physiopraxis 2014; 12(01): 18-19
DOI: 10.1055/s-0034-1364233
physiowissenschaft
© Georg Thieme Verlag Stuttgart - New York

Versorgung in Zahlen

Quantitative Versorgungsforschung
Eva Trompetter

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Publication Date:
10 January 2014 (online)

 

In Deutschland erhält ein Viertel der Patientinnen mit Armlymphödem keine Lymphdrainage. Lediglich der Hälfte aller Menschen mit Fibromyalgie verordnen Ärzte aktive Maßnahmen. Und nur etwa drei Prozent aller Frauen mit Harninkontinenz bekommt überhaupt Physiotherapie. All diese Fakten wären nicht bekannt, gäbe es keine quantitative Versorgungsforschung.


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Eva Trompetter

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Eva Trompetter ist Physiotherapeutin, hat Public Health studiert und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der FH Bielefeld. Zudem schreibt sie regelmäßig für physiopraxis.

Das deutsche Gesundheitssystem gilt als eines der besten der Welt. Dennoch ist nicht jeder Deutsche optimal versorgt. So erhält beispielsweise lediglich ein Viertel der bei der BARMER GEK versicherten Patientinnen mit sekundärem Armlymphödem eine Kombination aus Kompressionsbehandlung und Lymphdrainage – obwohl diese auf der Basis bestehender wissenschaftlicher Erkenntnisse zu empfehlen ist. Weitere 26 % der betroffenen Frauen bekommen nicht einmal eine der beiden Maßnahmen [1, 2]. Derartige Versorgungslücken aufzudecken ist eines der Ziele von Versorgungsforschung. Dabei unterscheidet man zwei Forschungsansätze: Mit qualitativer Versorgungsforschung lassen sich subjektive Sichtweisen von Patienten und Akteuren erfassen – etwa mittels Interviews – und darüber Lücken in der Gesundheitsversorgung aufdecken (physiopraxis 11–12/13, S. 22, „Qualitative Versorgungsforschung“). Quantitative Versorgungsforschung hingegen deckt Lücken und Unterschiede in der Versorgung durch konkrete Zahlen auf. Sie erfasst zum Beispiel regionale Besonderheiten der Gesundheitsversorgung oder untersucht, welchen Einfluss soziodemografische Merkmale (zum Beispiel Alter und Geschlecht) auf die Inanspruchnahme von Leistungen haben.

Um diese Ziele zu erreichen, haben Versorgungsforscher ein breites Spektrum an Möglichkeiten. Sie können unter anderem eigene Daten auswerten, die sie beispielsweise an Hand von Fragebögen erheben, oder sie analysieren sogenannte Routinedaten, zu denen Daten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Daten) oder Datensätze aus der Rehabilitations- und Pflegestatistik gehören [3].

Versorgungsforscher ermitteln auch, wie wirksam bestimmte Therapien unter Alltagsbedingungen sind.

Routinedaten auswerten

Die Routinedaten der GKV umfassen Zahlen zur ambulanten und stationären Versorgung, zur Arbeitsunfähigkeit und zur Arznei-, Heil- und Hilfsmittelversorgung [3]. In erster Linie dienen sie der GKV zur Abrechnung von Leistungen mit den Leistungserbringern. Doch sie helfen auch Versorgungsforschern. Diese können damit unter anderem analysieren, wer mit welchen Leistungen versorgt wurde. So ist es möglich, Aussagen dazu zu treffen, welche Patienten mit welcher Erkrankung welche Maßnahmen in Anspruch nehmen [4].


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Krankenkassen unterstützen Versorgungsforschung

Heil- und Hilfsmittel sind in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus von Versorgungsanalysen geraten. Denn die Ausgaben dafür stiegen im Verhältnis deutlich stärker als in anderen Bereichen: zwischen 2007 und 2012 um 26,7 % bei den Heilmitteln und um 17 % bei den Hilfsmitteln [4, 5]. Damit sie die Verordnungs- und Ausgabenentwicklung für Heilmittel verfolgen können, haben die Spitzenverbände der GKV ein Heilmittel-Informations-System (HIS) aufgebaut [4, 6].

Auch einzelne Krankenkassen fördern wissenschaftliche Analysen ihrer Daten, im Bereich der Heil- und Hilfsmittel etwa die BARMER GEK. Die Ergebnisse der Versorgungsforscher werden im jährlich erscheinenden BARMER GEK Heil- und Hilfsmittelreport publiziert. Hinsichtlich der Versorgung mit Heilmitteln können die Autoren allerdings nur Aussagen darüber treffen, welche Maßnahmen Ärzte auswählen. Ob ein Physiotherapeut beispielsweise weitere Therapiemethoden in die Behandlung hat einfließen lassen, bleibt unklar. Zudem ist es oftmals schwierig, Diagnose und Verordnung in einen Zusammenhang zu bringen – unter anderem dann, wenn Folgeverordnungen ohne direkten Arztkontakt erfolgen oder ein Patient mehrere Diagnosen hat [2].

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Wirksame Therapiemethoden zu selten verordnet

Die Versorgungsforscher analysieren für den BARMER GEK Heil- und Hilfsmittelreport nicht nur Abrechnungsdaten und Diagnosen, sondern ermitteln auch die Datenlage zur Wirksamkeit der Therapiemethoden. Dadurch fanden sie in den letzten Jahren heraus, dass es Methoden gibt, die trotz gesicherter oder vielversprechender Evidenz bei Verordnungen teilweise nicht genügend berücksichtigt werden [5]. Leidtragende waren unter anderem Patienten der BARMER GEK mit Fibromyalgiesyndrom, sekundärem Armlymphödem nach Brustkrebsoperationen, Harninkontinenz oder Arthrose.

Interdisziplinäre Behandlung von Versicherten mit COPD

(Chronisch-obstruktive Lungenerkrankung) in der BARMER GEK im Jahr 2011

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Ergebnisse der Versorgungsforschung: Obwohl Leitlinien bei Patienten mit COPD aktivierende Maßnahmen aus der Physiotherapie, etwa Ausdauer- und Krafttraining, empfehlen, erhalten laut Barmer GEK Heil- und Hilfsmittelreport lediglich 32,8 % der Patienten eine entsprechende Verordnung.


BARMER GEK Heil- und Hilfsmittelreport; 2013

Einige Ergebnisse: Beim Fibromyalgiesyndrom empfehlen Leitlinien vor allem aktive Maßnahmen wie Kraft- und Ausdauertraining. Im Versorgungsalltag allerdings umfassen nur 41,6 % der verordneten Heilmittel solche Maßnahmen [7]. Bei Harninkontinenz ist die erste Versorgungsoption laut Leitlinie eine konservative Therapie. In Deutschland erhalten die Patientinnen aber in der Regel entweder gar keine Therapie oder Ärzte wählen kostenintensive Diagnoseverfahren und Therapieoptionen. Bei der BARMER GEK bekamen nur 3 % der versicherten Patientinnen eine Verordnung für Physiotherapie. Bei Menschen mit Arthrose bestehen Physiotherapie-Verordnungen zur Hälfte aus passiven Maßnahmen. Diese können allerdings nur eingeschränkt dazu beitragen, dass sich Selbstwirksamkeit und Gesundheitszustand nachhaltig verbessern [8]. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse haben sich die Autoren der Reporte dafür ausgesprochen, dass die Verordnungen dringend an den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand angepasst werden müssen [9] – eine Chance für Physiotherapeuten, ihren Patienten zukünftig so zu therapieren, wie es die aktuelle Evidenz empfiehlt.

Übrigens: Die Gründe für diese Ergebnisse kann qualitative Versorgungsforschung ans Licht bringen. Die Forscher können beispielsweise Interviews mit Ärzten führen und sie darin zu ihrem Verordnungsverhalten befragen. Möglich wäre auch, die Patienten zu interviewen. Denn vielleicht bitten die von Arthrose oder dem Fibromyalgiesyndrom Betroffenen teilweise selbst um die Verordnung passiver Maßnahmen, da sie ihnen subjektiv Linderung verschaffen beziehungsweise ihr Wohlbefinden fördern.

Worin auch immer das Verordnungsverhalten der Ärzte begründet ist – die Analysen von Heil- und Hilfsmittelverordnungen machen unter anderem deutlich, dass evidenzbasierte Therapieansätze nicht automatisch ihren Weg in den Versorgungsalltag finden. Damit unterstreichen sie die große Bedeutung der Versorgungsforschung als Mittler zwischen klinischer Forschung und Versorgungsalltag. Und sie eröffnen vielfältige Forschungsmöglichkeiten für die Absolventen gesundheitsbezogener Studiengänge.


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