Hebamme 2016; 29(1): 2
DOI: 10.1055/s-0042-102232
Editorial
Hippokrates Verlag in Georg Thieme Verlag KG Stuttgart

Adipositas: Wie erleben es betroffene schwangere Frauen?

Ute Lange
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Publication Date:
29 February 2016 (online)

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Weltweit steigt die Zahl von Menschen mit Übergewicht an – so auch die Zahl von übergewichtigen Frauen in der Zeit von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett. Das Wissen um ihre bestmögliche Versorgung sollte zum professionellen Wissen von Hebammen und Ärzten, Ärztinnen gehören. In diesem Heft finden Sie hilfreiche Informationen und neueste Erkenntnisse.

Übergewicht und Adipositas haben nicht nur eine medizinische sondern auch eine kulturell-gesellschaftliche Dimension mit soziale Zuschreibungen, kulturellen Aspekten und Normalitätsvorstellungen. In den Industrienationen werden Menschen mit Adipositas oftmals mit negativen Attributen wie Trägheit und niedrigem sozialen Status in Zusammenhang gebracht.

In der Schwangerenvorsorge ist das Thema Gewicht besonders für Frauen mit Adipositas allgegenwärtig. Das Gewicht wird oft in den Fokus gerückt im Zusammenhang mit möglichen Komplikationen. Die Beratungsinhalte und Empfehlungen berühren meist äußerst private Themen wie den Umgang mit Körperlichkeit, Essgewohnheiten, kulturelle Besonderheiten und Sexualität.

Hebammen, die sich einem akzeptierenden und gerade nicht stigmatisierenden Verhalten gegenüber den Frauen mit Adipositas verpflichtet fühlen, stellt sich die Frage nach der Sicht betroffener Frauen.

Katja Makowsky fragte in einer Studie Frauen mit Adipositas, wie sie die Versorgung rund um die Geburt erlebt haben und welche Bedürfnisse sie an Ärzte, Ärztinnen und Hebammen adressieren. Frauen mit Adipositas sehen sich rund um die Geburt in einer Sonderrolle. Sie stellen insbesondere in der Schwangerschaft fest, dass Konzepte, die über eine rein medizinische Beratung hinausgehen fehlen, sowohl bei Ärzten und Ärztinnen als auch bei Hebammen. Die Frauen schildern, dass sie nicht als chronisch erkrankt wahrgenommen und angesprochen werden, sondern als Menschen mit dem falschen Lebensstil. Dies erleben sie oftmals als ausgrenzend und wenig hilfreich.

Was bedeutet das für die Hebammenbetreuung? Neben dem medizinischen Wissen und einem wachen Blick für die Gesundheit von Mutter und Kind gilt: Frauen dürfen nicht auf ihr Übergewicht reduziert werden. Vorschnelle Zuschreibungen, die den Lebensstil betreffen, müssen unterbleiben. Ziel muss es sein, einen sensiblen und akzeptierenden Umgang mit der betroffenen Frau zu pflegen.

Da die meisten Frauen und damit auch viele Hebammen eine „Geschichte“ mit dem eigenen Körpergewicht haben, ist die Gefahr einer Übertragung der eigenen Erfahrungen auf andere Frauen groß. Das ist im professionellen Kontext problematisch. Wir sollten unsere Erfahrungen mit dem eigenen Körpergewicht und mit allgemeinen Normalitätsvorstellungen und unsere persönliche Haltung zu Menschen mit Übergewicht reflektieren, damit sich die professionelle Beziehung und unsere biographischen Erfahrungen nicht vermischen.

Ich wünsche Ihnen einen anregenden Lesegenuss.

Herzliche Grüße

Ute Lange