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DOI: 10.1055/s-0041-103315
Die Angst vor der Aminosäure: Atypische Essstörung bei angeborenem Enzymdefekt – Fall 2 / 2015
Anxiety driven atypical eating disorder in the course of phenylketonuriaZusammenfassung
Anamnese und klinischer Befund: Die Phenylketonurie ist die häufigste genetisch bedingt Störung im Aminosäurestoffwechsel. Wir berichten den Fall einer 22-jährigen Patientin, die neben einer Phenylketonurie komorbid psychische Symptome entwickelt hat. Die Patientin wurde früh behandelt, die Phenylalaninspiegel der Patientin wurden regelmäßig kontrolliert und waren im Zielbereich.
Untersuchungen: Im explorativen Gespräch sowie der psychometrischen Testdiagnostik zeigte sich eine atypische Essstörung sowie eine Angststörung
Diagnose, Therapie und Verlauf: Es ist davon auszugehen, dass neben nicht auszuschließenden toxischen Effekten, psychosoziale Faktoren bei der Entstehung der psychischen Symptome eine Rolle spielen.
Folgerung: Essstörungssymptome bzw. Angststörungen im Zusammenhang mit einer Phenylketonurie werden möglicherweise zu selten wahrgenommen.
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Abstract
History and admission findings: Phenylketonuria is the most common genetic disease in amino acid metabolism. We report the case of a 22-year old patient with phenylketonuria and psychological symptoms. After early treatment, phenylalanine levels had been controlled and were within target area.
Investigations: Clinical interview and psychometrics showed atypical eating disorder and anxiety disorder.
Diagnosis, treatment and course: Possible toxic effects and psychological factors may play a role in pathogenesis.
Conclusions: Most likely the frequency of eating disorders and anxiety disorders in phenylketonuria is underestimated.
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Eine Phenylketonurie führt unbehandelt zur irreversiblen Beeinträchtigung der Entwicklung. Die Folge ist eine schwere mentale Retardierung. Doch auch bei behandelten Patienten treten häufig psychische Beeinträchtigungen auf. Daran sind neben organische Veränderungen psychosoziale Faktoren beteiligt – wie der hier vorgestellte „Tübinger Fall“ zeigt. Die ausführliche Beschreibung des Falls mit detaillierten Informationen zur Phenylketonurie finden Sie im Internet.
Aktuelle Anamnese | Die 22-jährige Patientin mit Phenylketonurie (PKU) stellte sich in unserer psychosomatischen Ambulanz vor – ihre Angehörigen hatten ihr dazu geraten. Sie litt seit 7 Jahren unter Panikattacken und seit 3 Jahren unter sozialen Ängsten; sie zog sich sozial zurück.
Auch ihr Essverhalten war auffällig:
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Außerhalb der Wohnung nahm sie keine Nahrung auf.
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Sie kontrollierte ihr Essverhalten:
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Auslassen von Mahlzeiten
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Heißhungerattacken (ohne kompensatorische Maßnahmen)
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Verlauf der Phenylketonurie | Bis zur aktuellen Aufnahme wurde die Patientin durchgehend an einer Kinderklinik mit Stoffwechselzentrum für angeborene Stoffwechselstörungen betreut.
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Sie ernährte sich seit der Kindheit phenylalaninarm.
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Entwicklungsschritte in Kindheit und Adoleszenz wurden erreicht.
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Es lagen keine kognitiven Einschränkungen vor.
Psychometrische Tests | In den allgemein-psychopathologischen und störungsspezifischen Skalen (EDE-Q, EDI-2, FKB-20) zeigten sich passend zur Klinik erhöhte Werte im Bereich Ängstlichkeit sowie deutliche Auffälligkeiten in den essstörungsspezifischen Skalen bei hohem Stresserleben.
Diagnosen | Wir stellten folgende Diagnosen:
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Atypische Essstörung
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Panikstörung
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Soziale Phobie
Die Patientin entschied sich für Aufnahme einer ambulanten Psychotherapie.
Pathobiochemie der PKU | Bei der PKU liegt ein Defekt des Enzyms Phenylalaninhydroxylase vor, sodass Phenylalanin nicht in Tyrosin umgewandelt werden kann.
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Tyrosin wird zur essenziellen Aminosäure
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Der klinische Schweregrad hängt ab von der Restaktivität der Phenylalaninhydroxylase.
Folgen der PKU | Unbehandelt führt eine PKU spätestens nach dem 3. Lebensmonat zu irreversibler schwerer psychomotorischer Retardierung. Doch auch unter Behandlung kann es aufgrund intermittierender hoher Phenylalanin-Konzentrationen zu neuropsychologischen Auffälligkeiten kommen, die reversibel sind.
Pathogenese der mentalen Retardierung | Aufgrund der verminderten Umwandlung von Phenylalanin in Tyrosin
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konkurriert Phenylalanin mit anderen Aminosäuren um den Transport in das Gehirn. Die anderen Aminosäuren kommen in der Folge nicht in ausreichendem Maß in das Gehirn und die Myelinisierung ist gestört.
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ist die Synthese der Neurotransmitter Dopamin, Noradrenalin, Adrenalin und Melanin reduziert (es fehlt das Tyrosin).
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ist die Aufnahme von Tryptophan, das in Serotonin umgewandelt wird, über die Blut-Hirn-Schranke vermindert.
Prognose bei PKU | Bei einem frühen Beginn und konsequenter Diät ist die geistige Entwicklung normal. Trotzdem werden – wie im hier beschriebenen Fall – gehäuft Verhaltensauffälligkeiten festgestellt (ADHS, Depression, Angststörung).
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Die Phenylketonurie erfordert eine lebenslange herausfordernde Diät.
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Die Plasma-Phenylalaninspiegel korrelieren mit psychischen Symptomen und deren Schwere im Kindes- und Erwachsenenalter.
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Essstörungssymptome im Zusammenhang mit einer Phenylketonurie werden möglicherweise zu selten wahrgenommen.
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