PPH 2014; 20(04): 184-185
DOI: 10.1055/s-0034-1384775
Szene
Larses Lyrische Lebensberatung
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wie genieße ich?

Lars Ruppel
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Publication Date:
23 July 2014 (online)

Wenn ich gemeinsam mit den Mitarbeitern einer Pflegeeinrichtung eine Gedichtlesung für die Bewohnerinnen und Bewohner plane, gibt es vier Dinge, um die sich die ganze Organisation dreht. Die vier wichtigsten Routinen, die Heiligtümer des Tagesablaufs, an denen jegliche Planung im Zweifelsfall zerschmettert wie ein Ruderboot an einem Eisberg, die Leuchttürme im Nebel des Alltags, die vier Elemente der Zeit, die Heiligtümer der Glückseligkeit, die vier unerschütterlichen, mit ewiger Tinte in den Kalender eingetragenen Termine (ich glaube, ich übertreibe und komme wohl lieber zum Punkt) sind: Frühstück, Mittagessen, Kaffeetrinken und Abendessen.

Als ich von zu Hause auszog war das Beste an meiner neugewonnenen Freiheit, dass ich essen konnte, was und wann und wie viel ich wollte. Was früher ein Kindertraum war, wurde durch Bratkartoffeln nachts um drei Uhr Wirklichkeit. Eindrucksvoll widerlegte ich die These, dass Gummibärchen mit Chips kein vollwertiges Frühstück seien, und dass ich durch den Austausch des naturtrüben Apfelsafts meiner immer wohlmeinenden Eltern durch eiskalte Cola keineswegs Entwicklungsstörungen erleiden würde.

Selbstbestimmt und selbstbewusst über die eigene Ernährung zu entscheiden, ist ein großes Privileg, das merke ich bei meiner Arbeit in Pflegeeinrichtungen immer wieder. Essen begleitet uns unser ganzes Leben lang.

Bei einer Tasse Kaffee lässt es sich vertraut plaudern, wir stoßen an mit einem Glas Sekt und stopfen Schokolade in uns hinein, wenn wir frustriert sind. Als Kinder suchten wir das heilige Bonbonversteck und die Geburtstagstorte mit ihren Kerzen überstrahlte manches Geschenk. Weihnachten wird zu Weihnachten durch das gemeinsame Weihnachtsessen. Liebe geht durch den Magen und der Geruch von Gewürzen erinnert uns an vergangene Reisen durch ferne Länder. Wir kochen und schneiden uns dabei, wir weinen beim Zwiebelschälen und sind sauer, wenn der Kuchen nichts geworden ist.

Essen ist so viel mehr als das Stillen von Bedürfnissen, es steckt voller Emotionen und Erinnerungen, die besonders im Alter immer wertvoller werden. Essen gibt uns Sicherheit, es ist ein intimer Prozess und gleichzeitig ein wichtiger Bestandteil jeder Gemeinschaft.

In vielen Einrichtungen wird bereits im Rahmen der räumlichen Möglichkeiten das Kochen dezentralisiert und auf die einzelnen Wohnbereiche verteilt. Dann gibt es viel zu riechen und zu tun und an manch ein in Vergessenheit geratenes Rezept erinnert man sich beim Kartoffelschälen wieder.

Und wenn wir dann die Senioren zu unserer einstudierten Show einladen, werden wir nochmal mit aller Deutlichkeit daran erinnert, dass um 12 Uhr die Zeit zum Mittagessen sei und man unbedingt bis dahin wieder am Platz sein müsse. Dieses Versprechen geben wir gerne, denn mit unseren Gedichtvorträgen wollen wir den Appetit unserer Gäste erst so richtig anregen.

Poesie kann sehr gut zum Essen gereicht werden. Je nach Hunger Ihrer Gäste können Sie einen oder mehrere der hier gemachten Vorschläge servieren. Beginnen Sie zum Beispiel mit dem bekannten Vers: „Jeder isst so viel er kann, nur nicht seinen Nebenmann. Und wir nehmen’s ganz genau, auch nicht seine Nebenfrau“.

Als Vorspeise gibt es das Gedicht „Schlaraffenland“ von Hugo Hofmann von Fallersleben, in dem die köstlichsten Speisen verreimt werden und das gemeinsame Wiederholen der Zeilen „O wie ist es zum Entzücken, Ei wer möchte dort nicht sein“ für gute Stimmung sorgt. Zum Frühstück gönnen Sie sich und allen Essern am Tisch das kraftspendende und bewegungsintensive Gedicht „Morgenwonne“ von Joachim Ringelnatz (nachzulesen in Ausgabe 3/13 der PPH). Auch ein gemeinsames Tischgebet, bei dem alle die von Ihnen vorgelesene Zeile wiederholen, sorgt für feierliche Stimmung beim Essen. Hier empfehle ich den „Psalm 126“ von Hans Dieter Hüsch.

Erntelied

Es steht ein goldenes Garbenfeld,
Das geht bis an den Rand der Welt.
Mahle Mühle mahle!

Es stockt der Wind in weitem Land,
Viel Mühlen stehen am Himmelsrand.
Mahle Mühle mahle!

Es kommt ein dunkles Abendrot,
Viel arme Leute schrein nach Brot.
Mahle Mühle mahle!

Es hält die Nacht den Sturm im Schoß,
Und morgen geht die Arbeit los.
Mahle Mühle mahle!

Es fegt der Sturm die Felder rein,
Es wird kein Mensch mehr Hunger schrein.
Mahle Mühle mahle!

Richard Dehmel (1863-1920)

Die Menschen, mit denen wir arbeiten dürfen, wissen im Gegensatz zu uns aber ganz genau, dass das leckere Mahl auf dem Tisch keine Selbstverständlichkeit ist. Die Kriegs- und Nachkriegsgeneration hat Verzicht und Not am eigenen Leib spüren müssen. Überquellende Supermärkte gab es noch nicht und jeder Bissen musste hart erarbeitet werden. Ich glaube, dass Essen auch deswegen einen so hohen Stellenwert für die Senioren hat.

„Erst die Arbeit...“ ist ein Satzanfang, der von jedem im Raum mit „...dann das Vergnügen“ beendet werden kann und dieser Redensart wollen wir gerne nachkommen. Fragen Sie zur Einstimmung in die Runde, wer etwas über den Anbau von Getreide weiß und Sie werden interessante Vorträge zu hören bekommen. Bevor es dann ans Essenfassen geht, laden Sie Ihre Gäste dazu ein, den beschwerlichen Weg vom Bestellen des Ackers bis zum Brot auf dem Teller mit einem Gedicht zu begleiten.

Das „Erntelied“ von Richard Dehmel ist ein folkloristisches Gedicht mit viel Bewegungspotential. Ich finde es besonders schön, da es zwar am Anfang von Not handelt, aber sehr positiv endet. Finden Sie gemeinsam eine Bewegung, die das Mahlen einer Getreidemühle darstellt. Die wiederkehrende Zeile „Mahle Mühle mahle“ wird von allen wiederholt und mit der Bewegung begleitet. Nach dieser anstrengenden Übung haben sich alle Gäste das Essen redlich verdient. Guten Appetit.

Lesen Sie das nächste Mal: Wie gebe ich jemandem die Hand?

Podcast!

Sie wollen Lars Ruppel live hören? Und Tipps von ihm erhalten, wie Sie das Gedicht praktisch einsetzen können? Bitte schön:

Wir wünschen viel Hörvergnügen!


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