Prävalenz
Aus internationalen Studien lässt sich ableiten, dass ein wiederholter Alkoholkonsum
oder ein mindestens einmalig auftretendes Rauschtrinken (Binge-Drinking) während
der Schwangerschaft das Risiko der Entwicklung eines FASD birgt. Doch rund ein Drittel
der schwangeren Frauen konsumiert Alkohol: Laut der Studie „Gesundheit in Deutschland
Aktuell“ [1] zeigen ca. 20% der schwangeren Frauen einen moderaten und ca. 8% einen riskanten
Alkoholkonsum.
Das sogenannte Binge-Drinking (mindestens 5 alkoholische Getränke zu einer Gelegenheit
wie Geburtstag, Silvester, Weihnachten o.ä.) unternehmen 12% der Frauen seltener als
einmal pro Monat, knapp 4% einmal pro Monat und 0,1% jede Woche. Dieses Binge-Drininkg,
bei dem es kurzfristig zu hohen Alkohol-Peeks im Blut der Mutter kommt, wirkt sich
besonders schädlich aufs kindliche Outcome aus.
Denn während die mütterliche Leber den Alkohol binnen Stunden abzubauen vermag, wird
dieser beim Embryo oder Fetus in den Intrazellularräumen gespeichert und kann durch
die unreife Leber nicht abgebaut werden. So bleibt der Alkohol – Expertenschätzungen
zufolge – zehnmal länger im Körper des Fetus als in dem der Mutter.
Studien aus Italien gehen davon aus, dass mindestens 2-5 % aller Schulkinder eine
Fetale Alkoholspektrumstörung aufweisen [6]
[7]. Wegen der strikteren diagnostischen Kriterien in Deutschland schätzen Experten
hierzulande, dass 1% aller Kinder, also ca. 130.000 Kinder, betroffen sind. Hochgerechnet
auf die Gesamtbevölkerung würden in der Bundesrepublik ca. 0,8 Millionen Menschen
mit FASD leben – eine höhere Prävalenz als z.B. für Down-Syndrom oder Cerebralprarese.
Viele der Betroffenen werden nicht diagnostiziert, obwohl sie typische Auffälligkeiten
aufweisen. Dadurch erhalten sie keinen Zugang zu adäquater Versorgung.
Formen der FASD
Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft ist häufig und kann das ungeborene
Kind gravierend schädigen. Die intrauterinen Schädigungen des kindlichen Gehirns sind
biologisch irreversibel und führen zu lebenslangen, vielfältigen Einschränkungen in
Entwicklung, Kognition, Verhalten und Alltagsfertigkeiten. Die Belastung der betroffenen
Menschen, ihrer Familien und ihrer Umgebung ist immens.
Schädigungen, die durch intrauterine Alkoholexposition hervorgerufen sind, werden
unter dem Oberbegriff Fetale Alkoholspektrumstörungen (FASD – fetal alcohol spectrum disorders) zusammengefasst.
Zu den Fetalen Alkoholspektrumstörungen gehören
-
das Vollbild Fetales Alkoholsyndrom (FAS – fetal alcohol syndrome)
-
das partielle Fetale Alkoholsyndrom (pFAS – partial fetal alcohol syndrome)
-
die alkoholbedingte entwicklungsneurologische Störung (ARND – alcohol related neurodevelopmental
disorder)
Risikofaktoren
Die Kenntnis von Risikofaktoren für den Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft
und für die Entstehung einer FASD ist zur frühzeitigen Aufklärung und Intervention
notwendig.
Risikofaktoren für Alkoholkonsum der Schwangeren
Ältere alleinstehende Frauen ohne Migrationshintergrund, mit hohem sozio-ökonomischem
Status, deren Partner oder enge Bezugspersonen Alkohol trinken, die rauchen oder illegale
Drogen nehmen, die unbeabsichtigt schwanger werden oder die psychisch erkrankt sind,
haben ein erhöhtes Risiko, in der Schwangerschaft Alkohol zu konsumieren [2]. Weitere Risikofaktoren für Alkoholkonsum der Schwangeren sind:
-
Alter > 30 Jahre (Binge-Drinking < 27 Jahre)
-
Beginn von Alkoholkonsum in einem frühen Lebensalter
-
Alkoholkonsum und insbesondere Binge-Drinking vor der Schwangerschaft
-
vorherige Therapie wegen Alkoholproblemen
-
Schwangerschaftsbesonderheiten (z.B. ungeplante oder ungewollte Schwangerschaft, selten
oder spät begonnene pränatale Vorsorge)
-
geringe soziale Unterstützung
-
stattgefundene oder aktuelle körperliche Misshandlung oder sexueller Missbrauch durch
Partner oder Fremden
-
psychische und psychiatrische Störungen (z.B. Depression, Angst- oder Panikstörung,
sexuelle Funktionsstörung)
Risikofaktoren für Entwicklung eines FASD
Das Risiko für das pränatal Alkohol exponierte Kind, an FASD zu erkranken, steigt
mit der Höhe und der Dauer des mütterlichen Alkoholkonsums vor und während der Schwangerschaft,
mit dem mütterlichen Alter, mit einer Mangelernährung und mit dem Beikonsum anderer
Drogen. Ebenso können der väterliche Alkoholkonsum, geburtshilfliche Komplikationen
und mögliche genetische Prädispositionen eine Rolle spielen. [2].
Das Zusammenspiel und die Gewichtung der verschiedenen Risikofaktoren ist komplex.
Warum es vorkommt, dass bei zwei Frauen, die in der Schwangerschaft Alkohol trinken,
eine ein gesundes Kind bekommen kann,
Empfehlung für die Beratung von Schwangeren
Wer Frauen in der Schwangerschaft begleitet, sollte die Risikofaktoren kennen. Beobachten
Sie die Frauen, ihre Partner und die anderen Kinder. Fragen Sie sensibel nach dem
Alkoholkonsumverhalten in der Familie. Auch psychische Faktoren wie Missbrauchserfahrungen
sind ein sehr wichtiges Thema, das sensibel angesprochen werden sollte. Diese extreme
psychische Belastung muss auch in der weiteren Begleitung der Schwangerschaft berücksichtigt
werden. Das Trauma kann zusammen mit einem weiteren Stressor, der vielleicht in der
Schwangerschaft liegt, dazu führen, dass die werdende Mutter trinkt. Unter Depressionen
oder anderen psychiatrischen Erkrankungen leidende Frauen haben ein erhöhtes Risiko
für Alkoholkonsum in der Schwangerschaft. Sie sprechen vielleicht nicht über ihre
Erkrankung und sind eventuell auch gar nicht in Therapie. Daher trinken sie, um depressive
Gedanken loszuwerden.
Kein Alkohol in der Schwangerschaft
Da Alkohol zu den tolerierten Rauschmitteln zählt und gesellschaftlich vermeintlich
„einfach dazugehört“, wird häufig die Frage gestellt: „Wie viel darf ich denn in der
Schwangerschaft trinken?“ Die Antwort ist kompromisslos:
In der Schwangerschaft gibt es keinen Zeitpunkt und keine Menge Alkohol, der oder
die erwiesenermaßen unschädlich ist.
Diese häufig gestellte Frage zeigt das Ausmaß der Unkenntnis in der Bevölkerung. Niemand
würde das Risiko eingehen, ungeschützten Geschlechtsverkehr zu haben, wenn er sich
bei einem Partner mit HIV infizieren könnte. Und niemand würde fragen: „Wie hoch ist
die Wahrscheinlichkeit einer Infektion, falls ich es doch tue?“
Alkoholkonsum ist zu jedem Zeitpunkt in der Schwangerschaft riskant: Alkohol ist ein
direkt wirksames Zellgift. Mütterlicher Alkoholkonsum zerstört Zellen im Gehirn des
Fetus oder verhindert deren Entwicklung. Die Frau muss für sich selbst entscheiden:
„Ich möchte dieses Risiko für mein Kind nicht eingehen und deswegen trinke ich nicht.“
Ein motivierender oder selbst abstinenter Partner kann sie dabei unterstützen.
während das Kind der anderen Frau ein FASD entwickelt, ist noch nicht abschließend
geklärt.
Nach aktueller Studienlage bekommen auch Kinder von Drogenabhängigen (Heroin, Amphetamine,
andere Substitutionsmittel) nach Überstehen des neonatalen Entzugssyndroms Folgeprobleme
der Drogenexposition im Mutterleib. Aber diese sind, bezugnehmend auf die aktuelle
Studienlage, nicht vergleichbar mit den Schädigungen durch Alkoholkonsum während der
Schwangerschaft. Alkohol ist scheinbar die Substanz, die Kinder im Langzeitverlauf
am meisten schädigt. Dahingehend sollten Frauen aufgeklärt werden.
Weitere (mütterliche) Risikofaktoren für die Entwicklung eines FASD bei Alkoholkonsum
in der Schwangerschaft sind [2]:
-
Alter > 30 Jahre
-
spezifische ethnische Zugehörigkeit
-
geringer sozioökonomischer Status
-
mütterliche Unterernährung, Mangel an Spurenelementen oder Vitaminen
-
Stress
-
Geburtshilfliche Komplikationen (z.B. Sauerstoffmangel bei der Geburt)
-
Geschwister mit FASD (wird häufig mit jedem weiteren Kind ausgeprägter)
-
Genetischer Hintergrund: FASD ist laut aktuellem Wissensstand nicht direkt erblich.
Aber genetische Faktoren können möglicherweise protektiv wirken oder die Vulnerabilität
erhöhen. Epigenetische Studien an Tieren weisen darauf hin, dass in hohem Maße konsumierter
Alkohol das Genom und damit auch die Spermien der Männer verändert. Hier sind die
Studien, besonders an Menschen, aber noch nicht sehr weit.
Was tun bei Verdacht auf FASD?
Was tun bei Verdacht auf FASD?
Durch die richtige Diagnose zu einem frühen Zeitpunkt können Kinder oder Jugendliche
mit Fetalen Alkoholspektrumstörungen frühzeitig adäquat gefördert werden. Eine Fehlbehandlung
lässt sich vermeiden, Sekundärerkrankungen bzw. Komorbiditäten lassen sich reduzieren
[4]. Und für die Eltern bedeutet es häufig eine Entlastung, wenn sie Gewissheit haben,
was das Kind aufgrund der biologischen Schädigung des Gehirns leisten kann. Das kann
auch das Kind entlasten, das merkt, dass es irgendwie anders ist.
Eine multidisziplinäre Leitliniengruppe entwickelte auf Basis einer umfangreichen
evidenzbewerteten Literaturrecherche Empfehlungen für die Diagnostik der Fetalen Alkoholspektrumstörungen
[3]:
-
Fetales Alkoholsyndrom (FAS)
-
Partielles Fetales Alkoholsyndrom (pFAS)
-
Alkoholbedingte entwicklungsneurologische Störung (ARND)
-
Alkoholbedingte angeborene Fehlbildungen (ARBD)
Wirkung von Alkohol
Die Entwicklung des Zentralen Nervensystems erfolgt über den gesamten Zeitraum der
Schwangerschaft. Vereinfacht dargestellt, kann Alkohol sich folgendermaßen auswirken:
-
Trimenon: Die Zellen vermehren sich durch Zellteilung, es erfolgt bereits die erste Differenzierung.
Wenn währenddessen eine Noxe wie Alkohol darauf einwirkt, teilen sich die Zellen nicht
in ausreichendem Maße. Das Gehirn bleibt klein.
-
Trimenon: Die Zellen wandern vorprogrammiert zu den Orten ihrer Bestimmung, zum Beispiel im
Cortex. Wirkt eine Noxe wie Alkohol darauf ein, kommt es zu Heterotopien. Korrekt
gebildete und funktionierende Zellen gelangen nicht zu ihrer anatomisch üblichen Lokalisation
und können die Funktion, die sie dort ausüben sollen, nicht ausführen.
-
Trimenon: Die Zellen differenzieren sich weiter, im Zentralnervensystem entstehen Synapsen,
das neuronale Netzwerk baut sich auf. Wenn in diesem Stadium eine Noxe wie Alkohol
darauf einwirkt, wird dieses wichtige Netz nicht vollständig ausgebildet.
Die Leitlinie legt Kriterien fest, mit denen basierend auf vier diagnostischen Säulen
Fetale Alkoholspektrumstörungen diagnostiziert werden können. Bei Verdacht auf FASD
sollten Kinder zur weiteren Abklärung und Förderung an eine Institution mit Erfahrung
in der Diagnose und Therapie Fetaler Alkoholspektrumstörungen (z.B. Sozialpädiatrisches
Zentrum) weitergeschickt werden:
„Bei Kontakt zum Gesundheits- und Hilfesystem sollten, wenn ein Kind Auffälligkeiten
in einer der 4 diagnostischen Säulen zeigt, die 3 anderen diagnostischen Säulen beurteilt
oder ihre Beurteilung veranlasst werden.“ [3]
Die vier diagnostischen Säulen sind:
-
Wachstumsauffälligkeiten
-
Auffälligkeiten des Gesichtes
-
Auffälligkeiten des ZNS (funktionelle und strukturelle)
Mütterlicher Alkoholkonsum in der Schwangerschaft
Diagnose Vollbild FAS
Für die Diagnostik des Vollbildes des Fetalen Alkoholsyndroms müssen mindestens Kriterien
der diagnostischen Säulen 1 bis 3 zutreffen:
Wachstumsauffälligkeiten
Zur Erfüllung des Kriteriums Wachstumsauffälligkeiten soll mindestens eine der folgenden
Auffälligkeiten zutreffen:
-
Geburts- oder Körpergewicht ≤ 10. Perzentile
-
Geburts- oder Körperlänge ≤ 10. Perzentile
-
Body-mass-Index ≤ 10. Perzentile
Für sich alleine genommen sind Wachstumsauffälligkeiten ein relativ vages Kriterium,
denn rund 10 % der Kinder weisen diese auf. Doch in Zusammenhang mit Kriterien der
anderen 3 diagnostischen Säulen ist es aussagekräftig. Die Beurteilung erfolgt adaptiert
an das Alter bzw. Gestationsalter und Geschlecht. Die Dokumentation kann zu einem
beliebigen Zeitpunkt erfolgen, d.h. das Kriterium ist genauso erfüllt, wenn ein Kind
zu klein auf die Welt kommt und dann an Wachstum aufholt wie wenn es normalgewichtig
zur Welt kommt und dann nicht altersgemäß zunimmt. Es sollte jedoch ausgeschlossen
werden, dass die Wachstumsstörung allein durch andere Ursachen erklärt werden kann
(s. Differentialdiagnostik).
Faciale Auffälligkeiten
Zur Erfüllung des Kriteriums Auffälligkeiten des Gesichtes sollen alle drei facialen
Anomalien vorliegen, die ebenfalls zu einem beliebigen Zeitpunkt dokumentiert werden
können:
-
Kurze Lidspalten (≤ 3. Perzentile): Zur objektiven Beurteilung der Lidspaltenlänge
empfiehlt sich die Messung am Foto: Das Kind bekommt einen Ø 1 cm Punkt auf die Stirn
geklebt und wird fotografiert. Anhand dieses Referenzmaßstabes wird mithilfe Foto
nachgemessen, ob die Lidspaltenlänge unter der 3. Perzentile liegt. Achtung: Bitte
keine Diagnostik nach dem Motto: „Das Kind hat Kulleraugen.“ Je nachdem, wie breit
das Gesicht ist, wirken die Augen kürzer oder länger.
-
Verstrichenes Philtrum: Die Falten zwischen Mund und Nase sind nicht vorhanden oder
kaum ausgeprägt. Für die Beurteilung der Oberlippendicke und der Philtrumausprägung
entwickelten Astley und Clarren (2000) den Lip-Philtrum-Guide mit Referenzfotos (▶ Abb.
1). Messungen mit vier oder fünf Punkten auf der Skala gelten als pathologische Ausprägungen
von Philtrum und Oberlippe.
-
Schmale Oberlippe (Rang 4 oder 5 Lip-Philtrum-Guide)
Abb. 1 Der Lip-Philtrum-Guide der Universität Washington dient zur Beurteilung der Oberlippendicke
und der Ausbildung des Philtrums. Das Philtrum besteht aus den zwei Falten und der
Furche dazwischen, die sich zwischen Nase und Oberlippe befinden. Rang 3 entspricht
der durchschnittlichen Ausprägung in der Normalbevölkerung. In Rang 4 und 5 sprechen
eine charakteristisch dünne Oberlippe und ein verstrichenes Philtrum für FASD. Der
Lip-Philtrum-Guide 1 (links) zeigt kaukasische, der Lip-Philtrum-Guide 2 (nicht im
Bild) afrikanische Ethnizität.Freie digitale Bilder des Guides zur Nutzung auf Smartphone
und Tablet erhältlich unter astley@uw.edu. Copyright 2017, Susan Astley PhD, University of Washington.
Diese drei facialen Screeningkriterien weisen eine Sensitivität von 99,8 % auf (wenn
das Kind ein FAS hat, zeigt es zu 99,8 % alle drei Auffälligkeiten) und eine Spezifität
von 89 % (89 % aller Kinder, die kein FASD haben, weisen hier auch nicht die Kombination
aller drei Kriterien auf).
Bereits Neugeborene können faciale Auffälligkeiten aufweisen. Wenn zudem auffällt,
dass der Kopfumfang zu klein und das Kind untergewichtig ist, sollte man die Diagnose
FAS erwägen.
ZNS-Auffälligkeiten
Zur Erfüllung des Kriteriums Funktionelle ZNS-Auffälligkeiten sollte mindestens eine
der folgenden Auffälligkeiten (1. oder 2.) zutreffen, die nicht altersadäquat ist
und nicht allein durch den familiären Hintergrund oder das soziale Umfeld erklärt
werden kann:
1. Globale Intelligenzminderung mindestens zwei Standardabweichungen unterhalb der Norm (IQ < 70) oder signifikante
kombinierte Entwicklungsverzögerung bei Kindern unter zwei Jahren. Erfahrung aus eigener
Praxis: 80 bis 90 % der Kinder mit Vollbild FAS, die sich in unserer Ambulanz vorstellen,
haben einen durchschnittlichen oder unterdurchschnittlichen IQ, aber keinen IQ unter
70.
Jedoch weisen sie mindestens drei Auffälligkeiten in folgenden Bereichen auf:
2. Leistung mindestens zwei Standardabweichungen unterhalb der Norm in mindestens drei der folgenden
Bereiche (oder in mindestens zwei der folgenden Bereiche in Kombination mit Epilepsie):
Für die Beurteilung der typischerweise betroffenen funktionellen ZNS-Bereiche geben
in der Leitlinie vorgeschlagene neuropsychologische Testverfahren eine praxisbezogene
Richtschnur [3].
Funktionelle ZNS-Auffälligkeiten im Alltag
Ein 12-jähriger Junge mit FASD will mit seiner Mutter einen Kuchen backen. Mehl und
Eier fehlen. Die Mutter schickt den Jungen mit 20 Euro zum Supermarkt um die Ecke,
zu dem sie immer gehen. Was dann passiert: Der Junge wird sehr bereitwillig den Auftrag
annehmen. Das erste Problem: Er wird den Supermarkt nicht finden, obwohl er schon
oft dort war. Grund: Er hat ein räumlich-visuelles Problem. Er findet sich nicht zurecht.
Er wird sich verirren und nicht mehr wissen, wo er ist. Findet er den Supermarkt doch,
wird er vergessen haben, was er kaufen soll. Hat die Mutter ihm einen Zettel geschrieben,
ist nicht gesagt, dass er diesen findet. Im Supermarkt wird er nicht wissen, wo das
Mehl steht und es z.B. im Kühlregal suchen. Er wird von dem Angebot, z.B. im Süßigkeitenregal,
vollkommen abgelenkt sein. Falls er es doch schafft, nur Mehl und Eier zu kaufen,
wird er der Kassiererin die 20 Euro geben und fragen: „Reicht das?“ Er hat keine Idee
von Mengen, kann nicht einschätzen, wie viel etwas wert ist oder kostet, kann nicht
nachvollziehen, was er an Geld zurückbekommt. Diese Problematik hält sich bis ins
Erwachsenenalter. Beim Einpacken wird er Eier unten in die Tasche legen, Mehl darauf
fallen lassen, ein Teil der Eier geht dabei kaputt. Grund: Seine Exekutivfunktionen
sind gestört. Höhere kognitive Prozesse wie ein Verständnis des Ursache-Wirkungs-Prinzips
sind eingeschränkt. Er ist nicht fähig zur Handlungsplanung und -korrektur. Als er
nach Hause gehen will, verläuft er sich wieder. Dann hält ein Auto neben ihm an, aus
dem ein fremder Mann ihn fragt, wohin er möchte. Wenn der Mann sehr freundlich anbietet,
ihn mitzunehmen, kann es sein, dass der Junge einsteigt. Das Gefährdungspotenzial
erkennt er nicht.
Zur Erfüllung des Kriteriums Strukturelle ZNS-Auffälligkeiten sollte außerdem folgende
Auffälligkeit, adaptiert an Gestationsalter bzw. Alter und Geschlecht, dokumentiert
zu einem beliebigen Zeitpunkt, zutreffen:
Mütterlicher Alkoholkonsum
Wenn Auffälligkeiten in den ersten drei diagnostischen Säulen vorliegen, kann die
Diagnose auch ohne Bestätigung des Alkoholkonsums der Mutter während der Schwangerschaft
gestellt werden, weil die anderen drei diagnostischen Säulen hoch sensitiv und spezifisch
sind.
Die Leitliniengruppe definiert einen „wahrscheinlichen mütterlichen Alkoholkonsum
während der Schwangerschaft“ als mündliche oder schriftliche Angabe im Rahmen der
Fremdanamnese [3].
Personen des privaten Umfeldes (unter Berücksichtigung möglicher familiärer Konflikte)
können z.B. sein:
-
Vater des Kindes
-
während der Schwangerschaft mit der Mutter zusammenlebende/r Partner oder Partnerin
-
andere Verwandte des Kindes
-
andere Bezugspersonen, die in engem Kontakt zur Mutter stehen
Personen des beruflich-unterstützenden Umfeldes können z.B. sein:
Zusammenfassung
Im Säuglings- und Kleinkindalter hängt die Diagnose FAS von einer erfahrenen entwicklungsneurologischen
Beurteilung ab. Im Kindes- und Jugendalter muss eine aufwendige psychologische Diagnostik
erfolgen, da die Beeinträchtigung in funktionellen ZNS-Bereichen auch für die adäquate
Förderung, das Funktionsniveau im Alltag und die Lebensqualität der betroffenen Jugendlichen
und ihrer Familien entscheidend ist. Die Hebamme selbst kann keine Diagnose FASD
stellen, sollte aber bei Auffälligkeiten des Kindes oder in der Familie den Verdacht
äußern und eine weitere Beurteilung initiieren.
Diagnose weiterer Fetaler Alkoholspektrumstörungen
Diagnose weiterer Fetaler Alkoholspektrumstörungen
Partielles Fetales Alkoholsyndrom (pFAS) [3]
-
Gleiche Auffälligkeiten des Gesichts, aber es müssen nur zwei der drei o.g. Auffälligkeiten
auftreten
-
Beeinträchtigung im ZNS in mindestens drei der oben genannten Bereiche (funktionell
oder strukturell)
-
Wichtig: Zur Diagnosestellung wird ein wahrscheinlicher oder bestätigter Alkoholkonsum
der Mutter während der Schwangerschaft benötigt, weil die Spezifität abnimmt, wenn
nicht alle drei facialen Auffälligkeiten vorliegen und die Wachstums-Säule wegfällt.
Alkoholbedingte entwicklungsneurologische Störung (ARND) [3]
Unter den diagnostischen Säulen fallen die Wachstumsauffälligkeiten und facialen Auffälligkeiten
weg – es handelt sich um eine „nicht sichtbare Behinderung“. Dadurch ist die Diagnostik
erschwert und es ist schwierig, die adäquate Förderung und Akzeptanz zu erreichen.
-
Beeinträchtigung in mindestens drei der o.g. ZNS-Bereiche. Da es sich um eine nicht
sichtbare Behinderung handelt und die Auffälligkeiten exakt bestimmt und immer zwei
Standardabweichungen unter der Norm liegen müssen, muss eine ausführliche psychologische
Diagnostik von einem FASD-erfahrenen Leistungserbringer erfolgen.
-
Die Bestätigung des Alkoholkonsums der Mutter in der Schwangerschaft ist Voraussetzung
für die Diagnose.
Alkoholbedingte angeborene Fehlbildungen (ARBD)
Wird als Diagnose heute in Deutschland nicht mehr gestellt, weil keine Evidenz für
ARBD als eindeutige Krankheitsentität vorliegt und weil die Malformationen (z.B. Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte)
nicht spezifisch sind (auch bei anderen Erkrankungen und bei ansonsten gesunden Kindern
auftritt) [3].
Warum eine Differentialdiagnostik wichtig ist
Warum eine Differentialdiagnostik wichtig ist
Wachstumsdefizite, phänomenologische bzw. faciale Besonderheiten, Beeinträchtigungen
in den für FASD typischen ZNS-Funktionsdomänen sollten immer klinisch-differentialdiagnostisch
betrachtet werden. Differentialdiagnosen in allen Bereichen müssen medizinisch und
psychologisch abgeklärt werden. Fehldiagnosen müssen aufgrund der Gefahr der sozialen
Stigmatisierung weitmöglichst vermieden werden. Es muss aber bedacht werden, dass
das Fehlen der Diagnose FASD häufig zu einer Überforderung des Kindes und seiner
Bezugspersonen, zu einer deutlichen Belastung der Familien und zu frustrierenden Lebensverläufen
führt. Dabei ist zu beachten, dass FASD sehr viel häufiger auftritt als andere Erkrankungen
wie z.B. genetische Syndrome oder Stoffwechselerkrankungen.
Im Rahmen der Differentialdiagnose sollte ausgeschlossen werden, dass sich die festgestellte
Wachstumsstörung durch andere Ursachen erklären lässt, z.B. familiärer Kleinwuchs
(kleine Eltern, kleine Kinder), konstitutionelle Entwicklungsverzögerung, pränatale
Mangelzustände, Skelettdysplasien, hormonelle Störungen, genetische Syndrome (z.B.
Turner-, Silver-Russel-Syndrome), chronische Erkrankungen, Malabsorptionen, Mangelernährung,
Vernachlässigung [9].
Bei den facialen Auffälligkeiten ist auszuschließen, dass diese zurückzuführen sind
z.B. auf toxische Effekte in der Schwangerschaft (z.B. Antikonvulsiva, Tulol, maternale
Phenylketonurie) oder genetisch bedingte Erkrankungen (z.B. Di-George-Syndrom, Noonan-Syndrom)
[9].
Bei den funktionellen ZNS-Auffälligkeiten sind verschiedene psychische Störungen,
andere Entwicklungsstörungen und z.B. Suchterkrankungen auszuschließen. Bei den strukturellen
Störungen ist z.B. auszuschließen, dass es sich um familiäre Mikrocephalie, genetische
Syndrome, pränatale Mangelversorgung, Infektion, hypoxisch-ischämische Hirnschädigung,
maternale Erkrankungen, postnatale Mangelernährung, Stoffwechselstörungen oder chronische
Erkrankungen handelt [9].
Prognose FASD
61% der Erwachsenen mit FASD haben ihre Schullaufbahn abgebrochen [4]. Lediglich 13% der Erwachsenen mit FASD hatten einmalig einen Job auf dem ersten
Arbeitsmarkt. Nur ca. 1/3 der erwachsenen Patienten mit FASD konnten ein selbstständiges
Leben führen, 2/3 lebten betreut – in Institutionen oder auch im Erwachsenenalter
noch mit den Eltern [5]. 67% der Betroffenen mit FASD berichteten über erlebte körperliche oder sexuelle
Misshandlung und 35% hatten selbst ein Alkohol- oder Drogenproblem. 60% der Erwachsenen
mit FASD gerieten in Gesetzeskonflikte [4].
Therapie
Die FASD resultiert aus einer alkoholtoxischen Gehirnschädigung, die biologisch nicht
reparabel ist. Eine frühzeitige Diagnostik und ein stabiles förderndes Umfeld kann
den Langzeit-Outcome der Kinder mit FASD jedoch deutlich positiv beeinflussen [4]. Im Rahmen der Therapie kann funktionell mit den Kindern und Jugendlichen gearbeitet
werden und sie können individuell in ihrer Entwicklung unterstützt werden. Therapieziel
ist die Verbesserung der Alltagsfunktionen der Betroffenen und der Lebensqualität
der Familien. Die Therapie sollte wegen der Symptomvielfalt von Patienten mit dem
Spektrum alkoholbedingter pränataler Schädigungen nicht diagnose- sondern symptomorientiert
ausgerichtet sein und die Bezugspersonen sind in Form von Trainings und Beratung immer
mit einzubeziehen [6].
Für die frühe Diagnose sind auch Hebammen gefragt: Bereits Neugeborene können die
facialen Auffälligkeiten aufweisen. Auch wenn der Kopfumfang zu klein und das Kind
untergewichtig ist, sollte an FAS gedacht werden und der Verdacht auf FASD in einem
spezialisierten Zentrum überprüft werden.
Pocket-Guide
Einen FASD-Pocket-Guide mit einer Übersicht aller diagnostischen Kriterien für Fetale
Alkoholspektrumstörungen finden Sie zum Download unter www.ispz-hauner.de unter der Rubrik > Abteilungen > TESS – FASD
Die Leitlinie zur Diagnose der FASD steht zum Download unter www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/022-025.html