Wir haben jetzt noch eine Chance. Wir haben die Chance, das System der Hilfe und Versorgung
für Menschen mit psychischen Erkrankungen zielgerichtet weiterzuentwickeln. Nutzen
wir diese Chance?
Die psychiatrische und psychotherapeutische Versorgungslandschaft steht vor großen
Herausforderungen. Einerseits steigt die Inanspruchnahme von Leistungen in diesen
Bereichen, andererseits wird der bereits real bestehende und zukünftig eher zunehmende
Mangel an dafür erforderlichen Ressourcen immer deutlicher. Seit Jahren gibt es vonseiten
der Kostenträger (und der Gesundheitspolitik) Bestrebungen, die Ausgabensteigerungen
zu begrenzen; gleichzeitig zeigt sich ein Mangel an qualifizierten Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern. Hinzu kommt der viel beschriebene demografische Wandel, der zu weiteren
grundlegenden Veränderungen führen wird. Ein neues und innovatives System der Finanzierung
von psychiatrischen und psychotherapeutischen Leistungen ist in dieser Situation eigentlich
unverzichtbar. Die Diskussion über ein neues Finanzierungssystem für die Psychiatrie
und Psychotherapie wird aktuell heftig und kontrovers geführt. Zu häufig geht es dabei
aber primär um formale Aspekte der Abrechnung von eher kleinteiligen Einzelleistungen
oder um die Definition von sog. „Kostentrennern“. „Transparenz“ scheint das Zauberwort
zu sein für „Aufwand“ und „Überprüfbarkeit“. Es steht der Vorwurf im Raum, dass Psychiatrie
und Psychotherapie sonst eine qualitätsfreie Black Box seien. Das, was unsere Leistungen
– unser Fach insgesamt – eigentlich ausmacht, gerät in den Hintergrund oder wird als
sog. „Grundrauschen“ inhaltlich und ökonomisch abgewertet: Das therapeutische Milieu
genauso wie z. B. partizipative Entscheidungsfindung oder das Aushalten von aktuell
nicht zu minderndem Leiden. Tragfähige Anreize dazu, Versorgungsstrukturen und Versorgungsangebote
zu entwickeln, die wirklich geeignet sind, den Bedürfnissen von Menschen mit psychischen
Erkrankungen zu entsprechen, gibt es praktisch nicht. Der Blick richtet sich in erster
Linie auf die Finanzierung von Teilprozessen statt auf die Qualität von Behandlungsergebnissen.
Ein daraus entstehendes System von Einzelleistungen und Einzelleistungsvergütungen
ist die logische Folge [1]
[2].
Die Notwendigkeit der strukturellen Voraussetzungen für ein zukunftsfähiges Versorgungssystem
– der strukturellen Qualität – wird uns erst langsam deutlich. In keinem anderen medizinischen
Fachgebiet ist die Notwendigkeit einer am ganzen Menschen orientierten integrativen
Versorgung deutlicher als im Gebiet der Psychiatrie und Psychotherapie. Gleichzeitig
ist kein Fach besser geeignet, diese integrative Versorgung auch praktisch umzusetzen.
Psychische Erkrankungen sind grundsätzlich dadurch gekennzeichnet, dass sie den ganzen
Menschen und sein psychosoziales Umfeld betreffen. Menschen, die an einer psychischen
Störung leiden, haben regelhaft krankheitsbedingte Einschränkungen in ihren privaten
und sozialen Beziehungen. Die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe ist eine
der wesentlichen Bedingungen für deren Genesung. In der Psychiatrie und der Psychotherapie
haben sich in den letzten Jahren verschiedene Formen integrativer Versorgung modellhaft
entwickeln und teilweise bereits etablieren können. Der § 64b im Sozialgesetzbuch
V bietet Möglichkeiten dazu, umfassende und regional vernetzte Modellprojekte zu entwickeln
und umzusetzen. Demnach sollen diese „beitragen zu einer Weiterentwicklung der Versorgung
psychisch kranker Menschen, die auf eine Verbesserung der Patientenversorgung oder
der sektorenübergreifenden Leistungserbringung ausgerichtet ist, einschließlich der
komplexen psychiatrischen Behandlung im häuslichen Umfeld“ (SGB V). Modellprojekte
bieten damit die Möglichkeit, die überkommenen und weitgehend starren Grenzen zwischen
unterschiedlichen Behandlungsformen und Behandlungssettings (stationär, tagesklinisch
und ambulant) zu überwinden. Dies bedeutet nicht nur eine effizientere Nutzung der
vorhandenen Ressourcen, sondern vor allem die Möglichkeit der Ausrichtung der Versorgungsstrukturen
an den Bedürfnissen von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Die Grundbedingung
für innovative Versorgungsstrukturen muss sein, dass sie von einem fragmentierten
System der Behandlung von Krankheiten hinführen zu einer integrativen Förderung von
Gesundheit, in der präventive, therapeutische, rehabilitative und manchmal auch palliative
Aspekte eng aufeinander bezogen und vernetzt sind. Dies erfordert grundlegend neue
Anreize und Steuerungsformen in der Region.
Was macht nun neue und innovative Versorgungsformen wirklich aus? Ein an den Bedürfnissen
von Menschen mit psychischen Erkrankungen ausgerichtetes Behandlungssystem muss sich
daran messen lassen, in welchem Maße es die folgenden Kriterien erfüllt [1]
[2]
[3]:
-
Sicherstellung der erforderlichen Behandlungsqualität
-
Flexibilisierung der Behandlungsmöglichkeit
-
Förderung des Prinzips „ambulant statt stationär“
-
Vernetzung der Angebote
-
Reduktion des Drehtüreffekts
-
Reduktion des Misstrauensaufwands
In gleicher Weise müssen auch fachlich gebotene Behandlungsprozesse gefördert werden.
Dabei handelt es sich in erster Linie um:
-
weitgehende Symptomreduktion bei gleichzeitiger Fähigkeit zur Teilhabe am Leben
-
Aktivierung von Ressourcen und Förderung der Motivation
-
Förderung der Eigeninitiative und Empowerment
-
Vorhandensein bzw. Ausbau stabiler sozialer Kontakte
-
partizipative Entscheidungsfindung
-
langfristige Beziehungs- und Behandlungskonstanz
-
Vermeidung von häufigen Wiederaufnahmen, die durch Brüche in der therapeutischen Kontinuität
bedingt sind
Die bisher in Deutschland umgesetzten modellhaften Projekte für die Versorgung von
Menschen mit psychischen Erkrankungen sind weder konzipiert noch geeignet dafür, in
allen Regionen in Deutschland kurzfristig und in gleicher Weise umgesetzt zu werden.
Die im Rahmen der Umsetzung und der Evaluation der neuen Versorgungsformen gewonnenen
Erkenntnisse und die daraus entwickelten Qualitätsstandards sind jedoch durchaus geeignet,
Anforderungen an ein zukünftiges regelhaftes Versorgungs- und Finanzierungssystem
zu formulieren und einzufordern.
In Deutschland gibt es aktuell in 14 Regionen in 7 Bundesländern Modellprojekte nach
§ 64b SGB V. In diesen Regionen leben insgesamt etwa 2,5 Mill. Menschen. Diese Projekte
basieren in ihrer Mehrzahl auf regionalen Budgets, die seit 2003 schrittweise umgesetzt
wurden. Diese Modellprojekte wurden als verändertes Finanzierungsmodell für psychiatrische
und psychotherapeutische Leistungen konzipiert, die durch das Krankenhaus erbracht
werden. Nicht wie bisher tagesgleiche Pflegesätze, sondern die Anzahl der behandelten
Menschen ist die Finanzierungsgrundlage für das Krankenhaus. Damit kommt es zur Entkopplung
eines spezifischen Behandlungssettings von der Bezahlung durch die Kostenträger. Nicht
die stationäre oder teilstationäre Behandlung bringt das Geld, sondern die Behandlung
einer bestimmten Anzahl von Menschen aus der Region. Letztlich beinhaltet dies in
allen Regionen, die mit dieser Form eines Capitation-Modells arbeiten, dass das bisher
erlöste Geld dem Krankenhaus weiterhin zur Verfügung steht, eine Leistungsausweitung
allein aus betriebswirtschaftlichen Motiven begrenzt wird und ein Anreiz geschaffen
ist, mit den im Krankenhaus zur Verfügung stehenden Mitteln flexibler und damit effizienter
umzugehen [1]
[2]. Weitere Modellprojekte basieren auf bisherigen Projekten der integrierten Versorgung,
die sich zum Teil auch auf die ambulante Versorgung im Bereich der niedergelassenen
Ärzte beziehen.
Durch diese Organisationsformen können inhaltliche Veränderungen psychiatrisch-psychotherapeutischer
Arbeit zum Zuge kommen: insbesondere aufsuchende gemeindebasierte Behandlungsformen,
u. a. in der Form des therapeutischen Assertive Community Treatment (ACT) und des
Hometreatment, können so flächendeckend umgesetzt werden. Multiprofessionelle gemeindepsychiatrische
Teams ermöglichen ein gemeindenahes Komplexangebot für Menschen mit schwerer psychischer
Erkrankung. Sie orientieren sich an den individuellen Hilfsbedürfnissen der betreuten
Patienten. Ziel dieser Teams ist es, die Patienten darin zu unterstützen, ein unabhängiges
Leben in ihrem Lebensumfeld zu führen. Im ACT kann eine langfristige und hochintensive
Behandlung von einem multidisziplinären Team (vorwiegend) im häuslichen Umfeld erfolgen.
In den Angeboten des Hometreatment wird insbesondere psychiatrische Akutbehandlung
durchgeführt. Hometreatment wendet sich an Menschen mit akuten psychischen Erkrankungen,
bei denen grundsätzlich die Indikation für eine akutstationäre Behandlung gegeben
ist. Angestrebt wird ein multidisziplinäres Behandlungsangebot mit häuslichen Kriseninterventionen
und der gleichzeitigen Berücksichtigung klinischer und psychosozialer Aspekte in einer
flexiblen Kommunikation mit dem Patienten und seinem sozialen Netzwerk [2]
[4]. Durch das Prinzip der bedürfnisangepassten Behandlung von Menschen mit psychischen
Erkrankungen (Need Adapted Treatment) können zusätzlich auch erweiterte psychotherapeutische
und psychosoziale Konzepte verwirklicht werden, die die Patientinnen und Patienten
als Experten für ihre eigene Lebenssituation stärker miteinbeziehen.
Die wissenschaftliche Begleitforschung für die bereits seit Langem laufenden regionalen
Psychiatriebudgets konnte zeigen, dass es im Vergleich zu Regionen mit traditioneller
Versorgungsstruktur zu einer signifikanten Verbesserung des Funktionsniveaus und der
sozialen Integration der Patienten gekommen ist [5]
[6]. Die Verweildauer im stationären Bereich wurde relevant vermindert und gleichzeitig
der ambulante Versorgungsanteil deutlich erhöht. Die Evaluation von Maßnahmen des
Hometreatment zeigt, dass die Akutbehandlung im häuslichen Umfeld das Risiko eines
Behandlungsabbruchs senkt, die Behandlungszufriedenheit erhöht und kosteneffektiver
im Vergleich mit herkömmlicher stationärer Behandlung sein kann [4]
[7].
Was also können wir lernen aus Modellprojekten? Neue Versorgungsstrukturen und neue
Versorgungsangebote in der Psychiatrie und Psychotherapie sind geeignet, zu therapeutischen
Angeboten beizutragen, die individueller und weniger an bestehenden Strukturen ausgerichtet
sind als bisher und sich damit flexibler an die besonderen Bedürfnisse von Menschen
mit psychischen Erkrankungen anpassen. Die konsequente Berücksichtigung des sozialen
Kontextes und Therapie im bestehenden sozialen Umfeld führt zu einer verbesserten
sozialen Integration von Patienten. Voraussetzung für eine breitere Anwendung in der
Routineversorgung ist die weitere konsequente Erprobung und wissenschaftliche Evaluation
unterschiedlicher Ansätze in Regionen mit unterschiedlichem Versorgungsbedarf. Der
Einsatz von neuen Behandlungsansätzen, die auch geeignet sein können, stationäre Behandlung
zu ersetzen, benötigt allerdings zwingend darauf ausgerichtete neue Strukturen der
Finanzierung. Eines aber ist schon jetzt sicher: Wir wissen, dass psychiatrische und
psychotherapeutische Versorgung verbessert werden kann. Dahinter sollten wir nicht
mehr zurück. Wir haben jetzt noch eine Chance – maximal 2 Jahre. Wir müssen sie im
Sinne unserer Patientinnen und Patienten nutzen.