Biologische Anpassung als Grundlage von Training
Um effektiv zu sein, muss Training eine Anpassungsreaktion auslösen, die zu einer
möglichst
großen Verbesserung der in s. Abb. 1 genannten Voraussetzungen der körperlichen
Leistungsfähigkeit führt.
Regelkreis Die biologische Grundlage einer solchen Anpassung bildet ein geregeltes
System, bestehend aus mindestens einem Messglied (Sensor oder Messfühler, erfasst
Ist-Wert), einem Regler (Komparator, vergleicht Ist- und Soll-Wert) und einem
Stellglied (wirkt der gemessenen Abweichung von Ist- zu Soll-Wert entgegen). Ein
derartiger Regelkreis reagiert auf eine Störgröße, die von außen eingebracht wird,
indem er
eine Korrektur der Regelgröße bewirkt.
Als Beispiel soll an dieser Stelle die Anpassung der Knochenmasse angeführt werden.
Die
Deformation des Knochens ist hier die Regelgröße. Die Regelgröße muss in einem definierten
Bereich liegen, damit Auf- und Abbauprozesse im Gleichgewicht (Homöostase) sind. Dies
ist z.
B. bei einem gesunden Menschen mit einer durchschnittlichen körperlichen Beanspruchung
im
Alltag der Fall. Wird der Mensch krank, erleidet er einen Unfall und bewegt sich weniger
oder muss gar längere Zeit im Bett liegen, wirken geringere Kräfte auf den Knochen,
und
dieser wird in der Folge weniger stark deformiert. Mechanosensoren registrieren die
Deformation und übermitteln diese Information an das zentrale Nervensystem. Von dort
werden
jetzt verstärkt knochenabbauende Zellen aktiviert und die Knochenmasse sinkt. Dieser
Prozess
wird so lange fortgeführt, bis die Regelgröße wieder im Sollbereich liegt [13]. Durch ein gezieltes Training, das z. B. begleitend während
einer längeren Bettruhe über mehrere Wochen durchgeführt wird, kann der inaktivitätsbedingte
Knochenabbau zum Teil verhindert werden [1].
Training bedeutet demnach die Inanspruchnahme von Leistungsvoraussetzungen mit dem
Ziel,
eine Regelgröße systematisch zu beeinflussen und dadurch eine biologische Anpassung
zu
erreichen [39]. Training lässt sich folgendermaßen
definieren: „Training ist die planmäßige und systematische Realisation von Maßnahmen
(Trainingsinhalte und Trainingsmethoden) zur nachhaltigen Erreichung von Zielen
(Trainingsziele) im und durch Sport“ [16].
Trainingsreiz und biologischer Regelkreis Um das Training möglichst effektiv im
Hinblick auf das zu erreichende Ziel planen zu können, müssten wir im Idealfall exakt
die
Wirkungen des Trainingsreizes im Hinblick auf die der gewünschten Anpassung zugrunde
liegenden biologischen Mechanismen kennen. Leider sind aber weder die Mechanismen
exakt
bekannt noch die Verbindungen zwischen Trainingsreizen und biologischen Regelkreisen.
In der Trainingswissenschaft nimmt man aus diesem Grund eine zugängliche messbare
Größe der
körperlichen Leistungsfähigkeit, z. B. die maximale Kraft oder die maximale
Sauerstoffaufnahme, und verwendet diese als Regelgröße. Der Messfühler ist die
Leistungsdiagnostik, mit der über einen Test die maximale Kraft oder eben die maximale
Sauerstoffaufnahme erfasst wird. Der Trainer oder Therapeut ist der Regler, der den
Ist-Wert
mit dem Soll-Wert abgleicht und auf Basis der gefundenen Abweichung das Training
(„Stellglied“) plant und durchführt.
Training der konditionellen Voraussetzungen
Je nach Sportart unterscheiden sich die Anforderungen an die konditionellen Voraussetzungen
erheblich.
Leistungserbringung Der ausschlaggebende Unterschied ist die Leistung, die über
einen bestimmten Zeitraum erbracht werden muss. Die mittlere Leistung und die Dauer,
in der
diese Leistung erbracht werden kann, sind dabei gegenläufig miteinander verbunden.
Je länger der Zeitraum der Leistungserbringung, desto geringer die mögliche mittlere
Leistung.
Dieser Zusammenhang lässt sich recht einfach an folgendem Beispiel verdeutlichen:
Gehen mit
5 km/h ist für einen gesunden Menschen mittleren Alters stundenlang möglich, joggen
mit 10
km/h ungefähr eine Stunde, laufen mit 20 km/h eine Minute und sprinten mit 30 km/h
10 s. Je
schneller ich mich fortbewege, desto mehr Leistung muss ich erbringen. Biomechanisch
bedeutet dies, dass ich mehr Energie in kürzerer Zeit zur Verfügung stellen muss.
Energiebereitstellung Hierfür ist in unserem Körper der Metabolismus (Stoffwechsel)
zuständig. Unser Herz-Kreislauf-System versorgt die arbeitende Skelettmuskulatur und
den
Herzmuskel mit Sauerstoff, der in der Muskelzelle verwendet wird, um die Energieträger
–
Kohlenhydrate und Fette – zu verstoffwechseln. Freie Fettsäuren stehen uns in sehr
großer
Menge zur Verfügung und können uns stundenlang mit Energie versorgen. Die
Stoffwechselprozesse sind aber langsam, und deshalb kann nur wenig Energie pro Zeit
zur
Verfügung gestellt werden; die Leistung ist gering. Die Speicherkapazität für Kohlenhydrate
ist im Vergleich zu den Fetten deutlich geringer, die Energiebereitstellung erfolgt
aber
schneller. Steigt die Leistung, werden demnach immer mehr Kohlenhydrate verstoffwechselt.
Stehen Kohlenhydrate nach z. B. einer Stunde nicht mehr in ausreichendem Maß zur Verfügung,
kann die Leistung nicht mehr aufrechterhalten werden – die Laufgeschwindigkeit muss
dann
reduziert werden.
Sauerstoffverbrauch Für kurzzeitige Aktivitäten, bei denen sehr hohe Leistungen
erforderlich sind, besitzen wir ein energielieferndes System, das zunächst ohne
Sauerstoffverbrauch auskommt. Im Gegensatz zu den oben beschriebenen aeroben
Energiegewinnungsprozessen nennt man es daher anaerobes System. Zunächst besteht die
Möglichkeit, Glukose (gewonnen aus Kohlenhydraten) ohne Sauerstoff zu verstoffwechseln.
Unter Sauerstoffmangel in der Muskelzelle wird Pyruvat, das durch die Glykolyse gewonnene
Abbauprodukt der Glukose, außerhalb des Mitochondriums weiter zu Laktat abgebaut.
Die
Energiebereitstellung ist dabei gering, verläuft aber mit einer deutlich höheren Rate
im
Vergleich zu aeroben Prozessen. Die Leistung kann deutlich erhöht werden.
pH-Wert Allerdings entstehen bei den zugrunde liegenden biochemischen Prozessen
H+-Ionen (in wässrigem Milieu Hydronium-Ionen, H3O+), der
pH-Wert in der Muskelzelle sinkt ab und das Zellmilieu übersäuert. Sinkt der pH-Wert
immer
weiter ab, werden für die Energiebereitstellung notwendige biochemische Reaktionen
verhindert und die Leistung muss stark reduziert oder gar abgebrochen werden.
Phosphatverbindungen Für höchste Leistungen sind in der Muskelzelle hochenergetische
Phosphatverbindungen gespeichert, wie das Adenosintriphosphat (ATP), das als primärer
Energieträger direkt an der Kraftentwicklung beteiligt ist, und das Kreatinphosphat
(KrP),
das zur sehr schnellen Resynthese von ATP dient. Die Energiebereitstellungsrate ist
bei
diesen anaeroben alaktaziden Prozessen sehr hoch, was dazu führt, dass eine sehr hohe
Leistung erbracht werden kann. Allerdings ist die Speicherkapazität im Muskel gering.
Bei
höchster Leistung sind die Phosphatspeicher deshalb nach ca. 10 s erschöpft.
Zusammenhang mit der Laufleistung Zur Verdeutlichung dieser metabolischen Grundlagen
der körperlichen Leistung werden die Anteile der Energiebereitstellungssysteme in
Tab. 1
in einen Zusammenhang mit der Leistung beim Laufen (hier approximiert durch die mittlere
Laufgeschwindigkeit) und der Zeitdauer der Leistungserbringung gebracht [19].
Konditionelle Spezifität der Sportart Aus der Tabelle geht hervor, dass – in
Abhängigkeit von der mittleren Leistung – die Anteile der beteiligten
Energiebereitstellungssysteme unterschiedlich hoch sind. Die Leistung und die Zeitdauer,
über die diese Leistung erbracht wird, bedingen im Wesentlichen die konditionelle
Spezifität
der Sportart. So zeichnen sich beispielsweise Sportlerinnen und Sportler, die über
eine sehr
lange Zeit ihre Leistung durch aerobe Energiebereitstellungsprozesse gewährleisten
müssen,
durch eine hohe maximale Sauerstoffaufnahmekapazität (VO2max) aus
(Marathonläufer, Radfahrer, Triathleten, Skilangläufer). Während Sportlerinnen und
Sportler,
die über eine kurze Zeit sehr hohe Leistungen durch anaerobe Energiebereitstellungsprozesse
gewährleisten müssen, in der Regel eine deutlich höhere Muskelmasse aufweisen (Sprinter,
Turner, Judokas, Gewichtheber).
Tab. 1
Laufstrecke und Weltrekordzeit geben den Umfang der sportlichen Leistungserbringung
an. Die mittlere Laufgeschwindigkeit kann als Maß der mittleren Leistung angesehen
werden. Je höher die Leistung ist, umso größer der anaerobe Anteil der
Energiebereitstellung.
Lauf
|
Zeit (WR)
|
Mittlere Laufgeschwindigkeit
|
ATP/KrP
|
Anaerob-glykolytisch
|
Aerob
|
Marathon
|
2 h 02’57“
|
20,5 km/h
|
5
|
5
|
90
|
10000 m
|
26’17“
|
22,8 km/h
|
5
|
15
|
80
|
5000 m
|
12’37“
|
23,8 km/h
|
10
|
20
|
70
|
3000 m
|
7’20“
|
24,5 km/h
|
20
|
40
|
40
|
1500 m
|
3’26“
|
26,2 km/h
|
20
|
55
|
25
|
800 m
|
1’40“
|
28,8 km/h
|
30
|
65
|
5
|
400 m
|
43,18
|
33.3 km/h
|
80
|
15
|
5
|
200 m
|
19,19
|
37,5 km/h
|
95
|
2
|
3
|
100 m
|
9,58
|
37,6 km/h
|
95
|
3
|
2
|
In verschiedenen Sportarten sind je nach Anforderungsprofil der Sportart unterschiedliche
Trainingsinhalte und Reizkonfigurationen erforderlich (s. [Abb.
2]).
Abb. 2 Training der konditionellen Voraussetzungen anhand der
Belastungsnormative Intensität, Umfang und Pausendauer. Über eine entsprechende
Reizkonfiguration, bei der die Intensität individuell auf die Regelgröße abgestimmt
sein
muss, kann ein gezieltes Training der zugrunde liegenden Energiestoffwechselprozesse
erzielt werden. Die sechs angeführten Methoden stellen die klassischen Trainingsmethoden
mit weitgehend standardisierten Reizkonfigurationen dar. (Grafik: Adrian Cornford,
Reinheim)
Trainingsintensität Dabei kommt der Trainingsintensität eine herausragende Bedeutung
zu, denn sie bestimmt im Wesentlichen die abgerufene Leistung und damit den
trainingswirksamen Reiz. Die Intensität muss für das Individuum relativ zur persönlichen
Leistungsfähigkeit definiert werden. Ein biologischer Regelkreis pendelt sich nämlich
immer
wieder neu auf den aktuellen Leistungszustand einer Person ein und befindet sich dann
in
Homöostase. In diesem Zustand befinden sich aufbauende und abbauende Prozesse im
Gleichgewicht, der Leistungszustand ändert sich nicht.
Ein trainingswirksamer Reiz muss auf die individuelle Leistungsfähigkeit (Regelgröße)
bezogen sein, um für jedes Individuum eine ähnliche Anpassung zu erreichen.
Es ist offensichtlich, dass ein Olympiasieger über 800 m eine andere Geschwindigkeit
laufen
muss, wenn er die intensive Intervallmethode anwendet, als ein breitensportlich orientierter
Läufer. Die Festlegung der Laufgeschwindigkeit für die beiden unterschiedlich
leistungsfähigen Sportler gelingt über die Definition der Intensität relativ zum
individuellen Leistungsmaximum.
Regelgrößen Als konkrete Regelgrößen bieten sich zur Verbesserung der aeroben
Leistungsfähigkeit durch „Ausdauertraining“ die maximale Sauerstoffaufnahmekapazität
(VO2max), die Laktatkonzentration im venösen Blut oder die Herzfrequenz und im
therapeutischen Bereich auch die Selbsteinschätzung des Patienten über die Borg-Skala
an
[10]. Für die Trainingsgestaltung zur Verbesserung der
anaeroben Leistungsfähigkeit wird für die Bestimmung der Intensität im „Krafttraining“
im
Leistungssport das Einerwiederholungsmaximum („one repetition maximum“, 1-RM) direkt
bestimmt, während im Gesundheitssport und in der Trainingstherapie das 1-RM häufig
über die
Anzahl der Wiederholungen mit submaximalen Gewichten berechnet wird [27].
Leistungsdiagnostik Die Bestimmung der oben angeführten Parameter erfolgt durch eine
Leistungsdiagnostik. Beispielsweise können in einem Stufen- oder Rampentest auf einem
Radergometer mittels Spirometrie, Laktatanalytik und Pulsmessung die Sauerstoffaufnahme,
die
Laktatkonzentration und die Herzfrequenz bei ansteigender Leistung gemessen werden.
Daraus
lassen sich anschließend die benötigten individuellen Vorgaben für die unterschiedlichen
Trainingsbereiche ableiten (s. [Abb. 2]).
Training der konditionellen Voraussetzungen in der Neurorehabilitation
Patienten in der Neurorehabilitation besitzen im Allgemeinen deutlich geringere
konditionelle Voraussetzungen im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen [33]. Nach dem Qualitätsgesetz sollte das niedrige
Ausgangsniveau eine schnelle und prozentual hohe Leistungssteigerung und damit eine
gute
Trainierbarkeit ermöglichen.
In der Rehabilitation von neurologischen Patienten muss im Gegensatz zum Training
mit
Gesunden beachtet werden, dass die körperliche Leistungsfähigkeit beeinträchtigt ist,
weil wichtige Teile des dafür zuständigen biologischen Systems geschädigt sind. Die
Schädigung kann dabei akut traumatisch entstehen, wie z. B. beim Schlaganfall, oder
sich
chronisch entwickeln, wie z. B. bei Multipler Sklerose (MS). Darüber hinaus sind
Komorbiditäten nicht selten. Eine Trainingsintervention muss deshalb in jedem Fall
auf
diese Ausgangsbedingungen abgestimmt werden. Grundsätzlich ist das biologische System
aber auch nach Schädigung oder im Krankheitsverlauf plastisch und anpassungsfähig.
Training bei MS Beispielhaft werden im Folgenden neuere Befunde zu
trainingsbedingten Anpassungen bei MS vorgestellt. So konnten eine erhöhte maximale
Sauerstoffaufnahmekapazität (13 %) und eine erhöhte Gangstrecke (60 %) nach aerobem
Ausdauertraining nachgewiesen werden [32] sowie eine erhöhte
willkürliche neuromuskuläre Aktivität (40 %) und eine größere Maximalkraft (20 %)
nach
einem intensiven Krafttraining [11]. In systematischen
Überblicksartikeln und Metaanalysen konnten diese Effekte mit einem noch höheren
Evidenzgrad belegt werden. Zusätzlich wurden Verbesserungen bei Alltagstätigkeiten,
den
„Activities of Daily Living (ADLs) berichtet, während insgesamt keine Evidenz für
negative
Effekte gefunden werden konnte [6].
Es ist darüber hinaus bekannt, dass körperliche Aktivität und sportliches Training
nicht
nur wichtige konditionelle Voraussetzungen der körperlichen Leistungsfähigkeit wie
neuromuskuläre Kraft und Leistung oder die Ausdauer verbessern, sondern darüber hinaus
das
psychische und das soziale Wohlbefinden steigern können. Trainingstherapeutische Maßnahmen
bei Multipler Sklerose unter Beachtung der krankheitsspezifischen Charakteristika
(z. B.
Überhitzung zu vermeiden) können daher empfohlen werden [24].
Das Beispiel „Multiple Sklerose“ eignet sich hierbei hervorragend, um den Stellenwert
trainingswissenschaftlicher Erkenntnis zu verdeutlichen. Denn erst durch die Kenntnisse
um
individualisierte zielgerichtete und dadurch effektive Trainingsinterventionen konnten
in
grundlegenden wissenschaftlichen Studien die notwendigen positiven Befunde generiert
werden, um diese Intervention zu etablieren und vorhandene Bedenken gegen ein körperliches
Training bei diesem Krankheitsbild auszuräumen.
Es darf an dieser Stelle nicht vergessen werden, dass sich Plastizität und
Anpassungsfähigkeit nicht nur darauf bezieht, Leistungsvoraussetzungen durch Training
zu
verbessern, sondern auch diese durch inaktives Verhalten nach dem Prinzip „use it
or
lose it“ zu mindern.
Bettruhestudien Inaktivität kann damit zu einem Hauptproblem der Patienten werden.
Wir wissen aus sogenannten Bettruhestudien, dass während körperlicher Inaktivität
selbst
bei Gesunden alle Leistungsparameter drastisch zurückgehen. Die maximale Leistung
der
Beinmuskulatur etwa geht nach achtwöchiger Bettruhe bei Gesunden um ca. 25 % zurück
[2] und die maximale Sauerstoffaufnahmekapazität
VO2max bereits nach zwei Wochen um ca. 10 % [5].
Lediglich sehr intensive Trainingsinterventionen sind in der Lage, bei einem Teil
der
Parameter (z. B. VO2max) die Abnahme zu verhindern. So sollten z. B.
Astronauten und Kosmonauten, die sich in Schwerelosigkeit auf der internationalen
Raumstation (ISS) aufhalten, ca. 4 Stunden pro Tag trainieren, um die
inaktivitätsbedingten Verluste der aeroben und anaeroben Kapazität in annehmbaren
Grenzen
zu halten [45].
Intensives Training Es ist davon auszugehen, dass bei einem Patienten, der z. B.
einen Schlaganfall erlitten hat, neben der direkten Schädigung, die zu motorischen
Einschränkungen und einer verminderten körperlichen Leistungsfähigkeit führt, diese
weiter
durch die liegende oder sitzende Haltung ohne körperliche Aktivität negativ beeinflusst
wird. In so einem Setting finden aus sportwissenschaftlicher Sicht therapeutische
Maßnahmen oft schlicht in einem zu geringen Umfang statt, um effektiv einer
inaktivitätsbedingten Verschlechterung der körperlichen Leistungsfähigkeit entgegenwirken
zu können [25]. Um dem zu begegnen, wird in der
Neurorehabilitation in neueren Publikationen oft ein intensives Training („intensive
practice“) eingefordert [47], [20]. Gemeint ist aber hier insbesondere der Trainingsumfang, also die Zeit, die
z. B. pro Tag trainiert wird, und weniger die Trainingsintensität, also die Leistung
in
Relation zur maximalen Leistung, bei der trainiert werden kann.
Ein umfangbetontes Training sollte möglichst frühzeitig im Verlauf der Rehabilitation
–
z. B. nach Schlaganfall – erfolgen, um die ablaufenden Regenerationsprozesse zu fördern
und zu verhindern, dass diese durch Inaktivität behindert oder sogar verhindert
werden.
Training der koordinativen Voraussetzungen
Sportlerinnen und Sportler aus Sportarten, die ein sehr vergleichbares konditionelles
Anforderungsprofil aufweisen, besitzen durchaus auch vergleichbare basale konditionelle
Voraussetzungen (z. B. eine vergleichbar hohe VO2max).
Sportartspezifische Leistung Trotz einer vergleichbar hohen aeroben Kapazität wird
ein Marathonläufer eine deutlich geringere Leistungsfähigkeit in anderen Sportarten
im
Vergleich mit den jeweiligen Sportartspezialisten, wie z. B. mit einem Radfahrer,
Ruderer
oder Skilangläufer, aufweisen. Grund sind koordinative Voraussetzungen, die sogenannte
sportartspezifische Technik, die zusammen mit den konditionellen, konstitutionellen
Voraussetzungen und den psychischen Faktoren im Wesentlichen die sportartspezifische
Leistung determinieren (s. [Abb. 1]). Je größer der Einfluss
der sportlichen Technik wird, umso geringer wird der Übertrag in eine andere Sportart.
Turner, Judokas und Gewichtheber weisen alle eine ausgeprägte anaerobe Leistungsfähigkeit
auf, können diese aber aufgrund der sportartspezifischen technischen Anforderungen
kaum in
die anderen genannten Sportarten übersetzen. In diesem Zusammenhang spricht man
umgangssprachlich gerne von Sportartspezialisten.
Bewegungsfertigkeit Die Bewegungsfertigkeit, die einer sportlichen Technik zugrunde
liegt, zu definieren, ist nicht trivial. Schmidt und Lee [38]
definieren eine motorische Fertigkeit auf der Verhaltensebene. Es ist für sie die
„Fähigkeit, ein Bewegungsziel mit maximaler Präzision und minimalem Energie- und Zeitaufwand
zu erreichen“ (übersetzt durch die Verfasser). In der Motorikforschung zielen die
Definitionen stärker auf die motorische Ausführungsebene ab. Nach Kitago und Krakauer
[20] ist es beispielsweise die „Fähigkeit, eine genaue
Bewegungsausführung verlässlich zu reproduzieren“.
Bewegungsgeschwindigkeit Als wichtiges Charakteristikum ist festzuhalten, dass die
Präzision der Bewegung oder die Geschwindigkeit der Bewegung allein jeweils kein Kriterium
für die Qualität der Bewegungsfertigkeit darstellen. Geschwindigkeit und Präzision
stehen in
einem inversen Verhältnis zueinander. So erhöht sich die Fehlerrate, wenn Studienteilnehmer
aufgefordert werden, die Bewegungsgeschwindigkeit zu erhöhen, und die
Bewegungsgeschwindigkeit wird reduziert, wenn sie aufgefordert werden, die Bewegung
präziser
auszuführen.
Um bei einer Bewegungsfertigkeit eine hohe Präzision in Kombination mit einer hohen
Bewegungsgeschwindigkeit in einer sportlichen Technik, wie z. B. einem Wurf im Basketball,
einem Salto im Turnen oder einem Rückhandschlag im Tennis, zu erlangen, muss die
Bewegungsausführung zunächst erlernt und dann in jahrelangem Techniktraining
perfektioniert werden.
Motorisches Lernen: Definition Eine Definition von motorischem Lernen ist ähnlich
schwierig zu formulieren wie die der Bewegungsfertigkeit selbst, da das Lernen an
sich nicht
beobachtbar ist. Schmidt und Lee [38] kommen aufbauend auf den
Charakteristiken von Lernprozessen zu folgender Definition (übersetzt durch die Verfasser):
„Motorisches Lernen ist die Summe der Anpassungsprozesse, die durch Training oder
Erfahrung
ausgelöst werden und zu relativ dauerhaften Veränderungen von Bewegungsfertigkeiten
führen.“
Motorische Lernphasen Beobachtet man den Lernprozess einer Bewegung (z. B. eines
Golfschlags) von der ersten Trainingseinheit bis zur Beherrschung in Perfektion, dann
erscheint dieser in abgrenzbaren Phasen zu verlaufen [12].
Meinel und Schnabel [30] haben aus einer
methodisch-didaktischen Sichtweise den langfristigen Lernprozess beim Technikerwerb
in
Anlehnung an die bereits vorhandenen Einteilungen in drei motorische Lernphasen
unterteilt:
-
In der ersten Phase, die als Grobkoordination bezeichnet wird, kann die
Bewegungsaufgabe nur bei sehr günstigen Bedingungen gelöst werden, wobei die
Bewegungsausführung dem Technikleitbild lediglich grob entspricht.
-
In der zweiten Phase, der Feinkoordination, kann die Bewegungsaufgabe bei normalen
Bedingungen ohne Probleme gelöst werden. Die Bewegung entspricht dabei dem
Technikleitbild und genügt den Bedingungen einer gut koordinierten Bewegung.
-
In der dritten Phase, der Feinstkoordination oder Feinkoordination unter variablen
Bedingungen, kann die Bewegungsaufgabe auch unter erschwerten Bedingungen mit großer
Sicherheit und Konstanz erfüllt werden. Bei sportlichen Bewegungen, die hohe
Anforderungen an koordinative oder auch konditionelle Voraussetzungen stellen, sind
dafür teilweise 10 Jahre oder mehr nötig (z. B. Golf), bei manchen Bewegungsfolgen
ist
eine so hohe Bewegungswiederholung oftmals überhaupt nicht zu erreichen (z. B.
Skisprung). Bei Alltagsaktivitäten (Essen mit Besteck) oder zyklischen Bewegungen
(Radfahren, Laufen etc.) schaffen wir dagegen im Laufe des Erwachsenwerdens ohne
Probleme eine entsprechend hohe Anzahl an Bewegungswiederholungen, die es uns erlaubt,
in den Bereich der Feinstkoordination zu kommen.
Power Law of Practice Zugrunde liegt das „Power Law of Practice“. Dieses Gesetz
besagt, dass der Übungsumfang, also die Anzahl an Bewegungswiederholungen, den Lernerfolg
determiniert, wenn die Übungsbedingungen vergleichbar sind. Die Lernkurve verläuft
dabei
nicht linear ansteigend, sondern zeigt ein beschränktes Wachstum. Zu Beginn ist deshalb
der
messbare Leistungszuwachs deutlich größer als in einem fortgeschrittenen Lernstadium.
In einer klassischen Studie aus dem Jahr 1959 konnte Crossman [38] nachweisen, dass die Zeit, die Arbeiter benötigten, um eine Zigarre
herzustellen, von der Anzahl an bereits hergestellten Zigarren und damit vom Übungsumfang
der Arbeiter abhängig war. So lag die mittlere Produktionszeit für eine Zigarre nach
10.000
hergestellten Zigarren bei ca. 25 s, nach 100.000 hergestellten Zigarren bei ca. 13
s, nach
1.000.000 Zigarren bei ca. 9 s und nach 10.000.000 Zigarren bei ca. 7 s. Später
durchgeführte Untersuchungen an Violinisten unterschiedlicher Könnensstufen, von
Violinschülern und Violinlehrern bis hin zu Profimusikern, bestätigen die herausragende
Stellung des hochrepetitiven Übens [9].
Aus dem „Power Law of Practice“ und der aktuellen Studienlage lässt sich schlussfolgern,
dass der Übungsumfang die absolut wichtigste Variable ist, die das Lernen beeinflusst.
Das
effektivste Vorgehen zur Verbesserung einer motorischen Fertigkeit scheint demnach
eindeutig die Steigerung der Wiederholungszahl in einer Trainingseinheit zu sein [20].
Steigender Übungsumfang Die dem Lernen hinterlegte exponentielle Gesetzmäßigkeit hat
dabei für die Bewegungsfertigkeit zwei direkte praktische Auswirkungen. Zu Beginn
des
Erlernens einer Bewegung sind schnelle Fortschritte erkennbar; um aber die koordinative
Leistung immer weiter zu steigern, muss mit steigendem Leistungsniveau ein immer größerer
Übungsumfang erfolgen. Spitzenleistungen in technisch anspruchsvollen Sportarten erfordern
daher eine mehrjährige Technikerwerbsphase und anschließend ein tägliches Training,
denn
bereits nach wenigen Tagen ohne Üben der Bewegungsfertigkeit können aufgrund der vorhandenen
Plastizität bereits Einbußen in der Präzision und Geschwindigkeit der Bewegungsausführung
entstehen.
Beschleunigung des Lernprozesses Um Lernmethoden und Lernbedingungen zu entwickeln,
die es ermöglichen, den Lernprozess unabhängig von der Übungshäufigkeit zu beschleunigen,
sind in den vergangenen Jahrzehnten eine Vielzahl von wissenschaftlichen Studien
durchgeführt worden. Die wichtigsten Erkenntnisse werden im folgenden Abschnitt vorgestellt
und diskutiert.
Kontext-Interferenz-Effekt Eine Lernbedingung, die sehr umfangreich untersucht
wurde, ist der Einfluss der Übungsabfolge auf die Lernleistung, bekannt unter dem
Namen
„Kontext-Interferenz-Effekt“ (contextual interference). Sollen in einer Trainingseinheit
mehrere Bewegungsfertigkeiten (z. B. A, B, C) trainiert werden, stellt sich die Frage,
wie
die beste Übungsabfolge dazu aussieht. Konkret: Soll die Übungsabfolge blockweise
erfolgen
(z. B. A, A, A; B, B, B; C, C, C) oder verteilt (z. B. A, C, B, C, A, B).
In der blockweisen Methode wird ein und dieselbe Bewegungsaufgabe mehrmals hintereinander
ausgeführt, während in der verteilten Methode immer unterschiedliche Bewegungsaufgaben
aufeinander folgen.
Die Studienlage hierzu ist eindeutig: Verteiltes Trainieren ist dem geblockten Trainieren
überlegen.
Dieses Ergebnis ist nicht trivial und wird in der Praxis häufig nicht beachtet. Der
Grund
hierfür liegt sehr wahrscheinlich darin, dass häufig fälschlicherweise die Verbesserung
in
der Bewegungsfertigkeit während der Aneignungsphase (in einer Übungseinheit) als
Lernleistung herangezogen wird und nicht die Verbesserung in der Bewegungsfertigkeit
zwischen zwei Trainingseinheiten (Behaltensleistung). Genau diese Behaltensleistung
(Retention) lässt aber Rückschlüsse auf das zugrunde liegende motorische Lernen zu
(s.
Definition).
In [Abb. 3] sind die Ergebnisse von Studien zu
Kontext-Interferenz-Effekten beim motorischen Lernen schematisch dargestellt [41].
Abb. 3 Schematische Darstellung der Entwicklung der motorischen Leistungsfähigkeit
in einer Fertigkeitsaufgabe bei geblocktem Trainieren gegenüber verteiltem Trainieren.
Es
kann von einer höheren Leistungsfähigkeit ausgegangen werden, wenn z. B. die Aufgabe
in
kürzerer Zeit erledigt wird oder präziser. Während der Trainingseinheiten kommt es
zu
einer Verbesserung der Leistungsfähigkeit in beiden Gruppen. Diese fällt bei geblocktem
Trainieren zu Beginn der Aneignungsphase deutlich größer aus als bei verteiltem
Trainieren. Nach einigen Tagen jedoch kehrt sich das Ergebnis um. Die Behaltensleistung
ist generell und insbesondere für den Test in einer verteilten Aufgabenstellung deutlich
größer für die Gruppe, die verteilt trainiert hat, im Vergleich zu der Gruppe, die
geblockt trainiert hat. Da vor dem Training ein vergleichbares Ausgangsniveau beider
Gruppen gegeben war, kann man davon ausgehen, dass verteiltes Trainieren im Vergleich
zu
geblockten Trainieren zu einem größeren Lernerfolg führt. (Grafik: Adrian Cornford,
Reinheim)
Diese Darstellung eignet sich, um folgende Punkte herauszuarbeiten:
-
Die Leistungszunahme in der Bewegungsfertigkeit während einer Trainingseinheit
(Aneignungsphase) spiegelt nicht zwangsweise die Leistungszunahme zur nächsten
Trainingseinheit wider (Behaltensleistung, Retention).
-
Der Kontext-Interferenz-Effekt verstärkt das motorische Lernen. Verteiltes Trainieren
ist geblocktem Trainieren überlegen.
-
Insbesondere gilt dies, wenn die Leistungserbringung nicht geblockt abgerufen werden
soll. Beispielsweise wird im Golf während eines Wettkampfs in der Regel niemals zweimal
hintereinander der gleiche Schläger verwendet, geschweige denn der gleiche Schlag
gespielt oder zwei Bälle von einer ähnlichen Stellung geputtet. Dies gilt im Übrigen
auch für Alltagstätigkeiten, z. B. beim Essen, im Haushalt oder beim Anziehen.
Anforderungen des Lernsettings Der Mensch ist darauf spezialisiert, zu lernen und
insbesondere motorisch zu lernen. Dabei stellt er sich perfekt auf die Anforderungen
des
Lernsettings ein. Werden z. B. beim Golftraining mehrere Bälle von derselben Stelle
in der
geblockten Trainingsform auf das Loch geschlagen oder geputtet, dann muss der Spieler
lediglich den ersten Schlag ohne ein direktes Feedback planen. Für den zweiten Schlag
steht
ihm das Feedback, das er während und nach dem ersten Schlag erhalten hat, zur Verfügung,
für
den dritten Schlag das Feedback aus dem ersten und zweiten usw. [4]. Der Spieler, der geblockt trainiert, wird sicher im Vergleich zu einem Spieler,
der verteilt trainiert, viel besser in der Lage sein, Feedback aus einem Schlag für
einen
nachfolgenden identischen Schlag zu nutzen, allerdings wird er diese Fertigkeit leider
im
Spiel niemals anwenden können. Dagegen muss der Spieler, der verteilt übt, jeden Schlag
in
der Trainingseinheit neu planen; sein Fortschritt ist innerhalb der Einheit scheinbar
geringer, seine Behaltensleistung bis zur nächsten Trainingseinheit ist aber größer,
er hat
„mehr gelernt“ [34].
Feedback Im vorigen Absatz ist bereits Feedback als ein weiterer entscheidender
Lernmechanismus angesprochen worden. Intrinsisches Feedback erlaubt es uns, die
Bewegungsleistung mithilfe unserer sensorischen Systeme zu bewerten. Bei einem
Basketball-Freiwurf sieht der Spieler beispielsweise, ob der Ball in den Korb gegangen
ist,
und kann den Ballflug beobachten, der zum Erfolg oder Misserfolg des Wurfs geführt
hat.
Extrinsisches Feedback oder „von außen verstärkendes“ (augmented) Feedback kann zusätzliche
Informationen zum Bewegungsergebnis (Knowledge of Result, KR) oder zum Bewegungsablauf
(Knowledge of Performance, KP) bereitstellen. In der Regel wird dieses Feedback vom
Trainer
während der Trainingseinheit oder auch in Form einer Videoanalyse nach einer
Trainingseinheit oder einem Wettkampf gegeben. Während ganz ohne Feedback Lernen
grundsätzlich unmöglich ist, gibt es unterschiedliche Studienergebnisse zur „optimalen
Menge“ an Feedback, insbesondere des von außen gegebenen zusätzlichen Feedbacks.
Die Mehrzahl der Studien zeigen, dass zusätzliches von außen gegebenes Feedback den
Lernprozess generell beschleunigt, dass es aber durch massives zusätzliches Feedback
über
einen längeren Zeitraum zu einer Abhängigkeit von diesem Feedback kommen kann. Es
wird
daher empfohlen, das zusätzliche Feedback mit der Zeit abzubauen [46].
Ebenso spielt der Zeitpunkt, an dem der Lernende das Feedback von außen bekommt, eine
entscheidende Rolle. Es konnte gezeigt werden, dass ein sofortiges Feedback unmittelbar
nach
der Bewegung nicht zu vergleichbar guten Lerneffekten führte wie ein leicht verzögertes
Feedback, das einige Sekunden nach Beendigung der Bewegung gegeben wurde [43].
Aufmerksamkeitsfokus Neben dem Feedback spielt der Aufmerksamkeitsfokus eine
wichtige Rolle. Worauf achten wir z. B., wenn wir im Training einen Freiwurf im Basketball
oder einen Golfschlag ausführen? Worauf sollten wir unsere Aufmerksamkeit richten,
um
möglichst effektiv zu lernen? Zunächst können wir grundsätzlich zwei Aufmerksamkeitsfokusse
unterscheiden: Aufmerksamkeit kann internal und external gerichtet sein. Bei einem
internalen Fokus wird die Aufmerksamkeit auf sensorische oder motorische Signale des
eigenen
Körpers gerichtet, bei einem externalen Fokus auf ein Ereignis außerhalb des Körpers,
das
mit dem Bewegungsergebnis in Verbindung steht. Beispielsweise kann die Aufmerksamkeit
bei
einem Golfschlag auf die Bewegung des Armes gerichtet sein oder auf die Bewegung des
Schlägerkopfs, beide Male mit dem Ziel, einen Ball möglichst nahe an ein Ziel zu schlagen
[48].
In einer Vielzahl von Experimenten dieser Art bei unterschiedlichsten sportlichen
Bewegungen und Gleichgewichtsaufgaben konnte eindeutig gezeigt werden, dass ein externaler
Aufmerksamkeitsfokus einem internalen Fokus sowohl im Hinblick auf die motorische
Leistung
als auch die Lerngeschwindigkeit überlegen ist [49].
Instruktion Obwohl die Ergebnisse auf der Verhaltensebene einen hohen Evidenzgrad
aufweisen, sind die zugrunde liegenden Mechanismen noch nicht geklärt. Es wird vermutet,
dass es durch einen internalen Fokus zu Überlagerungen mit automatisierten
Bewegungsprogrammen kommt, der diese stört, während dies bei einem externalen Fokus
nicht
der Fall ist [26]. Für den Trainer bzw. die Therapeutin
besitzen diese Befunde eine wichtige Konsequenz, da er oder sie in der Lage ist, die
Aufmerksamkeit des Lernenden über eine Instruktion zu lenken. Diese Instruktion oder
Bewegungsanweisung sollte, um effektives Lernen zu ermöglichen, die Aufmerksamkeit
external
attribuieren.
Geführtes Training Wie geht man am besten vor, wenn der Lernende die Bewegung noch
gar nicht beherrscht oder sehr unpräzise Bewegungsvorstellungen besitzt? Ist dann
ein
geführtes Training von Vorteil? Aus dem Sport liegen hierzu mehrere Studien vor, die
übereinstimmend einen positiven Effekt während der Aneignungsphase zeigen (bessere
Leistung
und größere Leistungszuwächse), aber einen deutlich schlechteren Effekt für die Retention
[26]. Eine von außen geführte Bewegung wirkt sich nach
diesen Erkenntnissen negativ auf die Behaltensleistung und damit den motorischen Lernvorgang
aus. Erklärt wird dies durch den Umstand, dass sich der Lernende auf die Führung verlässt
und daher die sehr gute Aneignung, aber nur mäßige Retention zu beobachten ist [15]. Dieses Verhalten ist mit den Ergebnissen der
Feedback-Forschung vergleichbar (s. o.), die ebenfalls zeigen, dass ein während der
Bewegung
gegebenes Feedback oder ein unmittelbar gegebenes Feedback weniger effektiv ist als
ein
leicht verzögertes Feedback. Dennoch besitzt die z. B. robotergeführte Bewegung
möglicherweise Vorteile in einer sehr frühen Phase des motorischen Fertigkeitserwerbs,
in
der das Bewegungsprogramm noch nicht existiert und sozusagen erst einmal vorprogrammiert
werden muss [23].
Transfereffekt Kann das Erlernen einer spezifischen motorischen Fertigkeit zu einem
Transfereffekt und damit zu einer verbesserten Leistung in einer anderen motorischen
Fertigkeit führen?
Das Erlernen einer spezifischen motorischen Fertigkeit kann zu einem Transfereffekt
führen, aber nur, wenn die Fertigkeiten beinahe identisch sind – und selbst dann sind
die
Transfereffekte in der Regel klein [37].
Das grundlegende Konzept wurde zum ersten Mal bereits vor über 100 Jahren von Thorndike
und
Woodworth [44] vorgestellt. Die beiden Autoren postulierten,
dass die Höhe des Transfers zwischen zwei Bewegungsfertigkeiten von der Anzahl „identischer
Elemente“ abhängig wäre. In der Zwischenzeit wurden etliche Untersuchungen durchgeführt,
die
diese Grundannahme im Wesentlichen bestätigt haben (s. hierzu auch den Beitrag von
Huber in
diesem Heft [18]).
Erst kürzlich ist es uns gelungen, dies auch für Gleichgewichtsaufgaben zu zeigen:
Eine
Gruppe trainierte eine Gleichgewichtsaufgabe, die andere Gruppe eine zweite
Gleichgewichtsaufgabe. Nach dem Training war jede Gruppe in der jeweils von ihr trainierten
Aufgabe deutlich besser, aber in den Gleichgewichtsaufgaben, die sie nicht trainiert
hatten,
waren keine signifikanten Verbesserungen zu sehen [14].
Diese Befunde entsprechen weitgehend auch der Tatsache, dass nach Gleichgewichtstraining
hochspezifische und fertigkeitsbezogene neuronale Veränderungen gefunden werden konnten
[40].
Gleichgewichtstraining kann durchaus als Fertigkeitstraining und sensomotorischer
Lernprozess aufgefasst werden.
Training der koordinativen Voraussetzungen in der motorischen
Neurorehabilitation
Die motorische Neurorehabilitation baut im Wesentlichen auf der Annahme auf, dass
eine
Verbesserung von Bewegungsfertigkeiten auch bei neurologischen Patienten durch
Trainingsmaßnahmen möglich ist [21]. Diese Annahme ist nicht
selbstverständlich, da durch eine neurologische Schädigung oft auch Strukturen in
Mitleidenschaft gezogen sind, die direkt mit motorischen Lernvorgängen in Verbindung
gebracht werden, wie z. B. Kleinhirn, Basalganglien, prämotorischer und motorischer
Kortex
oder auch parietaler Assoziationskortex.
Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass es bei bestimmten Schädigungen, z. B. im
Bereich des Kleinhirns, zu Defiziten bei motorischem Lernen gegenüber gesunden
Vergleichspersonen kommen kann. Allerdings ist die Studienlage nicht eindeutig. Eine
starke Beeinträchtigung der Lernfähigkeit scheint bei Patienten in der Regel aber
nicht
gegeben zu sein [20]. Eine Schwierigkeit, dies zu
untersuchen, besteht darin, das Wieder- oder Neulernen von Bewegungsfertigkeiten von
parallel dazu ablaufenden Regenerationsprozessen abzugrenzen. Darüber hinaus kommt
es im
Laufe der Rehabilitation oft zu Kompensationsreaktionen, die ebenfalls nicht eine
Verbesserung der ursprünglichen Bewegungsfertigkeit widerspiegeln.
Viele der klinischen Tests sind nicht unmittelbar brauchbar, um die Verbesserung der
Bewegungsfertigkeit per se zu messen, weil sie oft nur outcomeorientiert sind und
die
Bewegungsqualität explizit nicht einbeziehen. Eine moderne motorischen
Neurorehabilitation sollte hier nicht nur danach fragen, ob eine Intervention wirkt,
sondern welche Mechanismen zur Verbesserung der Bewegungsleistung beitragen.
Noch vorhandene Leistungsvoraussetzungen Erste Experimente dazu wurden bereits am
Tiermodell durchgeführt. In einem „Ratten-Schlaganfall-Modell“ konnten dabei
Interaktionseffekte von spontanen Wiederherstellungsprozessen und sensomotorischem
Training gezeigt werden [31]. Diese Untersuchungen
unterstützen erste Indizien, die nahelegen, dass eine möglichst frühe „Inanspruchnahme
von
noch vorhandenen Leistungsvoraussetzungen“, z. B. nach einem Schlaganfall, von
entscheidender Bedeutung für den Rehabilitationsprozess im Gesamten sein könnte. Die
„Constraint-Induced Movement Therapy“ (CIMT) und die Forced-Use-Therapie greifen dieses
Paradigma auf und zwingen den Patienten beispielsweise zur Nutzung des „betroffenen“
Arms,
indem der „nicht betroffene“ Arm in seiner Bewegungsamplitude artifiziell eingeschränkt
wird und deshalb seine Funktion nicht mehr wahrnehmen kann [28], [7].
Robotergestützte Therapie Im Grundsatz beziehen sich diese Ansätze auf das „power
law of practice“, indem sie den Patienten dazu zwingen, Zielbewegungen bzw.
Bewegungsabläufe wiederholt durchzuführen. Diesen Ansatz greift auch die robotergestützte
Therapie auf. Durch geführte Bewegung kann auch ein konditionell und koordinativ stark
betroffener Patient eine hohe Anzahl an Bewegungsabläufen absolvieren. Problematisch
sind
in diesem Zusammenhang die schon angeführten negativen Befunde zum geführten Training
im
Hinblick auf die Lernleistung. Für die Neurorehabilitation liegen allerdings sowohl
für
die untere Extremität als auch für die obere Extremität Befunde vor, die der
roboterassistierten Therapie eine therapeutische Wirksamkeit bescheinigen [29]. Diese therapeutische Wirksamkeit ist vermutlich dadurch
bedingt, dass durch das niedrige Ausgangsniveau der Patienten und den ausschließlich
mit
dieser Therapie möglichen hohen Trainingsumfang (hohe Anzahl an Bewegungswiederholungen)
eine Verbesserung der Bewegungsfertigkeit erzielt werden kann, die alternativen
Behandlungstechniken überlegen ist.
Bewegungstransfer Wie verhält es sich dann mit dem Transfer einer
(wieder-)erlernten Bewegung in eine andere? Wie im allgemeinen Kapitel zum motorischen
Lernen von Bewegungsfertigkeiten schon angesprochen ist ein Transfer normalerweise
sehr
gering ausgeprägt und nur für sehr ähnliche motorische Aufgaben und Bewegungen zu
erwarten. Kürzlich sind dazu aber Arbeiten veröffentlicht worden, die für die
Neurorehabilitation Hinweise darauf liefern, dass es Transferleistungen
aufgabenspezifischen Trainings der oberen sowie unteren Extremität auf andere
Bewegungsaufgaben gibt:
-
So stellten Hornby et al. [17] nach einem
hochintensiven Gangtraining nach Schlaganfall fest, dass sich die Patienten unter
anderem im Bereich des statischen Gleichgewichts verbessert hatten.
-
Schaefer et al. [36] berichteten einen Transfereffekt
von einer spezifischen trainierten Aufgabe auf zwei nicht trainierte Aufgaben. So
waren Schlaganfallpatienten, nachdem sie in fünf Tagen insgesamt 2250-mal mit einem
Löffel Bohnen von einer zu einer anderen Schüssel bewegt hatten (feeding task), auch
besser bei den Aufgaben, kleine Würfel von einer Schachtel in eine andere Schachtel
zu
bewegen (vgl. Box and Block Test, sorting task) und Knöpfe zu schließen (dressing
task). Die Autoren konnten zeigen, dass die Bewegung zwischen dem „feeding task“ und
dem „sorting task“ sehr ähnlich war, während sich die beiden Aufgaben deutlich vom
„dressing task“ unterschieden. Im Sinne der Ähnlichkeitshypothese beim
Fertigkeitstransfer würde man einen höheren Transfer für die ähnliche Aufgabe und
einen sehr geringen oder keinen Transfer für die nicht ähnliche Aufgabe erwarten.
Die
Ergebnisse zeigten aber eine Verbesserung in allen drei Aufgaben, wobei wie zu
erwarten die Verbesserung in der trainierten Aufgabe (feeding) am größten ausfiel.
Dagegen zeigten sich keine Unterschiede im Leistungszugewinn zwischen den beiden
anderen Aufgaben.
-
Ähnliche Resultate konnten auch nach einem Gleichgewichtstraining gezeigt werden
[22]. In dieser Studie wurden drei verschiedene
Interventionen miteinander verglichen, in denen unterschiedliche
Gleichgewichtsaufgaben trainiert wurden. Nur in sehr spezifischen Testsituationen
konnten nach der Trainingsphase gruppenspezifische Anpassungen gefunden werden,
während es in allen anderen Tests zu ähnlichen Verbesserungen in den Trainingsgruppen
kam. Dabei verbesserten sich die Teilnehmer nicht nur in verschiedenen
Gleichgewichttests, sondern konnten z. B. auch ihre Gehgeschwindigkeit im Durchschnitt
um etwa 13 % steigern. Diese Ergebnisse, nämlich die unabhängig von der
Aufgabenähnlichkeit gefundenen Verbesserungen bei Schaefer et al. [36] sowie die zwischen den Trainingsgruppen vergleichbaren
Verbesserungen bei Kramer et al. [22], deuten allerdings
nicht zwangsläufig auf klassische Transfereffekte bei Fertigkeitsaufgaben hin.
Vielmehr könnten Prozesse, die zu einer generellen Verbesserung der körperlichen
Fitness beitragen, wie z. B. die Regeneration nach einem Schlaganfall oder die
Verbesserung der konditionellen Voraussetzungen während eines stationären
Reha-Aufenthalts, diese Befunde erklären.
Auf der Basis der Grundlagenliteratur zu Fertigkeitstransfer sollte auch in der
Neurorehabilitation von einer höchst aufgabenspezifischen Verbesserung bei Training
der
koordinativen Voraussetzungen ausgegangen werden.