JuKiP - Ihr Fachmagazin für Gesundheits- und Kinderkrankenpflege 2016; 05(05): 202-203
DOI: 10.1055/s-0042-112793
Kolumne · Rechtsticker
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Kolumne · Rechtsticker

Heidi Günther
,
Tobias Weimer
1   WEIMER I BORK – Kanzlei für Medizin- & Strafrecht, Frielinghausstr. 8, 44803 Bochum, URL: info@kanzlei-weimer-bork.de   URL: www.kanzlei-weimer-bork.de
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Publication Date:
07 October 2016 (online)

KOLUMNE

Wer lesen kann, ist immer im Vorteil?

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(Paavo Blåfield)

Was ist ein Horrorvideo verglichen mit dem Beipackzettel

(Dr. rer. bpol. Gerhard Kocher, Schweizer Gesundheitsökonom)

Wahrscheinlich ist es jedem schon einmal passiert und mir als nur mäßig durchschnittlicher Hausfrau sogar schon mehr als einmal. Ich habe schon den einen oder anderen Pulli oder eine Strickjacke in Größe L in die Waschmaschine getan und in Größe S wieder herausgeholt. Das wäre mir nicht passiert, hätte ich die sogenannten Waschzettel in dem jeweiligen Wäschestück beachtet. Das sind die lustigen, winzig kleinen Piktogramme in der Innenseite des Wäschestücks, die mir Hilfestellung für eine richtige Behandlung desselbigen geben sollen. Da wird mit Strichen, Punkten auf Bügeleisen, warnenden Händen und Temperaturanzeigen gearbeitet und mir angezeigt, wie ich das Teil zu waschen, zu trocknen und zu bügeln habe oder auch nicht, um lange Freude daran zu haben.

Den Begriff „Waschzettel“ nutzen wir ja auch für die Beipackzettel bei allen Medikamenten, die wir während unserer täglichen Arbeit auf den Stationen verteilen. Ich persönlich beachte diese Packungsbeilage nach gefühlt hundertjähriger Berufstätigkeit eher weniger. Meist dann, wenn ich ein selten gebrauchtes Medikament auflösen muss und nicht mehr genau weiß, mit welcher Flüssigkeit, NaCl-Lösung oder Aqua. Oder bei einem ganz neuen oder zumindest mir unbekannten Medikament. Ansonsten verlasse ich mich auf meine Erfahrung und mein Wissen und natürlich auf das der anordnenden Ärzte.

Dabei sind diese Beipackzettel nicht nur zur juristischen Absicherung für die herstellenden Pharmafirmen gedacht. Gerade ältere Menschen, zumindest erlebe ich es so, sind ganz wild darauf, diese oft epischen Werke zu lesen und zu hinterfragen.

Natürlich gibt es, wie für offensichtlich alles in unserem Leben, für diese Beipackzettel eine Richtlinie des Europäischen Parlaments (Richtlinie 2001/83/EG). In dieser sind bis ins kleinste Detail festgelegt, wie so eine Packungsbeilage auszusehen hat. Da werden die Schriftgröße und der Zeilenabstand festgelegt. Spaltenformat wird gewünscht. Aber bitte keine Kursivschrift und Unterstreichungen, kein Blocksatz und keine Hintergrundbilder. Dafür darf mit Fettdruck und Kontrasten gearbeitet werden. Na, super. Es soll also gut lesbar sein! Aber allgemein verständlich? Das habe ich leider nicht gefunden. Nun weiß jeder, dass sich alle Beipackzettel im Aufbau ähneln. Da geht es unter anderem um Wirkstoff, Anwendungsbereiche, Wechselwirkungen, Anwendung bei Schwangerschaft und Stillzeit, Beeinträchtigungen und um die Nebenwirkungen.

Und jetzt kommt eine wahre Geschichte aus unserem Stationsalltag: Nach bestimmten Operationen wird in unserer Klinik die sogenannte Ossifikationsprophylaxe (Definition: Vorbeugung gegen Knochenneubildung außerhalb des Skelettsystems im Weichteilgewebe, das ein Gelenk umgibt) durchgeführt und dazu das Medikament Celebrex (NSAR) verabreicht. Eine Patientin, die ohnehin schon eine Unmenge von Medikamenten einnahm, bemerkte die neuen zwei Tabletten in ihrem Dispenser und hatte jede Menge Fragen dazu. Was ist das? Vertragen sich diese Tabletten mit den anderen? Haben diese Nebenwirkungen und wenn ja, welche? Da ja der Service- und Informationsgedanke in unserer Klinik ganz groß geschrieben wird, versprach ich der Patientin, sie zeitnah zu informieren. Ging in den Stützpunkt und nahm den „Waschzettel“ aus der Packung, um mal schnell querzulesen, ob es irgendwas Wichtiges zu wissen gibt. Ja, der Waschzettel! Ein Epos auf in offensichtlich fachkundiger Origamitechnik gefaltetem, 50 x 30 cm großem hauchdünnen Papier. (Ich habe unlängst mit meinem Sohn meine Wohnung renoviert und da hatte die Tapete eine Breite von 53 cm!!!) Beidseitig bedruckt – versteht sich. Ich gehe auch davon aus, dass die Schriftgröße und der Zeilenabstand Beachtung fanden, obwohl es nur mit optimaler Sehkraft oder einer sehr guten Lesehilfe zu entziffern war. In etwa zwei Drittel des gesamten Werkes wurden die Nebenwirkungen dieses Medikaments beschrieben. Als ich diese nach der Übergabe vor meinen Kollegen zum Vortrag gebracht habe, hatte das Ganze einen Hauch von Realsatire. Eine geradezu unfassbare Menge von Eventualitäten wurde dort aufgeführt. Ich habe 56 mögliche, fett geschriebene Nebenwirkungen gezählt, die oft, selten, häufig, manchmal oder gelegentlich auftreten können. Das geht von obligatorischem Kopfschmerz, Durchfall und Übelkeit über Entzündungen des Magen-Darm-Trakts inkl. Blutungen, Leberfunktionseinschränkungen, Angstzuständen, Depressionen und Wahnvorstellungen bis hin zu Infektion der Atemwege und zur Atemnot. Auch Seh- und Geschmacksstörungen und Verminderung der Hörleistung sind nicht ausgeschlossen. Interessant fand ich auch, dass unter sonstige Nebenwirkungen Schlaganfall, Epilepsie, Nierenversagen und Hirnhautentzündungen zu finden waren. Ein Beipackzettel, der Mut macht und Optimismus verbreitet. Der auf den Behandlungserfolg hoffen lässt. Ob man den dann noch wahrnimmt, ist natürlich nicht garantiert. Aber für alle Nebenwirkungen gibt es dann sicherlich ein anderes Medikament. Hauptsache, die Knochen machen dann auch noch, was sie sollen.

Der Patientin habe ich dann sehr kurz und bündig mitgeteilt, dass es schon passen würde, und habe gehofft, dass sie diesen Zettel nicht selbst lesen möchte. Es war mir übrigens nicht möglich, diesen Superbeipackzettel wieder so zu falten, dass ich ihn in die Originalverpackung stecken konnte, ohne dass diese Schaden nimmt.

Mir ist zwar klar, dass es naiv wäre zu glauben, dass es eine medikamentöse Therapie ohne Nebenwirkung geben könnte. Aber dieser „Waschzettel“ hat mich dann doch ein bisschen umgehauen.

In diesem Sinne, Ihre

Heidi Günther
hguenther@schoen-kliniken.de