ergopraxis 2016; 9(06): 18-21
DOI: 10.1055/s-0042-108990
ergotherapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Damals und heute – Kindliches Spielverhalten

Marlis Schauer

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Publication Date:
03 June 2016 (online)

 

Die Zeiten haben sich geändert und mit ihnen äußere Rahmenbedingungen für die kindliche Entwicklung. Ergotherapeutin Marlis Schauer erinnert sich an die freie Nachmittagsgestaltung, die es vor 50 Jahren gab, und überlegt, wie viel Spielraum den Kindern heute zur Verfügung steht.


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Marlis Schauer

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Marlis Schauer ist seit 30 Jahren Ergotherapeutin, seit 20 Jahren Feldenkrais-Lehrerin und hat eine eigene Ergotherapiepraxis in Stuttgart.
Kontakt: marlis.schauer@arcor.de,
www.marlis-schauer.de

Ich habe den Kindern möglichst wenig geholfen. Wenn Erwachsene direkt eingreifen, geschieht es leicht, dass die Kinder sich zu wenig auf sich selbst verlassen.

Elfriede Hengstenberg, deutsche Pädagogin (1892–1992)

Zeiten, in denen Kinder sich in eigener Regie beschäftigen dürfen, ohne Einmischung von Erwachsenen und ohne engen Zeitplan, gibt es kaum noch. Freiräume für die Neugier, für das Ausprobieren, für motorische und kognitive selbst gesteuerte Erfahrungen sind mittlerweile ziemlich eng gesteckt. Natürlich gibt es jetzt andere Freiheiten. Das Kind, das sich nun bis zu acht Stunden täglich auf einem begrenzten Schul- oder Kindergartengelände befindet, darf heute mehr entscheiden. Zum Beispiel, was es wann und wo essen oder trinken möchte, für welches Lernmaterial es sich interessiert, mit welcher Kleidung es morgens das Haus verlässt oder welchen Film es in seiner Freizeit sehen möchte. Die meisten Kinder lernen jetzt im Laufe der ersten zehn Lebensjahre viele verschiedene Plätze, Gruppen und Orte kennen, die keinen unmittelbaren Bezug zueinander haben. Doch alle Plätze haben eins gemeinsam: Da ist schon ein Programm, ein abgestecktes Zeitfenster.

Ein Blick zurück

Ich will nicht sagen, dass früher alles besser war. Aber die meisten Kinder der 60er Jahre hatten etwas, was es heute kaum noch gibt: genügend Zeit, um begonnene Beschäftigungen in eigener Weise zu beenden. Straßen, Wege, öffentliche Grünflächen oder ein kleiner Wald dienten ihnen als Spielraum. Sie waren nachmittags weitgehend ohne Aufsicht oder Unterhaltungsprogramm. Nur selten mischte sich ein Erwachsener bei Konflikten ein.

Kinder kombinierten Spielen und Lernen ganz automatisch und erweiterten dabei ihren Bewegungs- und Wahrnehmungsradius schrittweise. Ausgehend vom jeweiligen Wohnhaus konnten Kinder einen ganzen Ort, die Bewohner und die Gepflogenheiten kennenlernen, in unzählbaren Wiederholungen und Variationen. Auf dem Weg zur Grundschule entstanden ganz von selbst kleine Grüppchen. Natürlich, hier und da gab es auch Streitereien, aber die lösten sich genauso schnell wieder auf, wie sie entstanden waren. Auf dem Heimweg wurde getrödelt, es wurden Schleichwege, Spielplätze und Hinterhöfe entdeckt. Telefone waren noch nicht überall selbstverständlich. Und wenn es sie gab, dann nicht für die Verabredungen der Kinder. Spielkameraden tauchten einfach auf, riefen von der Straße aus oder klopften an die Tür.

Wesentlich ist, dass das Kind möglichst viele Dinge selbst entdeckt. Wenn wir ihm bei der Lösung aller Aufgaben behilflich sind, berauben wir es gerade dessen, was für seine geistige Entwicklung das Wichtigste ist.

Emmi Pikler, ungarische Kinderärztin (1902–1984)


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Selbsteinschätzung und Selbstständigkeit

Kinder durften viele Zusammenhänge auf lebenspraktischen Pfaden erkennen. Sie lernten, an vorherige Erfahrungen anzuknüpfen und sich zeitlich und räumlich zu orientieren. Die Nachmittagsaktivitäten fanden vorwiegend draußen statt, und die Kinder wussten in der Regel, wo sie mal auf die Toiletten gehen durften oder ein Pflaster herbekamen.

Ein verwildertes Grundstück diente ganz selbstverständlich zum Spielen. Im Ort gab es aber auch richtige Spielplätze. Zwei waren so nah beieinander, dass man sogar von einem zum anderen rufen konnte. Interaktion und Unterscheidung zwischen Nähe und Distanz, Größen, Mengen und Lautstärken erlernten die Kinder ganz nebenbei. Am Drehpilz mussten sie einschätzen, ob sie lieber mit den größeren oder den kleineren Kindern drehten. Die Größeren konnten nämlich mit den Füßen am Boden rennen und den Pilz richtig in Schwung bringen. Und wenn man erst einmal daran hing, gab es nur: festhalten und durchhalten, rechtzeitig abspringen oder runterfallen. Keine Mutter, kein Vater stand daneben, um aufzupassen.


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Kommunikation und Problemlösung

Wenn sich Kinder trafen, gab es eine Art Standardkommunikation: „Wie heißt du?“, „Wo wohnst du?“, „Darf ich mitspielen?“ – das reichte erst mal aus. So entstanden Spielgruppen, die ganze Nachmittage miteinander verbrachten. Waren drei, vier oder mehr Kinder beieinander, wurden Gruppenspiele gespielt. Springseile aus einem Stück ausrangierter Wäscheleine und zusammengeknotete Gummibänder für Gummitwist gehörten zur Standardausrüstung. Die Bewegungsspiele schulten die Geschicklichkeit und wurden häufig mit kognitiven Prozessen und dem Aufsagen von Versen kombiniert.

Es gab Bälle, Puppen, Rollschuhe und Federballschläger. Landete ein kostbarer Federball in einer Dachrinne oder in einer Baumkrone, entstanden erfindungsreiche Kletter-, Schüttei- oder Angel-Strategien. Hinkelsteine wurden mit kritischem Auge am Wegrand ausgesucht. Sie mussten flach und glatt sein. Um Hinkelkästchen auf die Bürgersteige zu malen, brauchte man dagegen weiche Steine. Kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, Straßenkreide zu kaufen.


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Sinneseindrücke, Geduld und Vorfreude

Snacks und Zwischenmahlzeiten, für die das Spielen unterbrochen werden musste, gab es nicht. Drei Mahlzeiten am Tag kamen auf den Tisch. Wer zwischendurch Kohldampf hatte, musste entscheiden: früher nach Hause gehen oder weiterspielen? In der Regel siegte das Spiel.

Neue Spielsachen waren eine Kostbarkeit. Sie waren mit Vorfreude, Spannung und Wartezeiten verbunden. Und es war überhaupt nicht selbstverständlich, dass geäußerte Geburtstags- oder Weihnachtswünsche tatsächlich erfüllt wurden. Kaputte Puppen wurden zum Puppendoktor geschickt und tauchten unter dem Weihnachtsbaum geheilt wieder auf.


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Verantwortung und motorische Experimente

Da es damals in kleinen Ortschaften nur wenige Läden gab, waren die Kinder mit selbstständigen Einkäufen und Behältern wie Einkaufstaschen vertraut. Mit der Milchkanne erfanden sie regelrechte Kunststücke – auf dem Kopf balancieren oder am ausgestreckten Arm kreisen lassen. Unterwegs mal einen Schluck aus der großen Kanne zu trinken, war natürlich verlockend und ebenfalls ein kleines Kunststück, wenn man dabei nichts verschütten wollte. Auch sonst machten Kinder allerlei praktische Erfahrungen mit der Schwerkraft, was nicht selten mit Schrammen und Löchern verbunden war. Die Spielkleidung hatte meist geflickte Stellen, aber das störte niemanden.


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Soziale Kompetenz und Achtsamkeit

Kinder spielten miteinander, egal wer noch im Kindergarten oder in der Grundschule war und wer aufs Gymnasium ging. Wenn dabei der fünfjährige Paul den halben Nachmittag im Puppenwagen der zehnjährigen Lisa verbrachte oder die sechsjährige Elfriede als Torpfosten beim Fußballspiel der größeren Jungs aufgestellt war, dann kam nicht gleich der elterliche Rettungsdienst, sondern der Torpfosten lief irgendwann weg und die lebendige Puppe stieg aus, wenn es genug war.

Die Spielgruppen veränderten sich immer wieder in ihrer Zusammensetzung, lösten sich aber nie vollständig auf. Klar, die einen sprachen plötzlich Englisch und wetteiferten um das größere Vokabular, andere gingen in Sportvereine oder waren bei der Freiwilligen Feuerwehr aktiv. Der achtsame Umgang mit Menschen regulierte sich dadurch, dass es in den Begegnungen eine überschaubare Kontinuität gab.


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Von damals lernen

Zusammengefasst lässt sich sagen: Kinder haben früher Basisfähigkeiten gelernt, ohne dass man in ihrem Umfeld darüber nachgedacht hätte. Sie erlangten selbstgesteuert im freien Spiel sensorische, motorische und soziale Fähigkeiten, wiederholten und variierten diese beliebig. Wie beeinflussen Überlegungen dieser Art meine Arbeit mit Kindern, die aufgrund motorischer, feinmotorischer, sensorischer und kognitiver „Defizite“ in die Ergotherapie kommen? Ich kann mit gutem Gewissen Wiederholungen und kleine Variationen anbieten, auch wenn ein Kind mal gelangweilt die Augen verdreht und sagt: „Das kenne ich schon.“ Meistens ist es dann angenehm überrascht, dass es das so doch noch nicht kennt und zugleich an bereits Bekanntem anknüpfen kann. Meine Vorschläge und Korrekturen beschränken sich auf ein Minimum, während das Kind schrittweise und selbstständig eine Fähigkeit entwickeln kann, die vorher als Defizit im Raum stand.


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Kindliche Fähigkeiten

Therapeutische Inhalte heute

In den vergangenen 30 Jahren haben sich die therapeutischen Inhalte sehr verändert. Viele Kinder kommen heute in die Ergotherapie, weil ihre Wahrnehmung anders funktioniert, als es erwartet wird, oder weil sie mit motorischen Unsicherheiten auffallen. Schwierigkeiten haben sie beispielsweise mit:

  • → der Wahrnehmungsverarbeitung

  • → sozialer Kompetenz

  • → der Kontinuität im Handlungsverlauf

  • → dem Erkennen von Reihenfolgen, Wiederholungen, Variationen

  • → dem Anknüpfen an vorherige Erfahrungen

  • → dem Unterscheiden von Größen und Mengen, Geschwindigkeit und Lautstärke, zeitliche und räumliche Orientierung

  • → dem Unterscheiden zwischen „viel und wenig“, „satt oder hungrig sein“, Geduld und Ungeduld, Vorfreude und sofortiger Wunscherfüllung

  • → der Selbstregulation zwischen Müdigkeit, Neugier, Interesse, Langeweile

  • → dem Einschätzen dereigenen Kräfte und Befindlichkeiten

  • → den Zusammenhängen von Bewegungen, Gerüchen, Geräuschen

  • → den Zusammenhängen von Sprache, Bewegung und Handlung

  • → Konzentration, Aufmerksamkeit, Impulskontrolle

  • → Interaktion, Kommunikation

  • → Koordination, Geschicklichkeit

  • → der Entwicklung eigener Ideen und der praktischen Umsetzung

  • → selbstständigen Problemlösungen

  • → dem achtsamen Umgang mit Menschen und mit Spielmaterial

Einerseits wird von Kindern erwartet, dass sie all diese Fähigkeiten während ihrer Entwicklung vor der Pubertät erlangen. Aber geben die alltäglichen Bedingungen für diese Entwicklungen überhaupt einen nahrhaften Boden?

„Ich würde mein Kind zu einem Rebellen erziehen!“
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Prof. Dr. Gerald Hüther zählt zu den bekanntesten Hirnforschern Deutschlands. Mit seiner wissenschaftlichen Arbeit setzt er sich für die Entfaltung menschlicher Potenziale, vor allem im Bereich Erziehung und Bildung, ein. Im Interview mit ergopraxis spricht er über die Bedeutung des freien Spiels für die kindliche Entwicklung.
Abb.: F. Hüther

Wie wichtig ist das freie Spiel für die Gehirnentwicklung von Kindern?
Früher hat man geglaubt, dass das Spielen eine Art Vorbereitung auf das spätere Leben ist. Inzwischen ist deutlich geworden, dass sich sämtliche lernfähigen Säugetiere dadurch auszeichnen, dass sie spielen. Und sie spielen nicht, um die späteren Lebenstechniken einzuüben, sondern um auszuprobieren, was mit ihrem Körper und in ihrer Lebenswelt möglich ist. Das heißt, Spielen ist in Wirklichkeit ein aktives Erkunden der eigenen Potenziale. Kinder, denen nicht genügend Raum zum freien und unbekümmerten Spielen bleibt, haben keine hinreichenden Möglichkeiten, sich selbst mit ihren Anlagen, Talenten und Begabungen kennenzulernen.


Warum ist eine gewisse Kontinuität im Sinne von Vertrautheit bzw. Bekanntheit wichtig, um vorhandene Erfahrungen weiterzuentwickeln?
Vertrautheit ist das beste Mittel gegen Angst, und Angst ist der größte Unterdrücker von Neugier. Menschen öffnen sich nicht, wenn sie Angst haben. Heute sind Eltern oft verunsichert, weil sie selbst verlernt haben, was das Richtige für sie und ihre Kinder ist.


Wie wichtig sind die Wiederholung von Betätigungen und das Anknüpfen an bereits Bekanntes in der kindlichen Entwicklung?
Man kann nichts Neues lernen, wenn es nicht anknüpfbar ist an etwas, das man bereits weiß. Neues Wissen darf allerdings nicht identisch mit dem sein, was schon bekannt ist. Es darf aber auch nicht zu neu sein. Das Einzige, womit Kinder etwas anfangen können, ist etwas, das ein kleines bisschen über das hinausgeht, was sie schon wissen. Und das ist das, was sie im freien Spiel tun. Dabei legt sich jedes Kind seine Latte für die nächste zu bewältigende Aufgabe genau auf die Höhe, die zu ihm passt. Und jedes Mal sind die Aufgaben von den Kindern so gewählt, dass es einer Anstrengung bedarf, sie zu lösen. Kinder sind nicht bequem, man muss sie nicht dazu zwingen, Leistungen zu vollbringen. Es ist ihr eigenes Bedürfnis.


Welchen Einfluss auf die Entwicklung von Kindern hat es, wenn Gruppen und Plätze Innerhalb der ersten zehn Lebensjahre häufig wechseln?
Kinder, die das erleben, lernen, mit ständig wechselnden Gruppen und Plätzen zurechtzukommen. Das führt dazu, dass sie keine Bindung mehr zu bestimmten Orten entwickeln. Es ist ihnen egal, wie es bei ihnen zu Hause im Dorf ist. Aber dafür sind sie mobil und passen besser in unser von Flexibilität geprägtes Wirtschaftssystem.


Ist es für die Sozialentwicklung förderlich, wenn Kinder unterschiedlicher Altersstufen zusammen spielen?
Das ist die einzig sinnvolle Art und Weise. So sind sie über die letzten hunderttausend Jahre großgeworden. Sie konnten erkunden und entdecken, was ihnen ihre Lebenswelt an Möglichkeiten bietet.


Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem kontrollierten „Spielraum“ und kognitiven und motorischen Unsicherheiten?
Können Kinder ihre Potenziale nicht mehr im freien Spiel entdecken und entfalten, bleiben sie eine Kümmerversion dessen, was aus ihnen hätte werden können. Kognitive, emotionale, soziale und körperliche Fähigkeiten können nicht mehr genügend ausgebildet werden. Stattdessen erlernen die Kinder Muster, die ihnen von Erwachsenen vorgegeben werden. Das ist Abrichtung und Dressur.


Wie würden Sie Ihr Kind in der heutigen Zeit erziehen?
Ich würde mein Kind zu einem Rebellen erziehen! Und zwar, indem es mit anderen in den Waldkindergarten geht. Kommt die starke Truppe dann in die erste Klasse, zeigt sie den anderen, wo es langgeht. Diese Kinder brauchen keine Pokémon-Karten oder Computerspiele. Sie wissen, dass es wunderbare Dinge in der Welt zu entdecken gibt. Eltern müssen entscheiden, ob sie Kinder großziehen wollen, die unserer Konsumgesellschaft dienen, oder ob sie Gestalter ihres eigenen Lebens sein dürfen.


Das Gespräch führte Marion Anna Becker.


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Marlis Schauer ist seit 30 Jahren Ergotherapeutin, seit 20 Jahren Feldenkrais-Lehrerin und hat eine eigene Ergotherapiepraxis in Stuttgart.
Kontakt: marlis.schauer@arcor.de,
www.marlis-schauer.de
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Prof. Dr. Gerald Hüther zählt zu den bekanntesten Hirnforschern Deutschlands. Mit seiner wissenschaftlichen Arbeit setzt er sich für die Entfaltung menschlicher Potenziale, vor allem im Bereich Erziehung und Bildung, ein. Im Interview mit ergopraxis spricht er über die Bedeutung des freien Spiels für die kindliche Entwicklung.
Abb.: F. Hüther