Der Klinikarzt 2016; 45(03): 107
DOI: 10.1055/s-0042-103266
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

„Die Situation ist da ...“

(nach Konrad Adenauer, 23.5.1956, Gürzenich – Rede)
Winfried Hardinghaus
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Publication Date:
08 April 2016 (online)

Das Anliegen der Hospiz- und Palliativarbeit ist es, die Strukturen eines würdevollen Sterbens und die damit zusammenhängenden Rahmenbedingungen für Betroffene, aber auch professionelle und ehrenamtliche Helfer zu verbessern. 2015 sind 2 äußert wichtige Entscheidungen zur Sterbebegleitung getroffen worden. Diese verabschiedeten Gesetze, an deren Entstehung ich in meiner Funktion als Vorsitzender des Deutschen Hospiz- und PalliativVerbands (DHPV) beteiligt sein durfte, vereinen die klare Absage an organisierte und gewerbliche Formen der Beihilfe zum Suizid und die Stärkung der zugewandten hospizlichen und palliativen Versorgung und Begleitung.

Für ambulante Hospizdienste sieht die neue Situation durch das Hospiz- und Palliativgesetz (HPG) eine zusätzliche Förderung von Sachkosten vor. Mit dem HPG wird Begleitung der ambulanten Hospizdienste, die ausschließlich im Krankenhaus erfolgt, bei der Berechnung der Förderung berücksichtigt. Hinzu kommen – in Ergänzung zur spezialisierten ambulanten Palliativversorgung – die Regelungen zur allgemeinen Palliativversorgung, die ganz entscheidend für eine umfassende und flächendeckende Versorgung der Betroffenen sein werden.

Immer mehr Menschen sterben in stationären Pflegeeinrichtungen. Diese sollen ihre Bewohner jetzt über die medizinisch-pflegerische Versorgung und Betreuung in der letzten Lebensphase beraten und ihnen Hilfe und Angebote der Sterbebegleitung aufzeigen. Das umfasst neben der palliativ-pflegerischen Versorgung auch die hospizliche und seelsorgerische Begleitung.

Erwähnt sei die bessere Finanzierung der stationären Hospize, in welcher der Zuschuss der Kranken- und Pflegekassen sowie der kalendertägliche Mindestzuschuss der Krankenkassen angehoben wurde. Ganz wichtig in diesem Bereich ist auch die Festlegung, dass zwischen den Vertragspartnern der Rahmenvereinbarung zusätzlich Standards zum Leistungsumfang und zur Qualität der zuschussfähigen Leistungen vereinbart werden sollen.

Im Krankenhaus werden palliativmedizinische Konsiliardienste gefördert und Abrechnungsmöglichkeiten für Palliativstationen liberalisiert.

Zusammen mit dem Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung setzt das HPG damit ein deutliches Zeichen für eine Kultur der Wertschätzung gegenüber kranken und sterbenden Menschen und hilft dabei, das zentrale Anliegen der Hospiz- und Palliativarbeit schneller zu erreichen: Jeder Mensch erhält, unabhängig von seiner zugrunde liegenden Erkrankung, der persönlichen Situation oder vom Versorgungsort, eine qualitativ hochwertige palliative und hospizliche Behandlung und Begleitung.

Als herauszunehmendes Modell einer solchen würdevollen und dabei wunscherfüllenden palliativmedizinischen Betreuung gehört – und jetzt möchte ich ganz pragmatisch werden – zweifelsohne auch die Gelegenheit zu einem persönlichen und individuellen Abschiednehmen von Angehörigen und Freunden. In fast 25 Jahren unseres palliativmedizinischen Projektes SPES VIVA habe ich viele schöne Abschiede miterleben dürfen. Vier Patientenbeispiele erlaube ich mir, hier kurz vorzustellen:

Da gab es die 28-jährige junge Patientin mit einem metastasierenden Ovarialkarzinom. Ihr Wunsch war es, in unserem Wohnzimmer auf der Station zu sterben. Im Ruhesessel. Schwarze Kleidung. Im Beisein des Behandlungsteams und auch ihrer Mutter, mit der sie sich nach Jahren aussöhnen wollte. Laute Musik von der „Kelly Family“ – nicht jedermanns Geschmack – war ihr Wunsch zur Untermalung des Sterbemoments. In der Tat haben wir Verweilenden in dieser Situation allesamt ein paar Tränen verdrückt. Das ist erlaubt.

Vor kurzem noch heiratete der 27-jährige Lymphompatient 2 Wochen vor seinem Tod seine 3 Jahre jüngere Frau im Krankenzimmer auf der Palliativstation. Die Freunde veranstalteten eine kleine, bescheidene Party vor Ort. Der Geruch selbstgebackener Waffeln sollte und konnte ihren Lebensgefährten an frühere gemeinsame Zusammenkünfte erinnern.

Der 89-jährige russlanddeutsche Patient mit einem Lungenkarzinom verabschiedete sich auf der Palliativstation von all seinen Enkeln und Urenkeln. Und sie kamen alle an einem Nachmittag, einer nach dem anderen. Es waren 59 Kinder und Kindeskinder. Von jedem verabschiedete er sich persönlich mit Handschlag und richtigem Namen. Ich schwöre, es ist wahr.

Schließlich feierte eine Mamma-CA-Patientin eines Sommers im Krankenhausgarten in einem eigens von den Schwestern dort hergerichteten wunderschönen (Himmel-)Bett ihren Abschied von Familie und Freunden. Dies auch anlässlich Ihres 60. Geburtstages, den sie absehbar nicht mehr erleben würde, weshalb die Feier um 14 Tage vorverlegt wurde. Es spielte die Santana-Revival–Band (Erinnern auch Sie sich?). Ein sehr bewusster, gelassener Abschied. Das muss man erst einmal können, mehr geht im Leben nicht.

Die Beiträge des heutigen Heftes, zusammengestellt von meinem aus vielen Jahren unmittelbarer Zusammenarbeit hochgeschätzten Kollegen Ludger Hillejan, zeigen hierzu scheinbar diskrepant gute Möglichkeiten in Richtung einer Genesung oder Besserung der Ausgangssituation bei Tumorleiden, hier am Beispiel des Lungenkarzinoms. Die in den letzten Jahren erzielten Fortschritte sind beträchtlich und oft segensreich.

Und was die positive Perspektive angeht, scheinen mir sowohl diese in der heutigen Ausgabe des klinikarzt vorgestellten Ergebnisse ausgewiesener Experten, als auch das eingangs zitierte HPG und die geschilderte Abschiedssituation gar nicht einmal so weit voneinander entfernt. Stellen wir uns rechtzeitig auf alles ein. Seien wir für unsere Patienten auf und für jeden Fall vorbereitet.