Z Sex Forsch 2016; 29(03): 266-269
DOI: 10.1055/s-0042-115061
Debatte
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Sexueller Missbrauch im diskursiven Wandel

Arne Dekker
a   Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
,
Martin Wazlawik
b   Institut für Erziehungswissenschaft, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
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Publication Date:
26 September 2016 (online)

Vor einiger Zeit erkundigte sich eine Journalistin beim Hamburger Institut für Sexualforschung, ob es zutreffe, dass sich der „gesellschaftliche Diskurs“ über sexuellen Kindesmissbrauch seit den späten 1960er-Jahren verändert habe. Nachdem ihr dies pauschal bestätigt worden war – nicht ohne den Hinweis, dass es an umfassender Forschung zum Thema fehle –, schloss sie eine zweite Frage an: Ob das bedeute, dass Missbrauchstäter früher „nicht wissen konnten“ wie problematisch ihr Handeln war. Derart holzschnittartig formuliert ist das natürlich Unsinn, und selbstverständlich gab es zu allen Zeiten Täter, die ihre Taten im vollen Bewusstsein ihrer Verwerflichkeit begingen. Und doch ist die Frage, ob und wie sich gesellschaftliche Diskurse auf die Sichtbarkeit, Benennbarkeit und Bekämpfbarkeit von sexualisierter Gewalt ausgewirkt haben und noch auswirken, von großem Interesse. Dies wird u. a. deutlich, wenn wir uns vor Augen führen, dass zahlreiche Fakten zum Vorkommen sexualisierter Gewalt an der Odenwaldschule, die ab 2010 Anlass für eine breite und längst überfällige öffentliche Debatte boten, bereits seit Ende der 1990er-Jahre sowohl in Medien als auch in wissenschaftlichen Fachdiskursen bekannt waren, ohne dass damals nennenswerte Reaktionen erfolgt wären (s. Andresen und Heitmeyer 2012: 11). Und deutlich wird es auch, wenn wir uns ansehen, wie noch vor wenigen Jahrzehnten zahlreiche Wissenschaftler in heute schwer fassbarer Weise die negative Wirkung pädosexueller Handlungen auf Kinder ganz grundsätzlich infrage stellten und sich gegen deren Pönalisierung aussprachen (s. u. a. Dannecker 1992: 75 ff.; vgl. auch Heider 2016: 255 ff.).

Warum also konnte die gesellschaftliche Debatte um sexuellen Kindesmissbrauch in pädagogischen Institutionen gerade im Jahr 2010 aufbrechen? Und warum, so fragt Ulrike Heider in ihrem Beitrag im vorliegenden Heft, „denken progressive Intellektuelle über sexuellen Missbrauch und Pädophilie heute so ganz anders, als noch vor einigen Jahrzehnten?“ (ebd.: 264). Erste Hinweise gibt bspw. Heimbach-Steins (2010), die auf das sich wandelnde Verhältnis zwischen Staat und Familie und auf die veränderte gesellschaftliche Inblicknahme von Kindern verweist. Und Behnisch und Rose (2011) betrachten insbesondere das Sichtbarwerden von Betroffenen im öffentlichen Raum und die sich daraus ergebenen Evidenzen als leitend für den öffentlichen Diskurs. Solide Antworten auf die oben genannten Fragen verspräche jedoch erst eine umfassende sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Doch das hierzu notwendige Studium historischer Quellen ist aufwendig und wahrscheinlich ist auch der zeitliche Abstand von den zu untersuchenden Perioden noch nicht groß genug, um sie mit den Werkzeugen aktueller Begriffe zu analysieren.

Ulrike Heider wählt in ihrem Beitrag über „Sexuelle[n] Missbrauch, Pädophilie und die Unschuld der Kinder“ (ebd.: 255 ff.) einen anderen Zugang: Aus der Perspektive einer Zeitzeugin beschreibt sie den Wandel der Einstellungen gegenüber Sexualität, sexuellen Grenzen und Grenzverletzungen als Reaktion auf den Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse. Auch dieser Zugang ist lohnend, und es gehört zu seinen Stärken, dass er zweierlei erkennbar machen kann: erstens das dialektische Verhältnis zwischen den bedeutenden historischen Verdiensten sexueller Liberalisierung einerseits und Formen sexueller Unterdrückung und Gewalt andererseits; und zweitens eine verblüffende Ungleichzeitigkeit der Argumentationen, die nach (und im Namen von) 1968 sowohl die Bekämpfung als auch die Bagatellisierung sexualisierter Gewalt ermöglichte. Leider bleibt der Text Heiders jedoch bisweilen hinter diesen Möglichkeiten und auch hinter seinem eigenen Anspruch eines „rationale[n] statt moralisierende[n] Blick[s]“ (ebd.: 264) zurück:

Denn obwohl die Autorin eben nicht diskursanalytisch vorgeht, zeichnet sie die Entwicklung der Einstellungen zu Sexualität, Missbrauch und Pädophilie seit den 1950er-Jahren historisch nach. Das ist prinzipiell legitim, geschieht hier jedoch fast gänzlich ohne Rückgriff auf historische Quellen. Das macht den Text weniger glaubwürdig und an manchen Stellen – etwa wenn es um die Auseinandersetzung mit konkreten Gerichtsverfahren geht – auch fahrlässig und parteiisch. Wahrscheinlich wären die geschilderten Fälle für die Argumentation nicht einmal notwendig, aber wenn sie vorgebracht werden, ist ein Beleg der Fakten unerlässlich, insbesondere dort, wo der öffentliche Diskurs sich vom ursprünglichen Fall und seiner juristischen und gesellschaftlichen Bewertung weit entfernte.

Gravierender erscheint aber ein zweites Problem: Die Autorin betont, dass es weniger darum gehe, „wer wann was vertrat“, sondern zu hinterfragen gälte, „warum sich die Moral geändert hat“ (ebd.). Und sie weist zurecht darauf hin, dass man dabei nicht nur den Positionen „von damals misstrauen“ müsse, sondern „auch den heute aktuellen“. Dieser Hinweis ist richtig, denn schließlich handelt es sich auch bei den heutigen Positionen lediglich um Zeitgestalten des Wissens, die prinzipiell wandelbar bleiben. Doch leider hält die Autorin die Ambivalenz und prinzipielle Offenheit nicht konsequent durch und man gewinnt bisweilen den Eindruck, als misstraue sie eigentlich ausschließlich den aktuellen Positionen und bewege sich selbst fast nur im diskursiven Rahmen der 1970er-Jahre.

Ein Beispiel hierfür ist die ausführliche Kritik an der Studie Franz Walters, der als Gewährsperson neokonservativer Sexualfeindlichkeit präsentiert wird. Die Kritik mag in Teilen berechtigt sein, aber sie stellt auch einen Nebenkriegsschauplatz dar, denn eigentlich geht es ja beispielsweise nicht um die Frage, ob Walter die Theorie Wilhelm Reichs richtig verstanden und was Letzterer tatsächlich gemeint hat. Es geht vielmehr um die Frage, ob – und wo – die historische Popularisierung eines durch Reich inspirierten Diskurses sexueller Befreiung möglicherweise auch den Zugriff Erwachsener auf die Sexualität von Kindern erleichtert hat, so segensreich die Liberalisierung sonst zweifelsfrei gewesen sein mag.[1]

Vergleichbares gilt für die mindestens einseitige, wenn nicht gar auslassende Darstellung der Debatte um Katharina Rutschky. Hier wird ausgerechnet die heute eigentlich interessanteste Frage nicht gestellt: Wie war es möglich, dass beide Seiten – Rutschky „und der Feminismus“ – gleichzeitig (und wahrscheinlich jeweils mit einem progressiven Selbstverständnis) einander mit enormer Wucht und Häme bekämpften und sich dabei jeweils von einer Position moralischer Integrität und Überlegenheit getragen sehen konnten? Und wieso konnten die dort verhandelten Denkfiguren bis heute eine entsprechende Wirkmacht entfalten?

Zweifellos wird gegenwärtig die Thematisierung von sexuellem Missbrauch auch von rechtspopulistischen Strömungen genutzt, um – ausgehend von einem Gefährdungsdiskurs kindlicher und jugendlicher Sexualität – einer erneuten Tabuisierung von der Sexualität Vorschub zu leisten (s. u. a. Kavemann 2016: 4) und Stimmung gegen sexuelle Minderheiten zu machen. Es ist gut, dass Heider gegen diesen Revisionismus klar Position bezieht. Leider bleibt dabei aber das wichtigste Anliegen unbearbeitet: Wie gehen wir damit um, dass sich Diskurse – und die von ihnen mit getragenen Wahrheiten – verändern? Und mit welcher Haltung nähern wir uns heute jenen zurückliegenden Überzeugungen, die uns kaum nachvollziehbar erscheinen? Diese Fragen werden im Rahmen zukünftiger und längst überfälliger Aufarbeitung früherer sexualisierter Gewalt von zentraler Bedeutung sein – Antworten stehen nach wie vor aus.