Der Klinikarzt 2014; 43(1): 3
DOI: 10.1055/s-0034-1370751
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Ist Gerechtigkeit fair?

Günther J Wiedemann
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Publication Date:
05 February 2014 (online)

„If in doubt, do the right thing”.

(Mark Twain, 1835–1910)

Warum beschäftigen sogenannte Transplantationsskandale so stark die Öffentlichkeit? Hier interessiert weniger das mögliche Fehlverhalten einzelner Ärzte. Häufig ist es auch zu kurz gedacht, vorwiegend auf die ökonomischen Hintergründe ärztlicher Entscheidungen zu fokussieren. Vielmehr ist eine sehr grundlegende Frage berührt: Was ist gerecht? Erhalten die richtigen Patienten ein Organ? Es geht also um das Thema Verteilungsgerechtigkeit in der Medizin, das in Zeiten knapper Ressourcen, seien es nun Geld oder Organe, jede therapeutische Entscheidung beeinflusst.

Wir glauben eine Art inneren Kompass für Gewissensentscheidungen zu haben, der uns sagt, was gerecht ist. Da liegt es nahe, Entscheidungen von Kollegen zu verurteilen, die offenbar einem anderen Kompass folgen. Was uns selten bewusst ist: es gibt unter philosophisch-ethischen Gesichtspunkten verschiedene Definitionen von Gerechtigkeit. Ein mehrheitlich gefundener Konsens von Fachgesellschaften, der einem (willkürlich gewählten?) Gerechtigkeitsmodell folgt, erlangt quasi gesetzlichen Status, obwohl auch andere Denkmodelle vorstellbar und plausibel wären. Wenn Leitlinien beispielsweise ein Effizienzmodell von Gerechtigkeit zugrunde legen, ein Arzt aber einem Gleichheitsmodell folgt, sind Gewissenskonflikte unausweichlich.

Es gibt also mehrere Modelle von Verteilungsgerechtigkeit. Nach dem Gleichheitsmodell (Egalitarismus) ist Gleichverteilung der Schlüssel zur Gerechtigkeit. Im Falle der Transplantationsmedizin würde dies bedeuten, dass jeder dialysepflichtige Patient den gleichen Rang auf einer Transplantationsliste einnehmen müsste. Ein 85-Jähriger hätte das gleiche Recht auf ein Organ wie ein 20-Jähriger, ein Patient mit Begleiterkrankungen dürfte gegenüber einem ansonsten gesunden Leidensgenossen nicht benachteiligt werden.

Medizinischen Leitlinien, und auch den Kriterien für die Transplantationsfähigkeit, liegt dagegen überwiegend ein Effizienzmodell von Gerechtigkeit zugrunde. Es geht um Ressourcenschonung im gesamtgesellschaftlichen Kontext, um ein adäquates Verhältnis von Kosten und Nutzen, also beispielsweise um die Erfolgsaussichten einer Transplantation nach medizinischen Kriterien. Wem hilft ein Organ am meisten? Diese vermeintlich einfache Fragestellung ist allerdings nicht einmal ausreichend durch Evidenz aus Studien untermauert. Und wird die Effizienz nach medizinischen oder sozialen Kriterien beurteilt? Ist es mehr wert, wenn ein alleinstehender 60-jähriger Mann 10 Jahre lang ein funktionierendes Transplantat hat? Oder wenn eine 30-jährige alleinerziehende Mutter mit schwerer Komorbidität dank eines Transplantats wenigstens 5 Jahre lang die Versorgung ihrer Kinder bewältigen kann?

Weitere Kriterien für Gerechtigkeit sind denkbar. Nach dem Freiheitsmodell (Liberalismus) wird Gerechtigkeit durch ein Höchstmaß an Wahlfreiheit erreicht. Danach könnte beispielsweise jeder Mensch frei entscheiden, ob er eine Zusatzversicherung abschließt, die die Kosten für Organtransplantationen einschließt. Wer sich gegen eine solche Versicherung entschieden hätte, hätte keinen Anspruch, auf eine Transplantations-Warteliste aufgenommen zu werden. Im Kontext der Transplantationsmedizin wirkt dieser Denkansatz geradezu menschenverachtend – doch in anderen Bereichen der Medizin und des täglichen Lebens ist das Versichern individueller Risiken schließlich schon lange gang und gäbe.

Das Fairnessmodell gesteht dem bedürftigsten Patienten vorrangig das Recht auf Behandlung zu. Es impliziert, dass man den Gedanken der Effizienz verlässt, die Erfolgsaussichten einer Transplantation also weniger Bedeutung haben als der schlechte Ist-Zustand des Kranken. Mehr noch: das Fairness-Modell steht im Widerspruch zu den anderen bisher genannten Modellen, denn es widerspricht neben dem Effizienz- auch noch dem Freiheits- und dem Gleichheitsmodell. Im Umkehrschluss lässt sich also feststellen: die in unserem ökonomisierten Gesundheitssystem normalerweise zugrunde gelegten Kriterien für Verteilungsgerechtigkeit mögen effizient oder liberal sein, fair sind sie nicht.