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DOI: 10.1055/s-0034-1376281
Peergeleitete Intervention gegen die Stigmatisierungen psychisch erkrankter Menschen
Publication History
Publication Date:
21 May 2014 (online)

Für Sie gelesen: aktuelle Studien
Russinova Z, Rogers S, Gayne C, Bloch P, Drake K, Mueser K. A Randomized Controlled Trial of a Peer-Run Antistigma Photovoice Intervention. Psychiatric Services [in Advance]
Peergeleitete Intervention gegen die Stigmatisierungen psychisch erkrankter Menschen
Fragestellung: Wie effektiv ist die betroffenengeleitete, fotogestützte Intervention „Antistigma Photovoice“ in Bezug auf Selbststigmatisierungen und die Förderung von Copingstrategien gegen öffentliche Stigmatisierungen?
Hintergrund: Die Stigmatisierung psychisch erkrankter Menschen und der Psychiatrie ist weiterhin ein zentrales Thema. Schomerus und Angermeyer [1] konnten zwar eine leichte Imageverbesserung der Psychiatrie zeigen, stellten aber fest, dass die erkrankten Menschen weiterhin von Stigmata betroffen sind, diesbezüglich Handlungsbedarf besteht und Antistigma-Kampagnen benötigt werden.
Hypothese und Methoden: Die vorliegende randomisiert-kontrollierte Studie zeigt die Effektivität der peergeleiteten Antistigma-Intervention „Antistigma Photovoice“. Das Programm soll eine Verbindung aus psychoedukativen Elementen über Stigmatisierungen, fotografischen Elementen und Übungen darstellen.
Die Intervention ist eine zehnwöchige Schulung, in der die Teilnehmer Gegenstände oder Erlebnisse, die ihnen in ihrem täglichen Leben Sorgen bereiten, fotografieren, Erzählungen generieren und in der Schulungsgruppe diskutieren. Abschließend soll je ein Bild mit einer zugehörigen Erzählung ausgewählt werden, dass mit der Bewältigung von Stigma (Glossar) in Verbindung steht.
Die Hypothese war es, dass Menschen, die das Antistigma-Photovoice-Programm durchlaufen, bessere Bewältigungsstrategien im Umgang mit Stigmata und einen Rückgang der Selbststigmatisierungen zeigen. Des Weiteren nahmen die Autoren an, dass die Veränderungen eine Steigerung von Empowerment (Glossar), Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit (Glossar) bewirken, Recovery wahrnehmbar machen und zu einer Symptomreduktion führen.
Hierzu wurden im Zentrum für psychiatrische Rehabilitation der Universität Boston 82 Individuen mit schweren psychischen Erkrankungen in eine Interventions- und Kontrollgruppe randomisiert. Die Interventionsgruppe erhielt eine zehnwöchige Schulung mit je 90-minütigen Sitzungen, die von Peers (Glossar) in sieben vorausgegangenen Schulungsverläufen entwickelt, verfeinert und standardisiert wurde.
Für die Auswertung wurden insgesamt sechs unterschiedliche Messinstrumente genutzt. Die Personal Growth and Recovery Scale (PGRS) (Glossar) wurde speziell für die Evaluation durch die Untersucher entwickelt. Als Auswertungsstrategie und Messzeitpunkte (Glossar) wurden eine Baseline-, eine Postinterventions- und eine Drei-Monats-Follow-up-Messung festgelegt und durchgeführt.
Ergebnisse: Insgesamt konnten im Zeitraum von 2009 bis 2011 in vier Phasen 82 Personen in die Untersuchung eingeschlossen und per Randomisierung einer der beiden Gruppen, der Interventions- oder der Kontrollgruppe, zugeteilt werden. Von diesen schlossen 75 Personen die Postinterventionsmessung und 78 Personen die Drei-Monats-Follow-up-Messung ab. Die Untersucher führten eine Intention-to-treat-Analyse (Glossar) durch.
30 Personen der Interventionsgruppe nahmen an sechs oder mehr Gruppensitzungen teil. Im Vergleich zur Kontrollgruppe berichteten die Teilnehmenden, dass sie einen signifikanten Rückgang in dem persönlichen Stigmatisierungswert erlebten. Daneben beschrieben die Teilnehmenden in den Ergebnissen der Empowerment-Skala eine signifikante Erhöhung ihres aktiven Gemeinschaftssinns. Die Auswertung der PGRS ergab höhere Werte der Teilnehmenden in den Bereichen erlebtes Recovery und Wachstum. Keine Unterschiede gab es in den Bereichen Depression und Selbstwirksamkeit sowie in anderen Unterskalen zum Erleben und zum Umgang mit persönlicher Stigmatisierung und Messung von Empowerment.
Diskussion: Eine Teilnahme an dem Programm „Antistigma Photovoice“ steht in Verbindung mit einer signifikanten Reduzierung von erlebter Selbststigmatisierung, einer Erhöhung sowohl der proaktiven Bewältigungsstrategien im Umgang mit Stigmatisierung durch Andere als auch eines aktiven Gemeinschaftssinns. Daneben berichteten die Teilnehmenden von stärkeren Verbesserungen in den Bereichen Recovery und Wachstum während und nach der Teilnahme am Programm im Vergleich zur Kontrollgruppe.
Dabei unterscheidet sich das Antistigma-Photovoice-Programm von anderen Programmen dadurch, dass es durch Peers geleitet wird und der Fokus auf der Reduzierung von Selbststigmatisierung und der Förderung von proaktiven Bewältigungsstrategien liegt. Teilnehmende der Interventionsgruppe schienen eher in der Lage zu sein, gegenüber Menschen mit voreingenommenen Einstellungen über ihr Erleben von Stigmatisierung zu berichten und dies als Herausforderung zu betrachten.
Die Autoren gelangen zu der Schlussfolgerung, dass persönliche Erklärungen im Hinblick auf das individuelle Erleben von Stigmatisierung durch die Photovoice-Methode, in Kombination mit psychoedukativen Elementen, zu robusteren Veränderungen im Hinblick auf die Fähigkeiten der Teilnehmenden führen kann, mit stigmatisierenden sozialen Situationen umzugehen.
Als Limitationen ihrer Studie benennen die Autoren, dass die Teilnehmenden nicht aus gemeindenahen Versorgungsangeboten rekrutiert wurden. Allerdings erhielten die meisten psychiatrische Gesundheitsleistungen in der Gemeinde. Außerdem wurden die Daten mit Hilfe von Selbstbewertungsinstrumenten gewonnen. Dadurch, dass Personen nicht aufgrund ihrer Diagnose ein- oder ausgeschlossen wurden, besteht ein breites Spektrum psychiatrischer Diagnosen. Zusätzlich kann die geringe Teilnehmerzahl und damit niedrige Power (Glossar) der Untersuchung von 82 Personen, von denen 40 randomisiert der Interventionsgruppe zugeteilt wurden, aufgrund der geringen Aussagekraft als Limitation gesehen werden.
Die angewendete, selbstentwickelte PGRS, die die größten Veränderungen aufzeigte, befand sich zum Zeitpunkt der Durchführung der Untersuchung noch in einem frühen Stadium der psychometrischen Testung. Schließlich konnten Teilnehmende der Kontrollgruppe nicht an anderen angebotenen recoveryorientierten Programmen in dem Zentrum teilnehmen, da diese zu einer Reduzierung der Auswirkungen des Photovoice-Programms hätten führen können.
Schlussfolgerungen: Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Photovoice-Programm eine vielversprechende, von Peers geleitete Intervention darstellt, welche die Selbststigmatisierung der Betroffenen reduzieren und Personen mit psychischen Erkrankungen in ihrem Empowerment unterstützen kann. Mit Hilfe der Intervention können Betroffene ihnen gegenüber geäußerten oder vorhandenen Vorurteilen und erlebten Diskriminierungen proaktiv begegnen.
Eine Ausweitung der Untersuchung auch auf andere Versorgungsbereiche und Personengruppen ist wünschenswert und erforderlich, um die gefundenen Ergebnisse zu bestätigen. Damit kommt die Antistigma-Photovoice-Intervention der eingangs genannten Forderung von Schomerus und Angermeyer [1] nach. Neben der weiterhin notwendigen Öffentlichkeitsarbeit in den unterschiedlichen Bereichen stellt das Photovoice-Programm eine konkrete Handlungsempfehlung für die Praxis zum Umgang mit dem leider immer noch sehr weit verbreiteten Thema der Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen in unserer Gesellschaft dar.
Regine Groß , André Nienaber
Stigma: „Ein physisches, psychisches oder soziales Merkmal, durch das sich eine Person von den übrigen Mitgliedern einer Gesellschaft oder Gruppe, der sie angehört, negativ unterscheidet und das sie von vollständiger sozialer Anerkennung ausschließt.“[2]
Empowerment: Selbstbefähigung.
Selbstwirksamkeit: „[Self-efficacy] ist die Überzeugung, daß (sic) man in einer bestimmten Situation die angemessene Leistung erbringen kann. Dieses Gefühl einer Person bezüglich ihrer Fähigkeiten beeinflusst ihre Wahrnehmung, ihre Motivation und ihre Leistung auf vielerlei Weise.“ [3]
Peer (engl.): Gleichgestellter; Menschen, die selbst psychische Krisen erfahren oder das psychiatrische Versorgungssystem genutzt haben, unterstützen andere Betroffene.
Personal Growth and Recovery Scale (PGRS): Ein für die Untersuchung entwickeltes Instrument zur Erfassung der Wirksamkeit der Intervention im Hinblick auf die Bereiche Recovery und Wachstum.
Messzeitpunkte: Zeitpunkte, an denen die verschiedenen Fragebögen ausgefüllt werden: Baseline = zu Beginn der Untersuchung, Postintervention = nach Durchführung der Intervention, Drei-Monats-Follow-up = drei Monate nach Abschluss der Untersuchung.
Intention-to-treat-Analyse: Alle in die Studie eingeschlossenen und randomisierten Teilnehmenden werden in der Gruppe ausgewertet, der sie anfangs per Randomisierung zugeteilt wurden, unabhängig davon, ob sie die Gruppe gewechselt oder die Studie abgebrochen haben[4].
Power: statistische Trennschärfe; mit wachsendem Stichprobenumfang vergrößert sich die statistische Trennschärfe, sodass man in einer guten Studie im Voraus mit einer Berechnung der Power berechnet, wie viele Teilnehmer benötigt werden, um einen aussagekräftigen Effekt überhaupt nachweisen zu können [4].
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Literatur
- 1 Schomerus G, Angermeyer MC. Psychiatrie – endlich entstigmatisiert? Einstellungen der Öffentlichkeit zur psychiatrischen Versorgung 1990-2011 Psychiatrische Praxis. 2013; 40: 59-61
- 2 Peukert R. Stigma. In: Koop J, Schäfers B. Hrsg. Grundbegriffe der Soziologie. 10. Aufl. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften; 2010: 318-319
- 3 Zimbardo PG. Psychologie. 6. neu bearbeitete und erweiterte Aufl. Berlin: Springer-Verlag; 1995
- 4 Behrens J, Langer G. Evidence-based Nursing and Caring. Methoden und Ethik der Pflegepraxis und Versorgungsforschung. 3 überarbeitete und ergänzte Aufl. Bern: Verlag Hans Huber; 2010