Fortschr Neurol Psychiatr 2015; 83(05): 257-258
DOI: 10.1055/s-0034-1399504
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Rehabilitation (noch) nicht rehabilitationsfähiger Patienten in der neurologischen Frührehabilitation

The Rehabilitation of Patients who are (Still) Unfit for Rehabilitation
C.- W. Wallesch
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Publication History

04 April 2015

05 April 2015

Publication Date:
27 May 2015 (online)

In den letzten Jahren hat sich in Deutschland – im internationalen Vergleich einmalig – ein neuer Subsektor der akutstationären Krankenhausbehandlung etabliert: die neurologische Frührehabilitation der Phase B. Sie wurde 1995 von der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation definiert als Behandlungs-/Rehabilitationsphase, in der noch intensivmedizinische Behandlungsmöglichkeiten vorgehalten werden müssen [1]. Die Phase B dient der Behandlung von

  • bewusstlosen und qualitativ oder quantitativ schwer bewusstseinsgestörten Patienten mit schwersten Hirnschädigungen,

  • Patienten mit anderen schweren neurologischen Störungen, die noch intensivpflichtig sind, und

  • polytraumatisierten Patienten, bei denen

  • die primäre Akutversorgung abgeschlossen ist,

  • aktuell keine operative Intervention erforderlich ist,

  • keine Sepsis oder floride Osteomyelitis vorliegt,

  • die intracraniellen Druckverhältnisse stabil sind,

  • Herz-Kreislauf- und Atmungsfunktionen im Liegen stabil sind und die

  • nicht fähig zur kooperativen Mitarbeit sowie

  • vollständig von pflegerischer Hilfe abhängig sind, und

  • u. U. ein erhebliches Risiko der Selbst- und/oder Fremdgefährdung bei Dyskontrollsyndrom, Verwirrtheitszuständen oder anderen schweren psychischen Störungen darstellen (gekürzt nach [1]).

Bestehende Begleiterkrankungen dürfen eine Mobilisierung nicht verhindern [1]. Das ursprünglich definierte Kriterium, dass die Patienten nicht mehr kontrolliert beatmungspflichtig sein sollten, wurde inzwischen aufgegeben [2]. Ziel der Behandlung in der Phase B ist die Herstellung der Kooperations- und Rehabilitationsfähigkeit. Die Phase B ist in den meisten Bundesländern leistungsrechtlich der akutstationären Krankenhausbehandlung zugeordnet und wird im DRG-System durch die OPS-Position 8 – 552 abgebildet. Diese verlangt im Durchschnitt u. a. mindestens 300 Therapieminuten pro Tag unter Einschluss von Leistungen der aktivierend-therapeutischen Pflege.

Die Anreize des DRG-Systems für die Akutkrankenhäuser, insbesondere die Maximal- und Schwerpunktversorger, führen seit einigen Jahren zu einer Ausweitung ihrer Notfallversorgung und spezialisierter Interventionen zulasten der stationären „Ausbehandlung“ [3]. Die mittlere Verweildauer im Akutkrankenhaus für einen Schlaganfall mit Stroke-Unit-Behandlung ging zwischen 2006 und 2015 von 11,0 auf 7,9 Tage zurück [4]. Abgesehen von den Patienten, die ein PRIND erlitten haben oder durch Lyse geheilt wurden, werden die meisten in Rehabilitation verlegt, je nach Überwachungs- und Pflegebedürftigkeit in die Phasen B, C oder D [1].

Ischämische Insulte, Hirnblutungen und Subarachnoidalblutungen machen derzeit nur noch etwas mehr als die Hälfte der in der neurologischen Frührehabilitation der Phase B behandelten Patienten aus [5]. In den letzten Jahren deutlich angestiegen ist der Anteil an Patienten mit neurologischen Komplikationen, Krankheitsfolgen und Komorbiditäten nicht neurologischer Grundkrankheiten wie z. B. hypoxischen Hirnschäden, septischer Enzephalopathie oder Critical-Illness-Neuropathie und -Myopathie. Die Weiterbehandlung von Patienten in kontrollierter Beatmung oder mit absaugpflichtigen Trachealkanülen ist zur Domäne der neurologischen Frührehabilitation geworden. Unter den 10 Kliniken mit der höchsten Fallschwere (Case Mix Index) des Krankenhaus-Reports finden sich ausschließlich spezialisierte Herzchirurgien und Kliniken der neurologischen Frührehabilitation der Phase B, wobei Letztere überwiegen [6].

Mit der Rehabilitation von der Beatmungs- und Trachealkanülenabhängigkeit erfüllt die neurologische Frührehabilitation eine wichtige Aufgabe in der Behandlungskette von Patienten mit langen Intensivbehandlungen. Bereits nach wenigen Tagen kontrollierter Beatmung kommt es zu einer Atrophie der Atemmuskulatur [7]. Das Weaning langzeitbeatmeter Patienten findet unter neurorehabilitativen und physiotherapeutischen Gesichtspunkten statt. Die Dekanülierung wird durch die Aspirationsgefahr limitiert; dabei kommt der logopädischen und ergotherapeutischen Schlucktherapie entscheidende Bedeutung zu, die in Kliniken der neurologischen Frührehabilitation mit hohen professionellen Standards vorgehalten wird [8].

Schließlich darf nicht vergessen werden, dass die Prognosestellung bei ZNS-Schädigungen hinsichtlich im Weiteren möglicher Teilhabe neben dem entstandenen Schaden die individuellen biologischen, psychischen und sozialen Ressourcen berücksichtigen muss, die der Patient und seine Umgebung aktivieren können. Deren Ausmaß lässt sich je nach Grundkrankheit erst 4 (hypoxische Hirnschädigung) bis 12 (Schädel-Hirn-Traumen) Wochen nach dem initialen Ereignis annähernd abschätzen. Wenn das Ziel der Behandlung in der Phase B die Herstellung der Kooperations- und damit Rehabilitationsfähigkeit ist [1], dann sollte diese in spezialisierten Einrichtungen ausreichender Größe durchgeführt werden, die die Vorhaltung vielfältig spezialisierter Ärzte (neben Neurologen auch Internisten und Intensivmediziner) und Therapeuten einschließlich speziell ausgebildeter Pflegetherapeuten ermöglicht, und unter einem ICF-orientierten Ansatz erfolgen. Die Fachplanung Baden-Württemberg [2] gibt ein Beispiel für die Etablierung der neurologischen Frührehabilitation als neuem Sektor der Krankenhausversorgung.

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Prof. Dr. C.-W. Wallesch
 
  • Literatur

  • 1 Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR). Empfehlungen zur Neurologischen Rehabilitation von Patienten mit schweren und schwersten Hirnschädigungen. Frankfurt: BAR; 1995
  • 2 Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren Baden-Württemberg. Neurologische Frührehabilitation Phase B. Fachplanung für Baden-Württemberg. Stuttgart: Sozialministerium Baden-Württemberg; 2012
  • 3 von Eiff W, Schüring S, Niehues C. REDIA: Auswirkungen der DRG-Einführung auf die medizinische Rehabilitation. Ergebnisse einer prospektiven und medizin-ökonomischen Langzeitstudie 2003 bis 2011. Berlin: LIT-Verlag; 2011
  • 4 Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus. Fallpauschalenkatalog 2015 bzw. 2006. InEK GmbH: Siegburg; 2015
  • 5 Hoffmann B, Karbe H, Krusch C et al. Patientencharakteristika in der neurologisch/neurochirurgischen Frührehabilitation (Phase B). Akt Neurol 1996; 33: 287-296
  • 6 Klauber J, Geraedts M, Friedrich J et al. (Hrsg) Krankenhaus-Report 2015: Schwerpunkt Strukturwandel. Stuttgart: Schattauer; 2015
  • 7 Mendez-Tellez PA, Needham DM. Early physical rehabilitation in the ICU and ventilator liberation. Respir Care 2012; 57: 1663-1669
  • 8 Prosiegel M, Riecker A, Ledl C et al. Neurogene Dysphagien. Düsseldorf: AWMF; 2015