Hebamme 2014; 27(3): 152-153
DOI: 10.1055/s-0034-1373889
Editorial
Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG Stuttgart

Die zwei Seiten einer Medaille

Christine Allgeier
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Publication Date:
18 September 2014 (online)

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Sehr geehrte Leserinnen, sehr geehrte Leser,

diskussionswürdig bedeutet, etwas ist es wert, diskutiert zu werden. Der Wert einer geburtshilflichen Intervention ist selbstverständlich ihr Nutzen für Mutter und Kind. Doch es ist nicht nur ihr Wert, sondern auch die andere Seite der Medaille, ihr Schadenspotential, weshalb Interventionen regelmäßig auf den Prüfstand müssen. So gesehen sind insbesondere die geburtshilflichen Interventionen diskussionswürdig, bei denen die Vorteile die Nachteile nicht deutlich überwiegen.

In der Gesundheitsökonomie verwendet man den Begriff „Kosten“ für diese andere Seite der Medaille und hierzu zählen auch immaterielle Aspekte, die nicht mit Geld zu beziffernd sind, wie Angst, Schmerz, Unwohlsein, Stress. Sehr viele geburtshilfliche Interventionen sind mit solchen immateriellen Kosten verbunden. In der Geburtshilfe könnte man außerdem überlegen, ob auch der Verlust an leiblich-sinnlicher Erfahrung als solche zu beziffern sind – wir müssten lediglich die Frauen nach ihren Erfahrungen fragen. Die Erforschung der Erfahrungen der Frauen ist für eine differenzierte Betrachtung von geburtshilflichen Interventionen dringend notwendig. Wer, wenn nicht wir Hebammen, sollte sich stärker für sie interessieren?

Man muss in einer aufrichtigen Diskussion über Interventionen immer auch ihre Alternativen berücksichtigen, wobei eine Alternative immer das Bleiben-lassen ist. Im Diakoniekrankenhaus in Freiburg hat man sich – aus gesundheitsökonomischer Sicht – folgende interessante Frage gestellt: „Was kostet das Nichtstun?“ Die „Kosten“ wurden mittels Komplikations- und Verlegungsraten ermittelt, das „Nichtstun“ waren niedrigere Interventionsraten im Vergleich zu anderen Kliniken. Die Autorinnen beschreiben sehr anschaulich, dass es selbstverständlich kein Nichtstun ist, sondern das Bemühen um geschützte Geburtsräume, eine respektvolle Begleitung, regelmäßige Teambesprechungen, Selbstreflexion.

Präventive Interventionen, die mögliche Gesundheitsprobleme verhindern sollen, bevor sie in Erscheinung treten, wie die Geburtseinleitung bei Terminüberschreitung, muss man „mit der Gießkanne“ bei allen bzw. sehr vielen Frauen und Kindern anwenden, damit man die wenigen Betroffenen „treffen“ kann. Im Einzelfall weiß man leider nicht, bei welcher Frau bzw. bei welchem Kind das Problem eintreten wird. Man weiß auch nicht sicher, ob das Problem im Einzelfall verhindert werden kann und man weiß nicht, wer von den unerwünschten Wirkungen betroffen sein wird. Die Autorin macht deutlich, wie wichtig die Beratung von Frauen und ihren Angehörigen vor der Entscheidung für oder gegen die Geburtseinleitung ist, auch weil statistische Zusammenhänge und der individuelle Fall nicht dasselbe sind. Die frustrane Geburtseinleitung zeigt außerdem deutlich, dass man die Unwirksamkeit einer Intervention zu ihrem Schadenspotential zählen kann. Sie ist für die Frauen oft mit enttäuschten Erwartungen, mit Selbstzweifel, mit Stress, mit Erschöpfung verbunden.

Forschungsergebnisse sprechen niemals für sich, sondern müssen interpretiert werden – im Zusammenhang mit anderen Studien, mit dem Forschungsvorgehen und – das wird oft vergessen – mit der Alltagspraxis. Der Höhenstand des Köpfchens ist ein wichtiger Aspekt vor der Entscheidung für oder gegen eine vaginal-operativen Geburt. Die Sonografie ist hierfür offenbar ein zuverlässiges und valides Instrument, aber im klinischen Alltag – und auf den kommt es an – bringt ihre zusätzliche Anwendung keinen zusätzlichen Nutzen, also keine Reduktion von fehlgeschlagenen vaginal-operativen Geburten. Ich kenne zwar keine Forschungsergebnisse, aber ich vermute stark, dass viele Frauen den transvaginalen Ultraschall als unangenehm und schambehaftet erleben. Hinzu kommt, dass Frauen in einer geburtshilflichen Situation, in der es um die Erfolgsprognose einer vaginal-operativen Geburt geht, Stress und Angst erleben. Um die Sonografie vor diesem Hintergrund als zusätzliche Routinediagnostik einzuführen, braucht man schon sehr überzeugende Argumente, die laut den Autoren des Artikels bislang fehlen.

Zum guten Stil in Diskussionen gehört es, die eigenen Argumente sachlich darzulegen. Dies ist allen Autorinnen und Autoren sehr gut gelungen. Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen und beim Fortführen der Diskussionen. Und denken Sie dran: die zwei Seiten einer Medaille sind leider untrennbar.