Im Rahmen schwerer psychischer Störungen können Betroffene für sich und andere eine
Gefahr darstellen. Dies findet seinen Niederschlag in den Psychisch-Kranken-Gesetzen
der Länder, in denen unter anderem die Voraussetzungen für eine Unterbringung in der
Psychiatrie auch gegen den geäußerten Willen geregelt sind. Mit dieser „Ordnungsfunktion“
hatten die psychiatrischen Anstalten sich lange Zeit gut arrangiert.
Unter anderem gehörte die Zwangsmedikation zu den Routinen der Krisenintervention
bei psychotisch erregten, bedrohlich auftretenden Patienten.
Die im Jahre 2008 verabschiedete und auch von Deutschland ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention
hat eine verstärkte Debatte über psychiatrische Zwangsmaßnahmen angestoßen. BVerfG
und BGH kamen in wegweisenden Entscheidungen zu der Feststellung, dass die bestehenden
gesetzlichen Regelungen für eine Zwangsbehandlung nicht ausreichend vor Grundrechtsverletzungen
schützen. Der Gesetzgeber hat daraufhin die Regelung für die Einwilligung des Betreuers
in eine ärztliche Zwangsmaßnahme den höchstrichterlichen Vorgaben angepasst (mit Gesetz
vom 18.2.2013, § 1906 BGB). Für die Praxis gilt allerdings, dass auch bei einem hoch
erregten, aggressiv auftretenden psychotischen Patienten, der einer Klinik zwangsweise
zugeführt wird, keine rasche medikamentöse (Zwangs-)Behandlung mehr erfolgen kann
(wenn nicht die Annahme eines rechtfertigenden Notstands naheliegt, ein rechtlich
allerdings „dünnes Eis“ [1]). Dies hat im Psychiatriealltag zu Belastungen geführt, z. B. einer Zunahme aggressiver
Übergriffe durch einzelne Patienten [2].
In dieser Situation wird mit neuer Intensität darüber diskutiert, welche Versorgungskonzepte
geeignet sind, die Notwendigkeit von Zwang generell zu reduzieren. Ansätze, die schon
lange in der sozialpsychiatrischen Debatte eine Rolle spielen, finden verstärkte Beachtung,
namentlich Krisendienste, Deeskalationstechniken, Behandlungsvereinbarungen, Hometreatment
u. a. m. [1]. Eine „Ethische Stellungnahme der DGPPN“ vom 23.9.2014 untersucht die Konflikte,
die sich aus der „Doppelrolle der Psychiatrie“ für die dort Tätigen ergeben und setzt
sich mit den vorgenannten Konzepten auseinander. Während diese Stellungnahme es bei
der differenzierten Analyse belässt, wird ihr federführender Autor in einem Beitrag
für die Zeitschrift Nervenarzt deutlicher [3]. In diesem setzt er sich mit „Selbstbestimmungsfähigkeit“ auseinander (Informationsverständnis,
Urteilsvermögen, Krankheitseinsicht, Behandlungseinsicht, Entscheidungsfähigkeit).
Wenn ein in diesem Sinne selbstbestimmungsfähiger (d. h. ja: ziemlich gesunder) Patient
gegen seinen Willen untergebracht sei und eine Behandlung ablehne, so müsse man fragen,
ob die Klinik für ihn der richtige Platz ist. Solche Patienten beeinträchtigten eine
„optimale stationäre psychiatrische Behandlung“, belasteten das therapeutische Milieu,
könnten Personal und Mitpatienten durch bedrohliches bzw. gewalttätiges Verhalten
gefährden und erschwerten es den Krankenhäusern, sich auf ihre Kernaufgabe, die Krankenbehandlung,
zu konzentrieren. Für entsprechende Patienten sollten Sondereinrichtungen geschaffen
werden.
Dem Tenor dieser Stellungnahme entspricht in Grundzügen ein „Eckpunktepapier“ der
DGPPN vom 9.5.2015, welches Empfehlungen für die Novellierungen der Psychisch-Kranken-Gesetze
gibt. Punkt 4 des Papiers lautet: „Die öffentlich-rechtliche Unterbringung in einem
psychiatrischen Krankenhaus ist nur dann und nur so lange statthaft, als sie auch
der Behandlung dient. Eine vorläufige Unterbringung bis zur Klärung der Frage, ob
eine Erfolg versprechende Behandlung möglich ist, sollte befristet genehmigungsfähig
sein.“ Dies hieße in der Konsequenz, dass die Allgemeinpsychiatrie sich von einer
verbindlichen Sicherungs- und Schutzfunktion verabschiedet. Ein wegen Fremdgefährlichkeit
untergebrachter Patient, der sich konsequent der Behandlung verweigert, dürfte von
der Klinik entlassen werden (oder wäre in eine noch zu schaffende „Sondereinrichtung“
zu verlegen).
In einer berufsethischen Analyse fokussiert auch Pollmächer [4] auf den zur freien Willensbestimmung fähigen psychisch kranken Patienten, der sich
der Behandlung verweigert. Ihm gegenüber Zwangsmaßnahmen durchzusetzen, widerspreche
dem ärztlichen Ethos. Aber welcher akut psychisch kranke und fremdgefährliche Patient
ist im oben zitierten Sinne selbstbestimmungsfähig? Der Zustand einer schweren psychiatrischen
Störung schließt von der Natur her einen Verlust von Selbstbestimmung und Selbstverfügbarkeit
ein [5]. Wenn erhebliche Rechtsgüter bedroht sind, ist es eine Pflicht des Gemeinwesens,
vorübergehend (fremdbestimmte) Fürsorge zu leisten. Dem entspricht die geltende Rechtslage.
Auch besteht in solchen Fällen zwischen Behandlung im Interesse des Patienten und
im Interesse des Gemeinwesens kaum ein Widerspruch. Es gilt ja nicht nur, Dritte zu
schützen, häufig Familienangehörige, sondern auch den Patienten selbst – vor den bisweilen
existenziellen Folgen einer rechtswidrigen Tat.
Man fragt sich, warum gerade in der aktuellen Situation anspruchsvolle Abhandlungen
über die ethischen Grenzen von Zwang in der Psychiatrie vorgelegt werden [3]
[4], und dies nicht zu Zeiten geschah, als etwa die Zwangsmedikation zu den selbstverständlichen
Routinen gehörte. Die Debatte ist wohl auch Ausdruck eines gekränkten Reflexes auf
die Einschränkungen, die durch Rechtsprechung und Gesetzgeber erfolgten, nach dem
Motto: „Wenn man uns die Mittel nimmt, Problempatienten gemäß unseren etablierten
Maßstäben zu behandeln, dann mögen sich doch bitte andere kümmern.“ Dieser Reflex
ist angesichts des herausfordernden und belastenden Klinikalltags prinzipiell nachvollziehbar.
Die gesellschaftliche Aufbruchsstimmung der 70er-Jahre erfasste auch das psychiatrische
Versorgungssystem. Kontrovers wurde debattiert, ob die stationäre Psychiatrie ihren
Auftrag auf offenen Stationen und ohne jeden Zwang erfüllen kann [6]. Dieses Ideal prägte die Konzeption vieler neuer psychiatrischer Abteilungen. Parallel
zur Öffnung und Liberalisierung der Allgemeinpsychiatrie gab es allerdings einen deutlichen
Anstieg der Unterbringungen in der forensischen Psychiatrie. Schanda [7] sprach von einer international „verblüffend uniformen Technik der Verlagerung bestimmter
Patienten in den forensisch-psychiatrischen Bereich“ (S. 72). Diese Technik besteht
nicht in der „Abschiebung in die Forensik“, welche allgemeinpsychiatrischen Kliniken
ja auch rechtlich nicht zusteht. Viel häufiger wird hingenommen, dass nach PsychKG
untergebrachte, deliktgefährdete, „unmotivierte und krankheitsuneinsichtige“ Patienten
die Klinik – nach Abgabe einer Freiwilligkeitserklärung – gegen ärztlichen Rat verlassen
[8].
Folgte der Gesetzgeber bei der Novellierung von Psychisch-Kranken-Gesetzen dem Eckpunktepapier,
so würde die Rechtslage einer problematischen Praxis angepasst. Ohne Zweifel sind
offene Abteilungen der Gemeindepsychiatrie mit manchen untergebrachten Doppel- und
Dreifachdiagnose-Patienten überfordert und bedarf es differenzierter Behandlungsangebote.
Darum ist eine neue Debatte über Versorgungsstrukturen und notwendige Ressourcen wichtig,
die die Psychiatrie tatsächlich in die Lage versetzt, allen Aspekten ihrer Versorgungsverantwortung
gerecht zu werden [9]. Keine Lösung ist es, diese einzuschränken und die Ausgrenzung von Problempatienten
aus der – selbstverständlich auch fachärztlichen – Versorgung zum rechtlichen Prinzip
zu machen.