Der Klinikarzt 2014; 43(6): 275
DOI: 10.1055/s-0034-1384296
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Im ethischen Zwiegespräch

Winfried Hardinghaus
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Publication Date:
18 June 2014 (online)

DIE ZEIT hatte in ihrer Ausgabe 16 vom 10.4.2014, S. 37–38, das Thema Sterbefasten aufgegriffen. Hier ging es auch um den „Fall Marion M“, eine 56-jährige Frau, die sich trotz ärztlicher Bemühungen von einer Infektion nicht erholen konnte, daraufhin ihren Tod durch Ernährungsverzicht suchte und fand. Ich hatte in einer Stellungnahme für den Deutschen Hospiz- und PalliativVerband (DHPV) hierzu behauptet, dass die Patientin vor allem erschöpft war und für ein weiteres lebenswertes Leben vielleicht zu retten gewesen sei. Im Beitrag stellte sich Dr. Christian Walther, Ko-Autor eines Buches über das Sterbefasten, zu einem Suizid wie zu etwas grundsätzlich Normalen. Dem hielt ich entgegen, dass Sterbefasten nicht zu einer akzeptierten Norm werden dürfe. Der persönliche Mailwechsel, der sich nach Erscheinen des Artikels ergab, sei hier mit Einverständnis des „Gesprächspartners“ in Auszügen wiedergeben:

„Sehr geehrter Herr Hardinghaus,

„... stimme ich zu, dass man mit jemandem, der einen Suizid erwägt oder um Unterstützung dazu bittet, einfühlsam und in wiederholten Gesprächen auslotet, ob es für ihn nicht besser ist, vorerst noch weiter zu leben. Aber noch scheinen Sie nicht dafür offen zu sein, dass von unserer Gesellschaft ein vorzeitiges Beenden des Lebens durch Sterbefasten als etwas Normales betrachtet wird. Wieso sollte dies zu einem „Dammbruch“ führen, wenn sowieso nur ein winziger Prozentsatz unserer Bevölkerung dann, wenn es so weit ist, einen Suizid begehen will? Wieso sollte etwas, was – ganz unzeitgemäß – vom Sterbewilligen eine gewisse Härte gegen sich selbst erfordert, sozusagen in Mode kommen?

Aber selbst wenn dies möglich wäre und, sagen wir, pro Jahr in Zukunft in der BRD zusätzlich 1000 hochbetagte Leute über diesen Weg das Leben vorzeitig beenden würden (auch z. B. um der Demenzfalle rechtzeitig zu entgehen) – was, bitte, wäre daran schlimm?

Schließlich: Wieso sollte denn ein unproblematisches Verhältnis zum Sterbefasten ausgerechnet der Legalisierung der Tötung auf Verlangen Vorschub leisten? Im Verborgenen wird sie hierzulande ohnehin praktiziert, und selbst wenn die Behauptung [...] zutreffen sollte, dass die Mehrheit der Bevölkerung sich wünscht, dass dies legal möglich ist, wird daraus noch längst kein Parlamentsbeschluss.“

„Sehr geehrter Herr Walther,

tatsächlich ist es für mich mehr als traurig, wenn Sterbefasten zur gesellschaftlichen Norm würde, wenn Menschen mit guter Lebensqualität durch kompetente Hilfe hätten bleiben können. Und natürlich ist es nicht unnormal, wenn ein Todkranker auf feste oder flüssige Ernährung verzichtet. Ganz im Gegenteil. Wichtig ist uns aus täglicher praktischer Erfahrung, vor einer solchen Entscheidung einem Patienten die Chancen für ein angenehmeres, schmerzfreies und symptomarmes Leben, auch für kurze Zeit, aufzuzeigen und anzubieten, ja Trost und Liebe zu spenden.

Der Begriff der Norm [...] impliziert eine Verbindlichkeit, die sogar zur Forderung werden kann. Anstatt das Leben als etwas Wertvolles zu schützen, wäre die Vorstellung geradezu erschreckend, wenn unsere Gesellschaft einen Suizid tendenziell als etwas Vernünftiges betrachten würde. Läuft auch der Einzelne dadurch erst recht Gefahr der Bedrängnis oder Entmündigung, eigentlich im paradoxen Gegensatz zum wesentlichen Autonomie-Argument von Sterbehilfe-Befürworten.

Außerdem: Lebenswertes Leben darf auch gesellschaftlich nicht quantifiziert werden. Viele Dammbrüche beginnen eben „winzig“!

Selbst leidvolles Leben ist nicht notwendigerweise unwürdig. Sich (wie von Geburt an!) helfen zu lassen, bedeutet nicht unbedingt die Aufgabe der Selbstbestimmung. Palliative und hospizliche Begleitung heißt, Wege aufzuzeigen heraus aus einer, auch bei Befürwortern von Tötung auf Verlangen, wohl nur zu oft verdrängten Furcht vor einer „Entmächtigung“ (G. Maio), vielmehr hin zu einem Loslassenkönnen. Der Deutsche Hospiz- und PalliativVerband wendet sich darüberhinaus gegen jede Form organisierter Beihilfe zum Suizid: Ein Suizid beendet Probleme, er löst sie nicht.“

Ein anderes Zweiergespräch hatte sich vor kurzem mit Herrn Dr. jur. Peter Holtappels als Vertreter des Berufsverbandes der Mediziner in Westfalen-Lippe ergeben. Im Editorial des klinikarzt 12/2013 („Apallisches Syndrom – Immer ein Dilemma“) hatten wir die zuvor in einer Empfehlung des Berufsverbandes propagierte Auffassung missbilligt, dass bei Patienten in einem apallischen Koma sogar lebensverkürzende Maßnahmen indiziert sein könnten. Dieses Bekenntnis hat Herr Dr. Holtappels in seiner neuen Stellungnahme zurückgenommen – sodass deren an dieser Stelle unkommentierten Publikation auf S. 278 in diesem Heft nichts im Wege steht.

Hingegen würde ich die Diskussion auch mit Ihnen persönlich als Leser/in gerne fortsetzen!