Zahnmedizin up2date 2017; 11(01): 43-56
DOI: 10.1055/s-0042-113039
Varia
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Präventivbetreuung von Menschen mit geistiger Behinderung in der zahnärztlichen Praxis

Andreas G. Schulte
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Publication Date:
01 March 2017 (online)

Einleitung

Am Ende des Jahres 2015 lebten in Deutschland 7,6 Millionen Menschen mit einer amtlich anerkannten schweren Behinderung [1]. Die Formulierung „Mensch mit Behinderung“ wird aus wohlüberlegten Gründen verwendet, denn die Bezeichnung „behinderter Mensch“ wird von den Betroffenen als diskriminierend empfunden. Deshalb wird seit vielen Jahren von Betroffenen oder Organisationen, welche die Interessen von Menschen mit Behinderung vertreten, gefordert, korrekterweise von „Menschen mit Behinderung“ zu sprechen. Dieser Sprachgebrauch muss ebenfalls im Zusammenhang mit anderen Gruppen wie Kindern, Sportlern, Patienten usw. gelten.

Merke

Alle Personen, die aufgrund ihrer Tätigkeit im Gesundheitswesen Umgang mit Patienten mit Behinderung haben, sollen auf den Gebrauch des Begriffs „Menschen mit Behinderung“ achten.

Viele Organisationen haben sich in den letzten Jahren damit beschäftigt, zu definieren, welche Personen dem Begriff „Mensch mit Behinderung“ zuzuordnen sind. In einer Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde zum Thema „Grundsätze bei der zahnärztlichen Behandlung von Menschen mit Behinderung“ aus dem Jahr 2004 verwendeten die Autoren eine Definition aus dem sozialpädagogischen Bereich [2]. Diese lautete:

„Als behindert gelten Personen, welche infolge einer Schädigung ihrer körperlichen, geistigen oder seelischen Funktionen so weit beeinträchtigt sind, dass ihre unmittelbaren Lebensverrichtungen oder die Teilnahme am Leben der Gesellschaft erschwert werden.“

Die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete am 13. 12. 2006 die Resolution „UN-Convention on the Rights of Persons with Disabilities“ [3]. In ihr werden grundsätzliche Aussagen zu allen Lebensbereichen von Menschen mit Behinderung gemacht und dort lautet die etwas erweiterte Definition:

„Zu den Personen mit Behinderungen zählen diejenigen, die an körperlichen, geistigen, psychischen oder sensorischen Langzeit-Beeinträchtigungen leiden, die sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollständigen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“ [4].

In § 25 dieser Resolution werden Aussagen zur medizinischen Versorgung von Patienten mit Behinderung gemacht. Die Hauptaussagen sind wie folgt:

  • Personen mit Behinderungen sollen eine kostenlose oder bezahlbare Gesundheitsfürsorge bzw. die Teilhabe an Gesundheitsprogrammen in demselben Ausmaß, derselben Qualität und demselben Standard ermöglicht werden, wie sie anderen Personen gewährt wird.

  • Es sollen Gesundheitsleistungen angeboten werden, die von Personen mit Behinderung aufgrund ihrer Behinderung benötigt werden. Dazu gehören eine geeignete Früherkennung und Frühbehandlung sowie Angebote, die dazu dienen, weitere Behinderungen zu minimieren oder zu vermeiden.

  • Von den Leistungserbringern im Gesundheitssystem soll eingefordert werden, ihre Leistungen bei Personen mit Behinderung in derselben Qualität wie bei anderen zu erbringen.

Aus diesen Feststellungen lässt sich jedoch nicht ableiten, dass alle Personen mit Behinderung eine spezielle zahnärztliche Betreuung benötigen. Eine solche ist z. B. bei Personen notwendig, die Schwierigkeiten haben, bei den zahnärztlichen Untersuchungen und Behandlungen so zu kooperieren, dass diese in hinreichendem Maß möglich sind. Dies gilt in der Regel für Menschen mit geistiger Behinderung oder Personen mit verschiedenen Formen von spastischen Lähmungen.

Merke

Eine spezielle zahnärztliche Behandlung ist bei Personen notwendig, die Schwierigkeiten haben, bei den zahnärztlichen Untersuchungen und Behandlungen so zu kooperieren, dass diese in hinreichendem Maß möglich sind.

Vor allem ist eine spezielle zahnärztliche Betreuung bei den Personen erforderlich, die nicht in der Lage sind, in ausreichendem Maß eigenverantwortlich die erforderlichen Mundhygienemaßnahmen durchzuführen. Dies betrifft nicht nur Menschen mit geistiger Behinderung oder spastischen Lähmungen, sondern auch Menschen, die ihre Arme oder Hände nicht oder nur mit sehr großen Einschränkungen gebrauchen können. Dies kann z. B. bei Querschnittslähmungen oder neurologischen bedingten Koordinationsstörungen (z. B. Zustand nach Apoplex) oder bei fehlenden bzw. nicht vollständig ausgebildeten Armen und/oder Händen der Fall sein. Probleme bei der Durchführung einer adäquaten Mundhygiene werden außerdem sehr häufig beim Vorliegen von schweren psychischen Erkrankungen oder bei schwerer Beeinträchtigung des Seh- oder Hörvermögens beobachtet. Außerdem dürfen die Patienten mit schwerer Demenz oder mit apallischem Syndrom in dieser Aufzählung nicht fehlen.

Merke

Eine spezielle zahnärztliche Betreuung ist vor allem bei den Personen erforderlich, die nicht in der Lage sind, in ausreichendem Maß eigenverantwortlich die erforderlichen Mundhygienemaßnahmen durchzuführen.

Es ist nicht möglich, in einem Artikel auf die speziellen Aspekte der besonderen zahnärztlichen Betreuung von Menschen aller oben angesprochenen Gruppen einzugehen. Deshalb wird in diesem Artikel auf wichtige Aspekte eingegangen, die bei der zahnärztlichen Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung oder Mehrfachbehinderung zu beachten sind. Diese Gruppe ist sehr heterogen und die Ursachen für das Auftreten einer geistigen Behinderung können sehr unterschiedlich sein [5].

In diesem Zusammenhang ist es von Interesse, auf die Arbeit einer großen internationalen Forschergruppe hinzuweisen. Diese hat weltweit Daten zur Prävalenz von Erkrankungen gesammelt und die wichtigsten Ergebnisse im Jahr 2015 in der Zeitschrift Lancet veröffentlicht [6]. Dieser Artikel enthält unter anderem eine Tabelle zu Ursachen und Prävalenzraten von geistiger Behinderung. Dort wurden 23 verschiedene Ursachen für eine geistige Behinderung aufgeführt. Wenn man die Tabelle genau betrachtet, stellt man fest, dass die Zahl der Menschen mit angeborenen oder in der frühen Kindheit erworbenen geistigen Behinderungen sehr viel kleiner ist als diejenige der Menschen, welche die geistige Behinderung im Laufe des Lebens durch verschiedene Krankheiten oder Unfälle erworben hat. Aus dieser Tabelle geht ferner hervor, dass es weltweit ca. 153 Millionen Menschen mit geistiger Behinderung gibt. Rein rechnerisch bedeutet dies, dass in Deutschland ca. 1,5 Millionen Menschen betroffen sind. Genaue Zahlen sind für Deutschland nicht verfügbar.

Merke

Von Fachleuten aus verschiedenen Behindertenverbänden wird geschätzt, dass die Zahl der Menschen mit angeborener oder in der frühen Kindheit erworbener geistiger Behinderung in Deutschland ca. 450 000 beträgt.

In Bezug auf die Mundgesundheit von Menschen mit geistiger Behinderung liegen wenige wissenschaftliche Daten vor. Studien zur Kariesprävalenz und Karieserfahrung zeigen, dass diese Gruppe im Durchschnitt mehr unversorgte kariöse Defekte und erheblich mehr extrahierte Zähne aufweist als die Allgemeinbevölkerung im vergleichbaren Alter [7]–[9].

Wissenschaftliche Daten zur Parodontalgesundheit bei Menschen mit geistiger Behinderung liegen fast gar nicht oder nur für spezielle Gruppen wie Menschen mit Down-Syndrom vor. Auch dort zeigt sich, dass die Parodontalgesundheit von Menschen mit geistiger Behinderung im Durchschnitt deutlich schlechter als die der Allgemeinbevölkerung ist [10]. Die Gründe für diese Beobachtungen sind vielfältig. Wie bereits erwähnt, haben Menschen mit geistiger Behinderung in der Regel große Schwierigkeiten, die Mundhygiene eigenverantwortlich und in ausreichendem Maß durchzuführen, und damit steigt das Risiko für Karies und Parodontalerkrankungen sehr stark an.

Das Zähneputzen besteht aus einer anspruchsvollen Abfolge von Bewegungen im dreidimensionalen Raum. Viele Menschen mit geistiger Behinderung können diese Bewegungen nur unzureichend durchführen und haben überdies vielfach das Problem, dass sie sich die Abläufe nicht richtig merken können bzw. kein langes Durchhaltevermögen haben. Außerdem haben viele Menschen mit geistiger Behinderung Probleme, alle Erklärungen zu verstehen, wie man eine korrekte Mundhygiene durchführt.

Des Weiteren können Menschen mit geistiger Behinderung oft nur unzureichend oder gar nicht mitteilen, dass sie Beschwerden oder Schmerzen haben. Ferner sind sie in der Regel darauf angewiesen, dass andere Personen einen Termin beim Zahnarzt vereinbaren und sie dorthin begleiten. Beides führt immer wieder dazu, dass kariöse Defekte erst dann bei einer zahnärztlichen Untersuchung entdeckt werden, wenn sie bereits recht groß sind. Dies hat zur Folge, dass sie nur mit großem zeitlichem und technischem Aufwand restaurierbar sind.

Patienten mit geistiger Behinderung können meistens nicht sehr lange bei einer zahnärztlichen Behandlung kooperieren, sodass die Therapie, die normalerweise in einer Behandlungssitzung abgeschlossen werden kann, auf mehrere Sitzungen verteilt werden muss. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Zahnärzte nie geschult worden sind, wie man mit Patienten mit geistiger Behinderung umgeht. All dies hat dann vielfach zur Folge, dass keine adäquate Füllungstherapie stattfindet und dadurch das Risiko, dass Zähne eine irreversible Pulpitis entwickeln, stark erhöht ist. Die Konsequenz aus diesen Erfahrungen und Beobachtungen ist deshalb ganz eindeutig, dass der Schwerpunkt der zahnärztlichen Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung aus präventiven Maßnahmen bestehen muss.

Merke

Der Schwerpunkt der zahnärztlichen Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung muss aus präventiven Maßnahmen bestehen.