kma - Klinik Management aktuell 2014; 19(12): 30-32
DOI: 10.1055/s-0036-1577558
Politik
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart

Denn sie wissen nicht, was sie bekämpfen

Obamacare
Martina Merten
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Publication Date:
08 March 2016 (online)

 

    Fast jeder zweite US-Bürger lehnt Obamacare ab. Freiheitsberaubung – so die einhellige Meinung. Das ist merkwürdig. Denn der Staat nimmt bei näherer Betrachtung schon seit vielen Jahrzehnten Einfluss auf das Gesundheitssystem.


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    Die Reaktion der US-Bürger auf die 2010 beschlossene Gesundheitsreform hat selbst den Liberalen und ehemaligen Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr in Staunen versetzt. „Es sind nach wie vor sehr viele Amerikaner, seien es Taxifahrer, Journalisten, Politiker oder Lobbyisten, die es als freiheitsberaubend empfinden, dass der Bundesstaat von ihnen verlangt, sich zu versichern“, sagt Bahr, der nach seiner Amtszeit einige Monate US-Präsident Barack Obama beraten hat und inzwischen Generalbevollmächtigter bei der Krankenversicherungstochter der Allianz ist. Dabei seien die USA noch immer weit von einem staatlichen System entfernt, findet Bahr. Schließlich gebe es noch immer die freie Wahl der Versicherung und den Selbstbehalt.

    Doch der Einfluss des Staats auf das Gesundheitssystem ist in den USA ein weitaus größeres Thema als in Deutschland. Zu Wahlkampfzeiten kursierte im Zusammenhang mit den im Affordable Care Act (ACA) beschlossenen Reformen immer wieder der Begriff der „Staatsmedizin“ (socialized medicine). Republikaner nutzten jede Gelegenheit, die Reformen von Barack Obama – allen voran das Mandat, sich versichern zu müssen – als Sozialismus zu deklassieren, als Zwangsjacke, die an alte Ostblockzeiten erinnere. Gute vier Jahre, nachdem Obama seine Unterschrift unter den ACA gesetzt hat, decken die Meinungen von US-Gesundheitsexperten noch immer das gesamte Spektrum an Wahrnehmungen ab.

    So ist etwa Taylor Burke, Privatdozent für Gesundheitspolitik und Recht an der George Washington Universität, überzeugt, dass Obamacare an der marktwirtschaftlichen Ausrichtung des amerikanischen Gesundheits­systems nichts geändert hat. „Es sind noch immer Privatversicherungen und Privatärzte erlaubt“, sagt Burke, der auch das US-Gesundheitsministerium berät. Das einzig staatliche an Obamacare seien die Subventionen, die bestimmte Versichertengruppen vom Staat bei Abschluss einer neuen Versicherung erhielten. Auch Caroline Poplin geht Obamacare nicht weit genug. „Das einzige, was Sinn gemacht hätte, wäre Medicare für alle gewesen“, sagt die Ärztin und Juristin, die neben ihrer Tätigkeit an einem Militärkrankenhaus auch in einer Anwaltskanzlei arbeitet. Noch immer würden Krankenversicherungen Patienten mit Vorerkrankungen ausschließen – allerdings auf etwas geschicktere und weniger offensichtliche Weise als vor dem Affordable Care Act. Völlig konträrer Meinung ist dagegen Michael Cannon: Alles an Obamacare erinnere an Staatsmedizin, so der Direktor für gesundheitspolitische Studien am libertären Cato Institute in Washington. Der Staat kaufe ein privates Produkt, sprich die neuen Versicherungen, entscheide dann aber, was das Produkt koste. Er bestimme auch, welche Leistungen das Produkt abdecke. „Mit Obamacare hat der Staat die Führung über die private Krankenversicherungsindustrie übernommen.“ Der Versicherte selbst habe keinerlei Entscheidungsfreiheiten mehr.

    Die Angst vor der Staatsmedizin ist in den USA weit verbreitet
    Die Meinung nahezu der Hälfte aller Amerikaner ist allerdings unverändert geblieben. Eingriffe des Staats sind unbeliebt, zeigen Umfragen. Was aus europäischer Sicht schwer nachvollziehbar scheint, hat Paul Starr, Professor für Soziologie an der Princeton Universität, in vielen seiner Studien und Publikationen analysiert. „In der Ablehnung der Amerikaner von staatlichen Eingriffen zeigt sich ein philosophischer Grundkonflikt: Ich habe meine Versicherung verdient, also gehört sie nur mir. Oder aber: Jeder zahlt für die Versicherung eines jeden.“ Da die Amerikaner weitaus schwächere Gewerkschaften hatten als die Europäer und keine sozialistisch ausgerichteten Parteien, hat sich Starr zufolge auch das Gesundheitssystem anders entwickelt. Bis zur Einführung von Medicare Mitte der 60er Jahre sei jede Form von Staatseinfluss abgelehnt worden, auch von Seiten der Amerikanischen Ärztekammer, unterstreicht der Pulitzerpreis-Träger.

    Für Gesundheitsökonom Uwe Reinhardt, ebenfalls Professor in Princeton, geht die starke Ablehnung staatlicher Eingriffe in Amerika auf den Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg im 18. Jahrhundert zurück. Die Leute wollten unabhängig und frei von der Kolonialmacht England und König George III. sein, so Reinhardt. Sie konnten sich nur auf sich selbst, ihre Waffe und vielleicht noch den unmittelbaren Nachbarn verlassen. „Dieses Streben nach Unabhängigkeit vom Staat findet man bis heute bei vielen Amerikanern. Sie wollen nicht, dass ihnen die Regierung vorgibt, was sie tun oder lassen sollen“, so der gebürtige Osnabrücker, der seit vielen Jahrzehnten in den USA lebt und lehrt.

    Über diesen Freiheitsdrang hinaus sieht Reinhardt noch einen weiteren Grund für die ausgeprägte Ablehnung vieler Amerikaner. „Die Leute wissen gar nicht, was Staatsmedizin (socialized medicine) eigentlich ist.“ Einst, berichtet Reinhardt, habe ein Senator vehement gegen „socialized medicine“ gewettert. Wenn Staatsmedizin etwas so Schlechtes ist, entgegnete Reinhardt dem Senator, warum sind dann beinahe neun Millionen US-Veteranen über die Veterans Health Administration versichert? Diese sei schließlich die reinste Form von Staatsmedizin, da der Staat nicht nur die Versicherung besitze, sondern sie auch betreibe. „Für viele Amerikaner ist es schwer, Begrifflichkeiten zu verstehen und zu unterscheiden. Sie wissen gar nicht, was das Wort ‚sozial‘ bedeutet“, glaubt Reinhardt. Daher sei es auch so einfach für Politiker, die breite Masse gezielt falsch zu informieren. Und diese breite Masse hat Reinhardt zufolge keine Zeit, sich um korrekte Informationen zu kümmern. Schließlich seien Amerikaner die am härtesten arbeitende Bevölkerung innerhalb der OECD.

    Diese Unwissenheit zeigt sich auch in Umfragen, sagt Robin Osborn, Vize-Präsidentin des Internationalen Programms für Gesundheitspolitik und Gesundheitsinnovationen beim Commonwealth Fund. „Zwei Drittel aller Befragten wussten einer Studie aus 2013 zufolge noch immer nicht, was der Affordable Care Act eigentlich beinhaltet“, so Osborn. 2016 steht die nächste große Umfrage des Commonwealth Fund zur Zufriedenheit der Amerikaner mit Obamacare an – zwei weitere Jahre also, um sich mit den Veränderungen vertraut zu machen.

    Auch wenn es vielen Amerikanern nicht bewusst ist: Das US-Gesundheitswesen ist in weiten Teilen schon länger staatlich gesteuert und nicht erst seit Obamacare. Rund 31 Prozent der Amerikaner sind über staatliche Programme versichert. Die Kosten, die für diese Programme anfallen, machen 46 Prozent der Gesamtausgaben für Gesundheit am Bruttoinlandsprodukt aus, so Reinhardt in seinem Aufsatz „Divide et Impera: Protecting the growth of health care incomes“, der 2012 in der Zeitschrift „Health Economics“ erschien.

    Medicare und Medicaid sind staatlich gesteuert
    Rund 15 Prozent der staatlich krankenversicherten Amerikaner beziehen Medicare, das Mitte der 60er Jahre eingeführte Programm für die über 65-Jährigen. Rund 16 Prozent der Amerikaner erhalten Medicaid, eine zur selben Zeit wie Medicare eingeführte staatliche Krankenversicherung für Bedürftige. Die Leistungskataloge dieser beiden Programme sind staatlich festgelegt. Durch Obamacare wurde die Einkommensgrenze für Medicaid heraufgesetzt, sodass sich die Zahl der Bezieher erhöht. Die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung ist über eine der mehr als 2.000 großen und kleinen Privatversicherungen über ihren Arbeitgeber versichert. Verlieren sie ihre Arbeitsstelle, verlieren sie auch ihre Versicherung. Nur eine Minderheit hatte sich vor Obamacare selbst – unabhängig vom Arbeitgeber – versichert. Seit Inkrafttreten des ACA besteht eine Pflicht zur Versicherung, wenngleich die Strafen für diejenigen, die sich nicht versichern, im Vergleich zu den Kosten für eine neue Versicherung noch immer niedrig sind. Bis zum Frühjahr hatten, so schätzt das US-Gesundheitsministerium, rund acht Millionen Amerikaner über Internetmarktplätze verschiedene Formen von Privatversicherungen abgeschlossen, für die sie je nach Einkommensstand vom Staat bezuschusst werden. Das fehlende Wissen der Amerikaner über ihr eigenes Gesundheitssystem wirkt sich nach Ansicht von Ökonom Reinhardt auch auf die Preise im System aus: Das US-Gesundheitswesen ist das teuerste der Welt. 17,6 Prozent (gemessen am BIP) wurden 2010 in den Staaten für Gesundheit ausgegeben. Diese Ausgaben werden sich in den nächsten Jahren weiter nach oben entwickeln. Zu diesem Schluss kommt der Congressional Budget Office, eine Behörde des US-Kongresses, die die Ausgaben innerhalb eines Haushaltsjahres schätzt und prüft.

    Preise sind nicht festgelegt und oft exorbitant
    Hauptgrund für diese hohen Ausgaben sind die vielfach höheren Preise für medizinische Prozeduren wie Operationen oder technische Diagnoseverfahren. Sie sind nicht wie in Deutschland allgemein festgelegt, sondern Versicherung und Leistungserbringer verhandeln sie individuell. Die Nachfrageseite hat Reinhardt zufolge keinerlei Einfluss auf das Preisgeschehen.

    Wenn Obamacare sich als Erfolg herausstellt, glaubt Soziologe Starr, werde ähnlich wie bei Medicare am Ende keiner mehr wissen, dass es sich um ein staatliches Programm handelt. Susan Dentzer, ehemalige Chefredakteurin der Gesundheitszeitschrift „Health Affairs“ und heutige Senior-Politikberaterin bei der unparteiischen Robert Wood Stiftung, kommentiert den Status Quo des US-Gesundheitswesen so: „Wir haben bereits das am meisten verstaatlichte Gesundheitssystem der Welt – allerdings weiß es keiner.“


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