PPH 2014; 20(04): 186-188
DOI: 10.1055/s-0034-1384776
Szene
Sofagespräch
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Heute auf dem Sofa: Martina Menne

Sabine Hahn im Gespräch mit Pflegeexperten
Martina Menne
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Publication Date:
23 July 2014 (online)

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(Grafik: Anja Jahn)

Liebe Frau Menne, sie arbeiten in der Ita Wegmann Klinik und sind spezialisiert auf anthroposophische Pflege. Was macht die anthroposophische Pflege aus?

Nicht nur Rudolf Steiner, der 1861 im heutigen Kroatien geboren wurde und als Begründer der Anthroposophie gilt, sondern auch sehr alte und zum Teil längst vergangene Kulturen hatten die Vorstellung, dass der Mensch einen Wesenskern in sich trägt, der seine Individualität ausmacht.Dieser Teil des Menschen, das „Ich“, ist unsterblich und inkarniert sich mit einer Aufgabe, einem Sinn für das neue Leben. Der Kern ergibt sich aus den Früchten des Vergangenen, das heißt die Biografie eines Menschen kann als Ausdruck seines „Ich“ angesehen werden. Hinzu kommt, dass der Mensch im Leben auch unter dem Einfluss eines Milieus, wie Familie, Schule und Kultur sowie des Vererbungsstroms steht.

Was ist hier mit Vererbungsstrom genau gemeint?

Biologisch bin ich der Nachkomme meiner Eltern, bilde aber zunehmend einen eigenen Leib aus. Das heißt, ich sehe meinen Eltern vielleicht ähnlich, bin aber nicht identisch mit ihnen.Als physisch-leibliches Wesen bin ich, wie alle Menschen, ein Naturwesen. Die Stoffe in mir sind auch Natur, aber vermenschlicht. Das heißt, die Banane wird im Verdauungstrakt völlig zerstört und die Stofflichkeit für den individuellen Organismus aufgebaut – sonst würden wir ja Banane werden.Dazu brauchen wir unsere Stoffwechselorgane. Diese Organe sind hauptsächlich, wenn wir die menschliche Gestalt anschauen, im Bauchraum zu finden. Aber auch die Gliedmaßen gehören dazu als tätige, schaffende Organe. Wärme und Stoffwechsel sowie Bewegung stehen hier im Vordergrund, der Stoffaufbau dient dem Erhalt und der Entwicklung des Organismus. Steiner spricht von der Stoffwechsel-Gliedmaßentätigkeit. Hier sind wir handelnde Menschen, sowohl für unseren Leib als auch für die Außenwelt.Dass wir mittels unseres Nervensystems denken, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Die Sinnestätigkeit, Wahrnehmung und Aufnahme dessen, was in der Außenwelt vor sich geht, gehört in der anthroposophischen Menschenkunde dazu. Nerven-Sinnes-Tätigkeit führt aber nicht zum Stoffaufbau, sondern ist Gestaltungskraft im Organismus. Was stofflich aufgebaut wird, wird dadurch gestaltet, bekommt Form.Wahrnehmen, Vorstellen, Denken ist ein nichtstofflicher Vorgang. Der Kopf, Zentrum des Nerven-Sinnes-Systems, funktioniert besser im eher kühlen Element. Die Kopfregion gibt Kühle ab, arbeitet in Ruhe. Der Stoffwechsel arbeitet in Bewegung, braucht seine Wärme. Das sind Beispiele, aus denen Sie entnehmen können, dass es sich um ein polares Geschehen handelt zwischen oberem und unterem Menschen, zwischen Denken und Wollen/Handeln.Zwischen diesen Polaritäten stellt sich ein ausgleichendes Element ein: das Gefühlsleben. Wie hängt das mit unserem Leib zusammen? Der Ausdruck „ein herzensguter Mensch“ oder „es bricht mir das Herz“ weist auf das Herz hin.Herz und Lunge sind lebenslang rhythmisch tätig: Blut fließt aus dem Herz heraus, in das Herz hinein. Luft fließt in die Lunge hinein und wieder heraus. Unser Gefühlsleben basiert physiologisch auf der rhythmischen Arbeit von Herz und Lunge. Sie vermitteln zwischen Denken und Wollen. Das Rhythmische System vermittelt physiologisch zwischen Nerven-Sinnes-System und Stoffwechsel-Gliedmaßentätigkeit. Seelische Sympathie und Antipathie, Wut und Zuneigung – sie gehen deutlich mit Herzklopfen und Atembeschleunigung einher.So haben wir die drei seelischen Bereiche Denken, Fühlen und Wollen, die miteinander in Verbindung sind. Sie stehen im Wechselspiel: Ich kann durch Schulung beziehungsweise bewusste Handhabung meines Seelenlebens die leiblichen Funktionen beeinflussen und umgekehrt. Chef des Hauses ist die „Ich-Kraft“, die Bewusstseinskraft, die auch im Leib physiologisch wirkt und das Zusammenspiel auf der leiblichen und seelischen Ebene dirigiert.

Diese Sichtweise führt zu einem Verständnis, wie Substanzen wirken. Können Sie uns das näher erläutern?

Betrachten Sie eine Pflanze. Sie besteht aus Wurzel, Blatt, Stängel und Blüte. Aus der Erde nimmt die Wurzel Wasser und Nährstoffe auf. Wenn wir die Wurzel anschauen, haben wir ein ähnliches Bild wie das des Nervensystems. Die Wurzel nimmt Stoffe auf, das Nervensystem nimmt Eindrücke wahr und führt diese nichtstofflichen Eindrücke in den Organismus.Der Blütenbereich bildet durch Licht und Wärme Frucht und Samen, wodurch Fortpflanzung möglich ist. Wärme und Reproduktion haben wir im menschlichen Organismus im Stoffwechsel-Gliedmaßengebiet. Also das Obere der Pflanze zeigt sich im Mensch unten und umgekehrt. Im Blattbereich findet der Gasaustausch, ein Atmungsvorgang, statt. Genau umgekehrt als beim Menschen gibt die Pflanze Sauerstoff ab und nimmt Kohlendioxid auf. Zufall oder Gesetzmäßiges?Steiner nennt diesen Zusammenhang „die umgekehrte Pflanze in uns“. Daraus ergibt sich für die anthroposophische Medizin: Die Wurzel der Pflanze wirkt unterstützend auf den Kopfbereich, das Nerven-Sinnes-System. Der Blütenbereich der Pflanze wirkt auf das Stoffwechsel-Gliedmaßensystem, Blatt und Stängel wirken auf das Rhythmische Geschehen im Menschen.Nehmen wir ein Pflanzenbeispiel: Wieso hat Johanniskraut einen Einfluss auf die seelische Befindlichkeit? Dazu kann man die Stoffe, die es enthält, benennen und analysieren. Man kann sich fragen, wieso bildet Johanniskraut gerade diesen Stoff? Schauen wir die Pflanze Johanniskraut an, so sehen wir, dass sie am Wegrand wächst, der trocken ist und viel Licht spendet. Die Blütenblätter leuchten von Weitem in Gelb und blühen, wenn die Sonne am höchsten steht. Der Stängel ist fest und klar strukturiert, die Wurzel bildet im Winter neue Triebe.Das Bild der Pflanze ist Ausdruck ihres Wesens, Ausdruck ihrer Kräfte in Stoff und Form, einer übersinnlichen Kraft; die geistige Qualität zeigt sich äußerlich. Als Medikament verarbeitet bewirkt Johanniskraut Wärme und Licht im Stoffwechsel, hilft zum Beispiel bei Obstipation. Es strukturiert und ordnet im Rhythmischen System, regt Gefühle an oder begrenzt überbordende Gefühle und bleibt kraftvoll auch in der kalten Jahreszeit durch die Vitalität in der Wurzelregion.

Wie wirkt sich dieses Verständnis auf das pflegerische Handeln und die Gesprächsführung aus?

Der Gesichtspunkt, dass Seelisch-Geistiges in Wechselwirkung mit den physiologischen und physischen Kräften steht, führt dazu, dass wir beide Seiten behandeln. Das heißt, mit der Stabilisierung der leiblichen Funktionen wirken wir auf das Seelische ein, der Leib als Instrument, auf dem die Seele spielt.Körperliche Erschöpfung und seelische Labilität – wer erlebt diesen Zusammenhang nicht? Zum Beispiel sind unsere äußeren Anwendungen, wie Bäder, Wickel oder Rhythmische Einreibungen nach Wegman/Hauschka, auch ein Wohlfühlprogramm: Es geht darum, sich etwas Gutes zu tun.Aber hauptsächlich sehen wir die Regulierung bis in die Physiologie hinein. Unsere Einreibungen vermitteln der Haut einen Rhythmus mit Verdichten, Lösen, Umkehrmomenten – also Prinzipien eines rhythmischen Geschehens, die es überall, wo Leben ist, gibt.Eine differenzierte Schulung ist nötig, um dem Organismus das kompetent anzubieten. Wir gestalten diese Gesetzmäßigkeit auf der Haut, der Körper kann sie wiedererkennen und damit wieder übernehmen und sich selbst regulieren. Dabei kann die Pflegeperson eine „objektive“ Handlung vollziehen und mit ihrem eigenen Seelischen in Distanz bleiben, während sie jemanden berührt. Andersherum: Indem sie rhythmisch arbeitet, tut sie für sich ebenso etwas Gutes. Das ist das Geheimnis, das dahinter steckt: Wenn wir mit dem Positiven arbeiten, wirkt es auch positiv auf uns Durchführende zurück. Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass das eine unserer Ressourcen für die Mitarbeitenden ist, die unbemerkt geschieht. Auch die seelische Beziehungsaufnahme steht einer sich entwickelnden Individualität gegenüber. Es geht darum, Hilfestellung zu geben, zum bewussten Verstehen seiner Situation und für eine maximal eigenständige Lebensführung. Es werden im tieferen Sinn Fragen bewegt: Erlebe ich durch Krisen, dass ich danach anders in die Welt schaue, dass „Zufälle“ mein Leben ändern, dass Menschen mich stützen und tragen? Gewinne ich einen neuen Blick in die Welt? Erlebe ich mich selbst als Steuermann meines Weges? Ergreife ich mein Denken, Fühlen und Handeln, sodass ich mich zunehmend in den Zusammenhang der mich umgebenden Welt stelle und „Ja“ sagen kann zu mir? Werde ich mir meiner Selbst bewusst und ergreife ich mich?Wir haben Übungen, die einfach sind, aber regelmäßig angewendet bis in die Lebenskräfte hinein wirken. Sie stehen unter dem Gesichtspunkt, seinen Leib zu ergreifen, seelische Beweglichkeit und Realitätsbewusstsein zu bearbeiten. Dazu gehören verschiedene Sinneswahrnehmungsübungen, Gleichgewichtsübungen, die Schreibübung und der Tagesrückblick.Wir haben dieses große Feld der äußeren Anwendungen und der seelenhygienischen Übungen, die wir regelmäßig im Rahmen der Verordnungen durchführen, selbstständig zum Beispiel in Krisen anwenden und manches auffangen können. Pflegende, die aus anderen Einrichtungen zu uns kommen, sagen oft, dass wir individueller mit den Patienten arbeiten. Aber das fordert auch die Persönlichkeitskräfte entsprechend mehr.

Sich selbst regulieren, sich selbst als Steuermann seines Lebens zu erleben, das sind auch die Gedanken von Recovery. Inwieweit ist Recovery in der anthroposophischen Pflege ein Thema?

Recovery ist aus meiner Sicht in das Verständnis anthroposophischer Psychiatrie integriert. Es existiert daher nicht als separates Konzept.Persönliche Sinnfindung ist tiefstes Anliegen der anthroposophischen Lebensweise. Ebenso wichtig ist das Ziel, die persönliche Verantwortung zu fördern. Entwicklung von Hoffnung, und was es dazu braucht, ist aus geisteswissenschaftlicher Anschauung von Steiner beschrieben. Wer die Anthroposophie studiert, erlangt Gesichtspunkte zu all diesen Fragen beziehungsweise beginnt überhaupt erst Fragen zu stellen bezüglich dessen, was der Mensch braucht zu seiner Gesundung.Manchmal frage ich mich, ob wir jetzt Themen hervorheben, die eigentlich eine Selbstverständlichkeit sind? Müssen wir jetzt alles evidenzbasiert begründen, auch dass die Blume uns erfreut? Der zunehmende Materialismus entfremdet uns vom Offensichtlichen. Vielleicht ist es auch gut so, weil es dringend notwendig ist, dass wir das Offensichtliche besser hervorheben als Baustein der Gesundung.Ich habe in den 1980er-Jahren in der anthroposophischen Universität Herdecke in Deutschland jeweils morgens im Klinikgarten Blumen geschnitten für den Eintritt, den ich zu betreuen hatte. Müssen wir das noch auf Evidenz basieren? Gibt es noch den „gesunden Menschenverstand“?Ich habe erlebt, dass aus wirtschaftlichen Gründen Gartenarbeit, Kühe striegeln oder Holzhacken mit dem Patienten abgeschafft wurden. Therapeutischer Wert: Hochgradig, von Pflegenden und Patienten gleichermaßen so eingestuft. Denn viele komplexe Situationen konnten damit gut unterstützt werden.

Ja, leider wurden auch in nichtanthroposophischen Kliniken solche „naturgestützten“ Therapieformen gestrichen. Gibt es spezielle Übungen oder Programme, die Sie Patientinnen und Patienten empfehlen?

Ich hatte ja schon auf verschiedene Übungen hingewiesen. Dazu gehört zum Beispiel die Schreibübung. Die Übung wurde 1912 schon von Steiner angegeben unter dem Gesichtspunkt der sich verbreitenden Nervosität. Sie entsteht, wenn wir in einer Tätigkeit nicht innerlich dabei sind, das eigene Tun seelisch nicht begleitet ist. Unsere heutige Wertekultur kann aus dieser Perspektive der Nährboden für innere Unruhe sein. Schnelllebigkeit, Atemlosigkeit, Zahlen und Geld regieren die Welt, Multitasking und so weiter. Ruhe und innere Werte verkümmern.Achtsamkeit ist heute so ziemlich in aller Munde. Steiner nannte es: Liebe zum Detail – eine der wichtigen Übungen, sein Innenleben zu stärken. Die wenigen Angaben zur Schreibübung lauten: Sein Schriftbild ändern, täglich 15 bis 30 Minuten üben, es soll nicht anstrengend sein. Seine Gewohnheit soll man bewusst ändern. Es geht darum, dass ich mich entscheide, größer oder breiter oder sonst wie anders zu schreiben als gewöhnlich und mich anstrengen muss, dies umzusetzen. Ich muss hinschauen, dabei sein, wenn es darum geht, dass meine Finger etwas Bestimmtes tun sollen. Diese Übung stärkt die Lebenskräfte.Außerdem gibt es noch weitere Übungen. Wir versuchen, die Sinne insgesamt zu schulen, beispielsweise mittels Pflanzen- oder Bildbetrachtung, Tagesrückblick rückwärts oder auch mit Gleichgewichtsübungen.

Liebe Frau Menne, leider ist die Zeit auf dem Sofa beschränkt. Danke für diesen spannenden Austausch. Zum Schluss stelle ich allen meinen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern die Frage, was im Reisegepäck nie fehlen darf. Wie sieht das bei Ihnen aus?

Einen Steiner-Vortrag habe ich immer dabei.