für ein solches Risiko können Wundspannungen, Wundinfektion,
mechanisches Trauma, aber vor allem eine sehr weite primäre Spalte [42] sein. Ein Verschluss solcher Fisteln ist unbedingt anzustreben, da sie unter Funktion
größer werden können. In der Regel geschieht dies mit enoralen Mukoperiostlappen (z. B.
Brückenlappen, Rotations- oder Transpositionslappen). Der Zeitpunkt hängt u. a. von
der Größe, den funktionellen Symptomen und noch anstehenden Operationen ab. Bestehen
Sprachschwierigkeiten, ist eine frühe Behandlung notwendig. Bestehen keine erkennbaren
funktionellen Einschränkungen, kann die Operation aufgeschoben und mit einem weiteren
Eingriff, zum Beispiel der
Kieferosteoplastik kombiniert werden
Sprechunterstützende Operation
Eine velopharyngeale Inkompetenz rührt von einem insuffizienten Verschluss des Weichgaumens an die Rachenhinterwand
(Abb. [20]
b). Sie führt zu einer Beeinträchtigung des Schluckaktes und einer inadäquaten Lautbildung.
Je nach Studienlage betrifft dies 10–30 % aller Spaltpatienten nach Gaumenverschluss
und kann aber auch bei jeder anderen anatomischen oder neuromuskulären Veränderung
des Gaumens oder Pharynx auftreten [43].
Merke: Durch die velopharyngeale Insuffizienz ist die Aussprache durch eine Hypernasalität
gekennzeichnet. Im Rahmen des Schluckaktes kann es zu einer Regurgitation der Speise
durch die Nase kommen.
Mittels auditiver Beurteilung des Kindes bei Vokalen und Plosiven (Abb. [20]), die Hauchspiegelprobe nach Czermak während des Sprechens oder die „A–I“-Sprechprobe
nach Gutzmann lässt sich bereits der nasale Durchschlag direkt ohne apparativen Aufwand
testen. Die Operationsindikation zu einer Velopharyngoplastik wird streng in Absprache mit dem behandelnden Logopäden und HNO-Arzt nach Nasopharyngoskopie mittels flexiblen Endoskops gestellt. Im Rahmen dieser dynamischen Untersuchungstechnik
wird die Verschlusskompetenz sowie der
Einfluss des Passavantʼschen Wulstes unter Sprechproben des Kindes analysiert. Erst
bei Vorliegen einer Restnasalität kombiniert mit einer eingeschränkten Verständlichkeit
nach Abschluss der logopädischen Behandlung wird unter Berücksichtigung des endoskopischen
Befunds die Indikation zu einer sprechunterstützenden Operation gestellt. Diese wird im 5.–6. Lebensjahr (vor der Einschulung) angestrebt [44].
Hierbei wird in der Regel ein Hautmuskellappen von der Rachenhinterwand, kranial gestielt,
an den Weichgaumen in der Mitte adaptiert, sodass eine permanente Verbindung zwischen
Rachenhinterwand und Weichgaumen resultiert (Operationstechnik nach Sanvenero Rosselli;
Abb. [21]). Für den nasalen Sekretabfluss und eine ausreichende Ventilation der Nase wird
lateral des Lappenstiels eine Passage von der Größe einer Magensonde belassen.
Abb. 21 Pharyngealer Lappen. Ein Lappen aus Mukosa und Muskel wird von der hinteren pharyngealen
Wand abgehoben und an den weichen Gaumen angenäht (nach Shprintzen RJ et al. Cleft
Palate J. 1979).
Merke: Der kranial gestielte Lappen kann bei der intraoralen Inspektion oft nur unter Zuhilfenahme
eines zahnärztlichen Spiegels beurteilt werden, da eine direkte enorale Sicht auf
den Lappen nicht möglich ist.
Bei allen Narkosen ist der Anästhesist darauf hinzuweisen, dass eine endonasale Intubation kontraindiziert ist bzw. das Risiko einer Lappenruptur impliziert. Ist eine endonasale Intubation unumgänglich, so kann in Seldinger-Technik nach vorsichtigem
erfolgreichen Einführen einer weichen flexiblen Sonde der Tubus über die Sonde transnasal
geführt werden.
Cave: Sofern eine Zahnbehandlung in Intubationsnarkose in der zahnärztlichen Praxis bei
einem Spaltpatienten mit Zustand nach Velopharyngoplastik durchgeführt wird, ist eine
endonasale Intubation durch den Anästhesisten unbedingt zu unterlassen oder entsprechend
zu modifizieren!
Kieferorthopädische Frühbehandlung
Kieferorthopädische Frühbehandlung
Die Patienten werden jährlich in der interdisziplinären LKG-Sprechstunde überwacht.
Eine Indikation für eine kieferorthopädische Frühbehandlung während der Milchgebissphase wird wie bei allen anderen Patienten zur Beseitigung von Zwangsbissen gestellt. Eine
transversale Erweiterung des Oberkiefers ist wegen der besonderen Anatomie (in der
Regel besteht der Gaumen in der Region des ehemaligen Defekts lediglich aus Weichgewebe)
sehr leicht durchzuführen, aber auch sehr rezidivträchtig.
Merke: Eine ausreichende Retention einer transversalen Erweiterung des Oberkiefers im Sinne
einer stabilen Milchzahnokklusion ist in den meisten Fällen wegen den abradierten
Kauflächen der Milchzähne nicht realisierbar.
Aus diesen Gründen versucht der Kieferorthopäde, Zwangsbisse durch Einschleifmaßnahmen zu beseitigen. Stabile Kreuzbisse ohne Zwangsführungen werden in diesem Alter häufig
belassen.
In der ersten Wechselgebissphase wird in den Fällen mit reduziertem maxillären Wachstum eine Protraktion des Oberkiefers
mit Gesichtsmasken durchgeführt. Sind moderate, dentoalveolär bedingte frontale Kreuzbisse
erkennbar (Abb. [22]), werden herausnehmbare Apparaturen mit Protrusionsfedern oder Teil-Multiband/Multibracket-Apparaturen
zur Frontzahnprotrusion eingesetzt.
Abb. 22 Überstellung einer umgekehrten Frontzahnstufe durch herausnehmbare Geräte bei einem
Patienten mit einseitiger Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalte an der linken Seite. a, b Vor der Behandlung. c, d Nach der Behandlung.
Seitliche Kreuzbisse werden im Sinne einer transversalen Erweiterung des Oberkiefers erst behandelt, wenn
eine ausreichende Stabilität durch die Verzahnung der bleibenden Dentition (mindestens
der ersten Molaren) möglich ist. Das spätere Knochentransplantat im Alveolarfortsatzbereich
wirkt als zusätzliche retentive Maßnahme, da es die Alveolarfortsatzsegmente knöchern
miteinander verbindet und stabilisiert. Deswegen sollte eine transversale Erweiterung
erst kurz vor der Knochentransplantation durchgeführt werden. Darüber hinaus wird
dadurch die Behandlungszeit kurz
gehalten, was bei Spaltpatienten besonders wichtig ist, da sie eine lange Krankengeschichte
haben. Eine fest zementierte Kunststoffschiene mit Transversalschraube, ähnlich einer geklebten Gaumennahterweiterungs-Apparatur, ist am besten geeignet,
da die Knochensegmente körperlich gefasst und parallel bewegt werden. Alternativ können
eine Quadhelix oder eine Dehnplatte erwogen werden, die jedoch zu Zahnkippungen nach lateral führen können. Bei allen
Apparaturen kann eine fächerförmige Dehnung (mehr anterior als posterior) durch entsprechende
Modifikation
(z. B. durch Einbau einer Spezialschraube) erfolgen. Die Apparatur muss kurz vor dem
operativen Eingriff für die Knochentransplantation entfernt werden, um den Zugang
zum Operationssitus zu ermöglichen.
Merke: Stellt sich heraus, dass der seitliche Schneidezahn gut ausgebildet, dessen Einordnung
sinnvoll und realistisch ist und der Knochendefekt ein Hindernis darstellt, kann eine
frühe Knochentransplantation zur Förderung des spontanen Durchbruchs bei ⅔ sichtbarer
Wurzellänge auf dem Röntgenbild (in der Regel mit 6–7 Jahren) erwogen werden.
Bei vielen Fällen ist jedoch die Einordnung des seitlichen Schneidezahnes nicht indiziert,
weil er extrem verlagert oder hypoplastisch ist. Er wird vor der späteren Osteoplastik
operativ entfernt.
Merke: In der Regel wird die Kieferspaltosteoplastik kurz vor Durchbruch der Eckzähne, d. h.
bei ⅔ sichtbarer Wurzellänge auf dem Röntgenbild, also mit ca. 10 Jahren, durchgeführt
(Abb. [23]).
Abb. 23 Oberkiefer eines Patienten mit bilateraler Lippen- und Kieferspalte. a, b Deutlicher Knochendefekt im Bereich des Alveolarkamms mit 52, 51, 21 und 62 in situ.
c Nach transversaler Erweiterung mittels einer Quadhelix, Kieferkammosteoplastik und
Entfernung der rudimentären seitlichen Schneidezähne sind die Eckzähne durch das Transplantat
in kaudal–mesiale Richtung durchgebrochen. d Im Anschluss wurde eine kieferorthopädische Mesialisierung durchgeführt.
Kieferspaltosteoplastik
Die Spalte im Bereich des Alveolarkamms bleibt im Rahmen unseres Konzepts etwa bis
zum 6.–10. Lebensjahr bestehen. Sie stellt sich als schmaler Defekt dar, ähnlich einer
Gingivaduplikatur, wobei der intraoral imponierende Knochendefekt deutlich kleiner
ist als der im Bereich der Nasenbasis.
Merke: Das knöcherne Lager definiert die Weichteilsituation der perinasalen Region.
Die knöcherne Spalte bedingt daher im Bereich der Nasenöffnung eine vermeintliche
Hypoplasie des kaudalen perinasalen Weichgewebes und ferner auch die Fehlpositionierung
der Spina nasalis anterior. Aus zahnärztlicher Sicht ist zudem eine prothetische Versorgung
mit Überbrückung des unversorgten Spaltbereichs oft insuffizient, ein kieferorthopädischer
Lückenschluss risikoreich und es drohen Parodontalerkrankungen.
Die Kieferspaltosteoplastik führt neben einem Verschluss des Knochendefekts zur Stabilisierung
des Kieferbogens, zum Erhalt des Parodontiums der spaltnahen Zähne und zur Unterfütterung
des Weichgewebes im Naseneingangsbereich und ermöglicht eine adäquate prothetische
Versorgung oder einen kieferorthopädischen Lückenschluss im Spaltbereich.
Die Kieferspaltosteoplastik wird erst nach ausreichender kieferorthopädischer transversaler
Erweiterung des Oberkiefers durchgeführt. Dadurch gewinnt man ausreichend Platz für
den chirurgischen Eingriff und die Erweiterung wird knöchern stabilisiert. Um ein
Rezidiv im Sinne einer Resorption des Knochentransplantats zu verhindern, wird der
Eingriff erst kurz vor Durchbruch des Eckzahns (oder in seltenen Fällen des seitlichen
Schneidezahns) mit autologem Knochen vom Beckenkamm durchgeführt (sog. sekundäre Kieferspaltosteoplastik).
Indikationen für eine Kieferspaltosteoplastik
-
Verschluss des Knochendefekts
-
Stabilisierung des Kieferbogens
-
Erleichterung des Durchbruchs der spaltnahen Zähne
-
Parodontalprophylaxe der spaltnahen Zähne
-
knöcherne Unterstützung des knorpeligen Nasengerüsts und des Weichgewebes im Naseneingangs-
und Lippenbereich
-
Ermöglichung einer adäquaten prothetischen Versorgung
-
kieferorthopädischer Lückenschluss im Spaltbereich
Eine Knochenaugmentation nach Durchbruch des Eckzahns wird vermieden, denn sie führt zu einer schlechteren
Prognose bezüglich der marginalen Knochenhöhe, ästhetischer und funktioneller Eigenschaften
des rekonstruierten Alveolarfortsatzes und Ausmaß der Wurzelresorption des Eckzahns
[45]. Der Misserfolg der Augmentation steigt sprunghaft mit zunehmendem Alter an [46].
Würde diese deutlich früher erfolgen – z. B. zum Zeitpunkt des Gaumenverschlusses
(sog. primäre Osteoplastik) – müsste als Augmentationsmaterial in der Regel Rippenknorpel (potenziell höhere
Spendermorbidität) verwendet werden und das maxilläre Wachstum wäre möglicherweise
nachhaltig beeinträchtigt [47]. Erst mit weit fortgeschrittenem maxillären Wachstum ist daher unseres Erachtens
ein Verschluss der Kieferspalte sinnvoll (mit 8 Jahren sind ca. 80 % des in anteriorer
und transversaler Richtung ausgerichteten Oberkieferwachstums abgeschlossen)
[48].
Goldstandard trotz zahlreicher Alternativen wie Knochen von der Kalotte bis hin zu synthetisch
hergestellten Knochenersatzmaterialien ist in Bonn der autologe Knochen vom Beckenkamm mit einer Erfolgsrate von über 95 % bei geringer Morbidität der Spenderregion [49]. Oft ist zur definitiven Versorgung im adoleszenten Alter, sofern ein Implantat
geplant ist, eine erneute kleinere Augmentation notwendig, um ein ausreichend dimensioniertes
Implantatbett zu schaffen. Diese OP wird nach Abschluss der kieferorthopädischen Therapie
so
terminiert, dass die Implantatinsertion 4–6 Monate nach der Augmentation erfolgen
kann.
Technisch muss die Schnittführung so gewählt werden, dass postoperativ ein speicheldichter Wundverschluss mit gut vaskularisiertem Mukoperiostlappen möglich ist. Durch einen palatinalen und
vestibulären Zahnfleischrandschnitt mit Verlängerung im Spaltbereich im Sinne eines
Kieferkammschnitts, mit anschließender zirkulärer Separierung des oralen vom nasalen
Blatt im Bereich des Fisteläquators, entstehen 4 orale Mukoperiostläppchen (Abb. [24]). Nach Präparation der nasalen Schleimhaut und Vereinigung der nasalen Schleimhautblätter
wird
Beckenkamm-Spongiosa in kleinen Blöcken nach einer Knochenanfrischung in die Spalte
eingelegt und abschließend die Wunde mit oder ohne Membran speicheldicht verschlossen.
Abb. 24 (a) Schnittführung im Rahmen einer Kieferspaltosteoplastik (b) mit konsekutiver Einlagerung von autologen Knochen sowie vestibulären und palatinalen
Schleimhautnähten (c) und abschließendem speicheldichten Wundverschluss [37].
Kieferorthopädische Hauptbehandlung
Kieferorthopädische Hauptbehandlung
Unmittelbar nach der sekundären Osteoplastik werden die Segmente einige Monate lang
mit kieferorthopädischen Apparaturen gegen einen transversalen Kollaps gehalten. Am besten ist eine fest zementierte Schiene dazu geeignet, da sie die Segmente
stabil hält, die Okklusionskräfte abfängt bzw. gleichmäßig verteilt und somit zu einer
bessseren knöchernen Ausheilung führt. Alternativ können eine passive Quadhelix, eine
herausnehmbare Platte oder ein Transpalatinalbogen diese Aufgabe übernehmen.
Der weitere Zahnwechsel wird überwacht und der Durchbruch der spaltnahen Zähne durch
das Knochentransplantat wird abgewartet. Bricht der Eckzahn nicht spontan durch und
kann eine Zahnretention röntgenologisch sichergestellt werden, wird eine chirurgische Freilegung mit Anschlingung durchgeführt.
Häufig ist der seitliche Schneidezahn hypoplastisch, dysplastisch, nicht angelegt,
doppelt angelegt oder sehr weit verlagert. In vielen Fällen beinhaltet die Planung
in Abhängigkeit vom Erhaltungszustand des seitlichen Schneidezahns und der vorliegenden
bzw. angestrebten Okklusion, dessen Entfernung vor der Kieferspaltosteoplatik und
den späteren kieferorthopädischen Lückenschluss durch Mesialisation der Eck- und Seitenzähne (Abb. [23] u. [25]). Ein evtl. vorhandener Engstand kann damit en passant beseitigt werden.
Darüber hinaus sind in einigen Fällen auch die Entfernung des kontralateralen, in
der gesunden Seite stehenden seitlichen Schneidezahns und der kieferorthopädische
Lückenschluss indiziert.
Abb. 25 Patient mit unilateraler Spalte und maxillärer Retrognathie vor und nach intraoraler
Distraktion in der Le-Fort-I-Ebene. a Zustand am Anfang. b Nach kieferorthopädischer Dekompensation (man beachte die Erhöhung des umgekehrten
Überbisses). c Zustand nach Distraktion mit TSMD, nach Abschluss der Therapie mit einer guten Lippenfülle
und den Eckzähnen anstelle der seitlichen Schneidezähne.
Zu einem frühen Zeitpunkt, bevor aufwendige kieferorthopädische Maßnahmen begonnen
werden, muss entschieden werden, ob ein stabiler horizontaler und vertikaler Überbiss alleine mit kieferorthopädischen Mitteln erreicht werden kann. Ist z. B. wider Erwarten
eine deutliche maxilläre iatrogene Hypoplasie durch Narbenbildung erkennbar, ist die
Prognose der Kompensation der Dysgnathie durch Zahnbewegungen ungünstig. Die Indikation
für einen kombinierten kieferorthopädisch-kieferchirurgischen Eingriff wird frühzeitig
gestellt und die Therapie bis zum Ende des Wachstums vertagt.
Ist eine kombinierte kieferorthopädisch-kieferchirurgische Therapie erforderlich,
ist die Aufgabe des Kieferorthopäden, die Dysgnathie im Sinne einer achsgerechten
Ausformung der Zahnbögen zu dekompensieren, wie bei jedem Fall von orthognather Chirurgie
(Abb. [25]).
Merke: In den meisten Fällen können die Patienten mit kieferorthopädischen Apparaturen ohne
orthognathe Chirurgie zu Ende behandelt werden. Alle Malokklusionen und Dysgnathien
können bei Spaltpatienten unabhängig von der Spaltbildung auftreten.
Die Zahnbögen werden dabei wie bei anderen kieferorthopädischen Patienten durch festsitzende
Apparaturen ausgeformt und der Overjet/Overbite normalisiert. Ist zu diesem Zeitpunkt
immer noch ein transversaler Kreuzbiss vorhanden, wird er in der Regel wegen ungünstiger
Prognose der Stabilität einer transversalen Erweiterung des Oberkiefers belassen.
Späte sekundäre Operationen
Späte sekundäre Operationen
Orthognathe Chirurgie
In einigen Fällen ist bei Spaltpatienten trotz intensiver kieferorthopädischer Therapie
aufgrund der skelettalen Verhältnisse ein kombiniert kieferorthopädisch-kieferchirurgisches
Vorgehen zur Einstellung einer regelrechten Okklusion indiziert. Hier gelten dieselben
Regeln wie bei Nichtspaltträgern für die Planung und die Durchführung chirurgisch-orthopädischer
Operationen, die typischerweise erst nach Abschluss des Längenwachstums indiziert
sind. Neben einer Aplasie/Hypoplasie des seitlichen Schneidezahns und einer Knochenresorption
der zuvor augmentierten Kieferspalte
findet sich oft eine Angle-Klasse III mit transversalem Oberkieferdefizit und Zahnengständen.
Merke: Bei Spaltpatienten sind in der orthognaten Chirurgie zusätzliche Aspekte zu berücksichtigen.
Muss ein maxilläres transversales Defizit bei Vorliegen eines bilateralen posterioren
Kreuzbisses chirurgisch korrigiert werden, kann eine chirurgisch unterstützte Gaumennahterweiterung (GNE) in klassischer Weise erfolgen. Häufig ist der Kreuzbiss aber nur unilateral.
In diesen Fällen hat sich eine nur einseitige Schwächung der Crista zygomatico-alveolaris mit Separation der pterygomaxillären
Verbindung in Kombination mit einer Fächerdehnschraube oder einem unidirektionalen
Distraktortyp bewährt.
Merke: Der Vorteil der chirurgisch unterstützten Gaumennahterweiterung im Vergleich zur
zweigeteilten Le-Fort-I-Osteotomie liegt in der Möglichkeit, gegen die Narben den
Gaumen ausreichend weit expandieren und die Rezidivgefahr verringern zu können.
Liegt ein Missverhältnis in der vertikalen und/oder sagittalen Relation vor, wird
dies mono- bzw. bignath korrigiert. In der Planungsphase für diese Operation muss
der gesamten komplexen Spaltproblematik Rechnung getragen werden. Hierbei können verschiedenste
Operationstechniken zum Einsatz kommen:
Cave: Bei der klassischen Le-Fort-I-Osteotomie ist zu beachten, dass der Hartgaumen bei
LKG-Patienten lediglich aus einer Narbenplatte besteht. Im Rahmen der „Downfracture“
gilt es, auf die evtl. fehlende Knochenbrücke im Spaltbereich zu achten. Eine maxilläre
Vorverlagerung birgt zudem das Risiko, die velopharyngeale Funktion zu beeinträchtigen.
Da orthognathe Eingriffe bei Spaltpatienten wegen des unelastischen Narbenzugs rezidivträchtiger
sind als bei Patienten ohne Spalten, muss erwogen werden, ob evtl. durch eine dezente
Unterkieferrückverlagerung (sofern ästhetisch wie funktionell sinnvoll) die Vorverlagerungsstrecke
des Oberkiefers reduziert werden kann oder bei ausgeprägteren maxillären Retrognathien
(> 10 mm) eine Vorverlagerung mittels Distraktion erfolgen soll [50]. Sofern es die Compliance der Patienten zulässt, können intraorale Distraktoren
wie der Transsinusoidale
Maxilläre Distraktor (TSMD; Abb. [25] u. [26]) nach vorheriger Computersimulation eingesetzt werden. Ist die Mittelgesichtsdistraktion
jedoch in der Le-Fort-II- oder -III-Ebene indiziert, erfolgt die Vorverlagerung über
einen externen Distraktor (Abb. [27]). Oft schließt sich einem solchen Eingriff trotz suffizienter Distraktion eine weitere,
abschließende Umstellungsosteotomie zum Erhalt eines guten funktionellen und ästhetischen Ergebnisses an.
Abb. 26 Stereolithografie-Modell mit transsinusoidalem maxillären Distraktor (TSMD). a Nicht distrahierter Zustand. b Distrahierter Zustand. Die Maxilla wird durch Aktivierung der Schraube des Distraktors
mit einer Extension, die im Vestibulum zu liegen kommt, vom Patienten aktiviert.
Abb. 27 Anwendung eines externen Distraktors (Halo-frame) bei einer syndromalen Spaltpatientin
in der Le-Fort-III-Ebene. Man beachte die Projektion des Jochbeins, der Nase und der
Lippe vor und nach dem Eingriff.
Nasenkorrekturen
Auf die definitive Rhinoplastik als Abschlussoperation bei erwachsenen Spaltpatienten kann hier nur skizzenhaft eingegangen werden. Für
die Chirurgie der Spaltnase kommen verschiedenste Techniken der Rhinoplastik und Septumchirurgie
zum Einsatz. Eine frühe Korrektur der kindlichen Nase ist durch zahlreiche Faktoren
stark eingeschränkt: Neben der chirurgischen Herausforderung von sehr diffizilen anatomischen
Strukturen der Säuglings-/Kleinkindnase muss die Tatsache Berücksichtigung finden,
dass die endgültige anatomische Projektion der Nase erst nach Abschluss des
Mittelgesichtswachstums definiert werden kann.
Hierbei muss in Betracht gezogen werden, dass sich die skelettale nasale Basis durch
eine eventuell später durchzuführende orthognathe Operation verändern kann. Sofern
somit ein solcher Eingriff aufgrund eines unzureichenden Mittelgesichtswachstums nicht
ausgeschlossen werden kann, sollte dies beim Timing der Nasenkorrektur beachtet werden.
Dies ist besonders wichtig, da die Vorhersagbarkeit des kosmetischen wie funktionellen
Ergebnisses einer Septorhinoplastik mit der Anzahl an Voroperationen drastisch sinkt.
Wenn dies mit den Eltern und dem jungen Patienten früh
kommuniziert wird, findet das Konzept von allen Beteiligten eine entsprechende Akzeptanz.
Allgemeinzahnärztliche Behandlung
Allgemeinzahnärztliche Behandlung
Patienten mit LKG-Spalten sind zahnärztliche Dauerpatienten.
Merke: Die einzelnen Therapeuten sollten im Auge behalten, dass die Patienten häufig parallel
zahlreiche Arzttermine wahrnehmen müssen. Je nach schon erzieltem Erfolg der Rehabilitation
haben die Patienten mehr oder weniger Probleme mit der Funktion und der Ästhetik,
die oft zu psychischen Problemen und einem gestörten Verhältnis zum Mundraum führen.
Die orale Prophylaxe mit intensiver Motivation ist in diesem Sinne in den Händen des Allgemeinzahnarztes
ein wichtiges Instrument zur Unterstützung der oralen Rehabilitation. Beim Spaltpatienten
gestaltet sich die Prophylaxe als sehr aufwendig, nicht nur wegen der psychischen
Komponente, sondern auch wegen des meist hohen Grades an Zahnfehlstellungen. Nicht
selten sind Zähne um 45 Grad und mehr rotiert oder auffällig verlagert oder teilretiniert.
Zudem wird in einigen Fällen das Zähneputzen durch straffe periorale Weichgewebe erschwert.
Eine intensive
Individualprophylaxe ist bei einem LKG-Patienten unabdingbar.
Unter parodontologischen Gesichtspunkten weisen die spaltnahen Zähne häufig Besonderheiten auf, auch wenn
die Therapie adäquat zu Ende durchgeführt worden ist:
-
Das Vestibulum ist aufgrund der Narben im operierten Bereich häufig flacher und der
Bereich der befestigten Gingiva verschmälert.
-
Die bewegliche Scheimhaut inseriert nicht selten in der Nähe der Schmelz-Zement-Grenze
und führt zu Rezessionen.
-
Parodontalchirurgische Maßnahmen, wie z. B. eine Bindegewebetransplantation, können
indiziert sein.
Auch konservierende und prothetische Maßnahmen sind bei Spaltpatienten gehäuft erforderlich. In vielen Fällen fehlt der
spaltnahe seitliche Schneidezahn oder wird aus diversen Gründen entfernt (z. B wegen
Hypoplasie, Dysplasie oder großer Verlagerung u. a.). Grundsätzlich versucht der Kieferorthopäde
die Lücke durch Mesialisierung der restlichen Dentition zu schließen. In diesem Fall
wird vom betreuenden Zahnarzt der Eckzahn zu einem seitlichen Schneidezahn umgeformt,
z. B. durch Schmelzplastik und Kunststoffaufbauten oder Veneers. Nicht selten ist
eine Indikation
zur Umformung der Nachbarzähne oder gar der ganzen Front gegeben, insbesondere wenn
der Patient einen hohen ästhetischen Anspruch hat. Kann oder soll die Frontzahnlücke
nicht kieferorthopädisch geschlossen werden, wird sie prothetisch versorgt, z. B.
durch eine implantatgetragene Krone oder eine Brücke.
Patienten, die nicht im Rahmen eines modernen interdisziplinären Behandlungskonzepts
adäquat versorgt worden sind, bringen diverse Problematiken mit sich. Nicht selten
stellen sich erwachsene Patienten vor, die im Bereich des Alveolarfortsatzes noch
einen Spaltdefekt haben. Eine adäquate festsitzende prothetische Versorgung kann nur
durchgeführt werden, wenn der Alveolarfortsatzdefekt im Rahmen einer Kieferspaltosteoplastik
versorgt und die Kiefersegmente immobilisiert worden sind. Ist eine Restmobilität
vorhanden, wird eine Brückenkonstruktion nicht halten. Auch
implantatgetragene Kronen sind im Knochendefekt nicht möglich. In solchen Fällen bedarf
es einer (Re-)Kieferspaltosteoplastik, die die Voraussetzungen für eine prothetische
Versorgung schafft. Alternativ besteht die Möglichkeit einer herausnehmbaren prothetischen
Versorgung, kombiniert mit zusätzlicher Verankerung durch Implantate.
Merke: Ist eine Mobilität zwischen den gespaltenen Alveolarfortsatzsegmenten festzustellen,
kann eine festsitzende Versorgung in der Regel nicht erfolgen!
Bei einem hypoplastischen oberen Zahnbogen, der bei ausgeprägter Narbenbildung im
Bereich des operierten Gaumens oder der operierten Lippe auftreten kann, sind häufig
ausgeprägte (zirkuläre) Kreuzbisse zu sehen. Wenn eine Umstellungsosteotomie zur kausalen
Therapie nicht möglich oder erwünscht ist, bleiben diese Fälle prothetisch problematisch:
Insbesondere im Rahmen der Totalprothetik können die Zähne nicht achsgerecht auf dem Kieferkamm aufgestellt werden. Die Statik solcher Prothesen kann durch Implantate erhöht werden. Die Konsistenz der Gaumenschleimhaut
ist
bei Gaumenspaltpatienten zudem häufig atypisch (z. B. dünner) und weist eine abweichende
Resilienz auf. Auch in diesem Fall kann eine Implantatverankerung die Statik einer
Totalprothese verbessern.
Danksagung
Unser großer Dank gilt Herrn Professor Dr. Dr. R. H. Reich, der die interdisziplinäre
Sprechstunde an unserer Klinik etablierte, für seine Unterrichtung und Unterstützung
zum Erlernen vorgenannter Operationstechniken. Herrn Prof. Dr. B. Braumann danken
wir für die Einführung der passiven Gaumenplatte in das Konzept und die Weitergabe
seines Wissens und Erfahrung an seinen Nachfolger. Herrn Prof. Dr. A. Jäger danken
wir für die Unterstützung bei der Weiterentwicklung des kieferorthopädischen Konzepts
und der Einführung des „Nasoalveolar Molding“. Ebenso möchten wir Herrn Mark
Wedel für die kompetente Unterstützung in unserem Team von logopädischer Seite Danke
sagen.