Störung in der Grammatikentwicklung – allgemein
Störung in der Grammatikentwicklung – allgemein
Die Störung der Grammatikentwicklung,
d. h. der kindliche Dysgrammatismus, gilt
als eine der schwerwiegendsten und am
schwierigsten zu behandelnden Ausprägungsformen
der umschriebenen Sprachentwicklungsstörung.
Im Deutschen ist
das „klassische“ Symptom, dass betroffene
Kinder das Verb im Hauptsatz nicht an
die korrekte Position bewegen können.
Alle Kinder verwenden das Verb zunächst
als letztes Wort im Satz.
Zwischen dem 28.
und 36. Lebensmonat „bewegt sich“ das
Verb an seine eigentliche Position, die so
genannte Verbzweitstellung.
Kinder mit Dysgrammatismus behalten
die Verbendstellung bei und überwinden
diese nur sehr selten ohne Therapie. Dies
sind „persistente“ Störungsbilder, d. h.
Auffälligkeiten, die sich über lange Zeit
nicht verändern und die Leistungen des
Kindes dauerhaft beeinflussen.
Kompensierter Dysgrammatismus
Kompensierter Dysgrammatismus
Es ist ein Phänomen der deutschen Sprache,
dass Kinder, die im Kindergartenund
Vorschulalter Symptome des Dysgrammatismus
zeigten, diese in der Übergangszeit
oder in der Grundschulzeit verändern.
Es scheint sich vermeintlich eine
Entwicklung abzuzeichnen, in der eine
der möglichen Hauptsatzstrukturen erworben
ist: die im Deutschen einfachste
und neutrale Abfolge Subjekt – Prädikat –
Objekt. Unsicher erscheint häufig noch die
Einsetzung von Artikeln vor dem Subjekt
und Objekt. Ebenso wird das Objekt nicht
sicher im Akkusativ oder Dativ markiert.
Oft benutzt das Kind Modalverben (wollen,
können, müssen,...) in der vorderen
Satzposition und belässt das inhaltliche
Verb an der hinteren Stelle im Satz:
Neuere Ansätze betrachten diese Veränderungen
jedoch nicht als Entwicklung sondern als eine Strategie, die das Kind entwickelt,
um mit einem ihm langsam bewusst
werdenden Problem umzugehen („kompensieren“
bedeutet ausgleichen/ersetzen).
Das bedeutet, die Verbzweitstellung
ist nicht erworben. Stattdessen beginnt das
Kind, mehr oder weniger komplett das eigentliche
Symptom auszugleichen, indem
es eine starre, mehr oder weniger auswendig
gelernte Struktur verwendet. Im Deutschen
ist es jedoch möglich, den Aussagesatz
auch mit anderen Satzteilen als dem
Subjekt zu beginnen. So können z. B. das
Objekt, ganze Nebensätze oder auch Fragepronomen
als erstes Satzglied erscheinen:
-
Einen Hund (Objekt als erstes Satzglied) malt Lisa (Subjekt).
-
Wenn Lisa ihr Bild fertig gemalt hat (Nebensatz als erstes Satzglied), zieht sie ihr neues Kleid an.
-
Wann (Fragepronomen als erstes Satzglied) hat Lisa (Subjekt) ihr Bild (Objekt) endlich fertig gemalt?
Diese Formen des Aussagesatzes werden nicht oder nur inkorrekt verwendet.
Synonym verwendete Bezeichnungen:
erstarrte Satzstrukturen, Übergang zum
postdysgrammatischen Stadium.
Kompensierter Dysgrammatismus entstammt
begrifflich der patholinguistischen
Therapie.
Folgen
Der kompensierte Dysgrammatismus
schränkt das Kind also in seinen Kommunikationsfähigkeiten
weiter ein: es kann
keine oder nur sehr einfache Fragen stellen
(„Was ist das?“ ist häufig eine auswendig
gelernte Phrase und wird eingesetzt),
ebenso wenig kann es Sätze mit Nebensätzen
erweitern. Da in der Folgezeit der
Kompensation der Aussagesatz keine Entwicklung
zeigt und weitere Formen nicht
dazu erworben werden, wird davon ausgegangen,
dass es sich nicht um eine positive Entwicklung handelt. Vielmehr gehen die
Annahmen in die Richtung, dass der kompensierte
Dysgrammatismus im Vergleich
zu dem Symptom der Verbendstellung das
stärkere grammatische Störungsbild ist.
Identifikation des kompensierten Dysgrammatismus
Identifikation des kompensierten Dysgrammatismus
Wenn ein Kind kompensiert hat, so ist es
für den behandelnden Arzt und auch für
die zuständige Sprachtherapeutin schwieriger,
das Störungsbild zu erkennen. Die
Satzgliedabfolge Subjekt – Prädikat – Objekt,
die das Kind als starre Struktur einsetzt,
ist ja eine korrekte Aussagesatzform
des Deutschen. Das Kind macht also per se
keinen sofort erkennbaren Fehler. Der
kompensierte Dysgrammatismus zeigt
sich dadurch, dass das Kind so gut wie ausschließlich
diese Satzstruktur verwendet.
Wenn es eine Frage formuliert, sollte seine
Satzstruktur deutlichere Fehler zeigen.
Nebensätze kommen nicht vor. Damit einhergehen
in der Regel Schwierigkeiten im
Verstehen und Produzieren von Geschichten.
Eine spezifische, auf dieses Phänomen
ausgerichtete Therapie ist dringend angeraten,
da nicht bekannt ist, ob Kinder den
kompensierten Dysgrammatismus ohne
Therapie überhaupt überwinden können.
Der kompensierte Dysgrammatismus ist
ein schweres Störungsbild in der kindlichen
Grammatikentwicklung. Er tritt im
Vorschul- bis Grundschulalter auf und
sollte dringend diagnostiziert und behandelt
werden. Seine Identifikation ist
schwierig, da die verwendete Ersatzstruktur
eine korrekte Satzstruktur des
Deutschen ist.
Prof. Dr. Julia Siegmüller, Rostock