PPH 2016; 22(03): 172-173
DOI: 10.1055/s-0042-107213
Rund um die Psychiatrie
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Für Sie gelesen: Immenschuh U, Marks S. Scham und Würde in der Pflege

Contributor(s):
Christoph Müller
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Publication Date:
20 May 2016 (online)

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(Mabuse-Verlag)

Sich phänomenologisch dem pflegerischen Alltag zu nähern, ist eher ungewöhnlich. Mit dem Buch „Scham und Würde in der Pflege“ wagen es die Pflegewissenschaftlerin Ursula Immenschuh und der Sozialwissenschaftler Stephan Marks trotzdem. Es ist ihnen gelungen, ein wichtiges Phänomen aus dem Dunkel ins Licht zu ziehen. Sie fordern die Pflegenden in der Praxis auf, ihr tägliches Handeln zu überprüfen und zu reflektieren.

Den moralischen Zeigefinger erheben die Autoren dabei nicht. Ihre Sensibilität bezüglich der Begriffe und Phänomene Scham und Würde überzeugen den Leser. So erscheint es konsequent, wenn sie schreiben: „Eine würdige Pflege zeigt sich nicht erst bei gravierenden Entscheidungen, etwa der ungewollten Lebensverlängerung, sondern auch darin, wie mit grundlegenden Bedürfnissen der Beteiligten umgegangen wird.“

Ob es angemessen ist, nach der Lektüre von professionell Pflegenden einen Gesinnungswandel und vor allem ein Change Management in der pflegerischen Praxis zu verlangen, dies mag jeder für sich selber entscheiden. Das Buch rüttelt auf jeden Fall auf. Immenschuh und Marks schreiben unter anderem: „Was wir jedoch verändern können, ist unser Umgang mit Schamgefühlen. Wir können lernen, sie wahrzunehmen, zu verstehen und gut mit ihnen umzugehen. Darunter verstehen wir zuallererst Scham, auch die eigene, anzuerkennen und Beschämungen zu vermeiden.“

Naheliegend erscheint es, in diesem Zusammenhang über die Sexualität im pflegerischen Handlungsfeld nachzudenken. Dies ist jedoch nur ein Aspekt, dem Immenschuh und Marks Aufmerksamkeit schenken. Wichtig erscheint ihr Gedanke, dass Scham immer auch etwas mit dem In-Beziehung-Sein mit sich und der sozialen Umwelt zu tun hat. Dass bei Beschämungen und Scham die Beziehungsdynamik verloren geht, erkennen sie an. In der Gesundheitssorge und Wohlfahrtspflege ist dies natürlich fatal.

Schlüssig erscheint ihre Erinnerung, sich mit der Enttabuisierung auseinanderzusetzen. Das Nachdenken über die Scham und die Beschämung fange immer bei sich an. Immenschuh und Marks erinnern immer wieder an das Wechselspiel zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft. Das Dynamische anzuerkennen, die eigenen Grenzen bewusst zu machen – dies sind wichtige Erkenntnisse aus der Lektüre des Buchs „Scham und Würde in der Pflege“. Es ist gut, dass dies wieder einmal ins Gedächtnis gerufen wird.

Christoph Müller