Pneumologie 2016; 70(S 02): S202-S205
DOI: 10.1055/s-0042-120579
Historisches Kaleidoskop
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Lydia Rabinowitsch-Kempner[*]

Professorin, Dr. phil. nat.Lydia Rabinowitsch-Kempner
R. Kropp
,
I. Hansen-Schaberg
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Publication History

Publication Date:
07 December 2016 (online)

Als Lydia Rabinowitsch (1871–1935) ([Abb. 1]) 1889 am Mädchengymnasium in ihrer Geburtsstadt Kowno[1] das Abitur bestanden hatte, stand fest, dass sie studieren wollte. Sie kam aus einem vermögenden Elternhaus, das ihr ebenso wie den acht älteren Geschwistern das gewünschte Studium ermöglichen konnte, selbst nachdem der Vater einen tödlichen Unfall erlitten hatte. Allerdings war nach dem Pogrom von 1881 der Zugang zur Universität für jüdische Männer im zaristischen Reich erschwert und für Frauen gar nicht möglich. Auch in Preußen war es bis zur Mädchenschulreform 1908 den Frauen verboten zu studieren. Deshalb ging Lydia Rabinowitsch, wie zu der Zeit auch viele andere junge Frauen aus Russland und Deutschland, zum Studium in die Schweiz. Zum Wintersemester 1889/1890 immatrikulierte sie sich an der Philosophischen Fakultät in Bern in den Fächern Pädagogik, Germanistik und Naturwissenschaften, zunächst „offenbar mit dem Ziel der Ausbildung zur Oberschullehrerin an einem Mädchengymnasium“ ([1], S. 26). Sie wechselte dann nach drei Semestern an die Universität in Zürich, spezialisierte sich auf botanisch-mikrobiologische Studienschwerpunkte und schloss wiederum in Bern ihre naturwissenschaftlichen Studien mit einer Dissertation zum Thema „Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Fruchtkörper einiger Gastromyceten“ ab. 1894 wurde sie mit der Note summa cum laude zum Dr. phil. nat. promoviert „und gehörte damit zur ersten Generation von Doktorinnen in einer naturwissenschaftlichen Fachrichtung“ ([1], S. 31).

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Abb. 1 Lydia Rabinowitsch-Kempner, 1920, © ullstein bild.

Im selben Jahr ging Lydia Rabinowitsch nach Berlin an das Institut für Infektionskrankheiten, um bei Robert Koch die moderne Bakteriologie kennenzulernen und sich in einer Männerdomäne weiter zu qualifizieren, selbstverständlich auf einer unbezahlten Stelle. Sie wurde seine erste und einzige Mitarbeiterin und war damit eine der Wissenschaftlerinnen, die wie Lise Meitner und zahlreiche andere Mitarbeiterinnen an der Berliner Universität und in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft versuchten, über den „Hintereingang zum Hauptportal“ zu gelangen, wie Annette Vogt es in ihrer 2007 vorgelegten Studie aufzeigt [2].

Bei ihrem Eintritt in das Institut für Infektionskrankheiten musste Lydia Rabinowitsch – wie alle anderen Mitarbeiter auch – folgenden Revers unterschreiben:

„Revers.

Der Unterzeichnete verpflichtet sich hierdurch das Verfügungsrecht über die bei seinen (gestrichen, es steht ihren) Arbeiten am Institut für Infektionskrankheiten zu Berlin sich ergebenden Resultate der Direktion des Instituts zu überlassen und dementsprechend fertige Arbeiten vor der Veröffentlichung zur Genehmigung vorzulegen, sowie beim Abgang vom Institut die erforderlichen Angaben über die bis dahin erzielten Ergebnisse seiner (gestrichen, es steht ihrer) Arbeiten zu machen und die sämmtlichen (!) Notizen und Protokolle über dieselben der Direktion zu übergeben.

Berlin, den 8ten. (!) November. (!) 1894

Dr. Lydia Rabinowitsch“ (zit. n. [1], S. 36)

Es spricht für die hervorragende und überzeugende Arbeit Rabinowitschs, dass sie bereits 1895 unter ihrem eigenen Namen veröffentlichen konnte.

Parallel zu ihrer Berliner Tätigkeit war sie von 1895 bis 1898 jeweils während der Wintermonate im Bakteriologischen Labor des renommierten Women’s Medical College of Pennsylvania in Philadelphia, USA, tätig; sie wurde im Spätherbst 1895 dort Dozentin der Bakteriologie und mit dem Aufbau und der Leitung des Labors betraut. Während ihre Lehrtätigkeit allseitige Zufriedenheit fand, vermisste sie selbst die Möglichkeit zur Forschung. Drei Jahre später, mit 26 Jahren, hatte sie eine Professur in Aussicht, trat diese Stelle jedoch nie an. Stattdessen heiratete[2] sie im April 1898 Dr. Walter Kempner[3], einen Mitarbeiter Robert Kochs, während eines medizinischen Kongresses in Madrid. Mit der Heirat gab Lydia Rabinowitsch-Kempner ihre Tätigkeit in den USA auf; sie und ihr Mann wohnten für ihr weiteres Leben in Berlin mit den drei Kindern Robert (1899 – 1993)[4], Nadja (1901 – 1932)[5] [3] und Walter (1903 – 1997; Professor Dr. med.). Für die damalige Zeit ungewöhnlich ist, dass sie ihre berufliche Tätigkeit damit nicht aufgab, sondern im Gegenteil festzustellen ist: „Hier begann ihre Karriere als international anerkannte Tuberkuloseforscherin. Sie wurde eine bekannte Persönlichkeit im öffentlichen Leben Berlins und eine engagierte Mitstreiterin in der Frauenbewegung.“ ([1], S. 63)

Ihre wissenschaftlichen Untersuchungen am Institut für Infektionskrankheiten befassten sich vor allem mit der Tuberkulose. Eine auch im Institut sehr umstrittene Frage betraf die Übertragbarkeit von Tuberkulosebakterien vom Tier auf den Menschen. Von Robert Koch erhielt Rabinowitsch den Forschungsauftrag, sich mit der Untersuchung von Milch und Markenbutter und ihrer Kontaminierung mit Tuberkelbazillen zu befassen. Sie konnte überzeugend nachweisen, dass pathogene Tuberkulosebakterien (M. bovis) in Kuhmilch und Butter enthalten sein und übertragen werden können und auf diesem Wege eine Infektionsquelle für den Menschen darstellen. Als Kriterium, ob Kühe tuberkulosekrank waren, kristallisierte sich aus diesen Versuchen der Tuberkulintest heraus. 1901 fasste sie die Ergebnisse folgendermaßen zusammen:

„Nach dem jetzigen wissenschaftlichen Stand der Frage betreffs Ausrottung der Rindertuberculose können wir in der That behaupten, dass die Tilgung der Tuberculose ohne Zuhilfenahme des Tuberculins eine Unmöglichkeit darstellt. Natürlich wird in erster Linie die Ausmerzung der eutertuberculösen und der mit allgemeiner Tuberculose behafteten Kühe anzustreben sein, deren Milch am ehesten als infectiös anzusehen ist. In zweiter Hinsicht kämen sodann die Thiere, bei welchen die klinische Diagnose nur mit Hilfe des Tuberculins gesichert werden kann. Diese Kühe sind vorallererst von den gesunden abzusondern, ihre Tilgung jedoch muss von dem rascheren oder langsameren Fortschreiten der tuberculösen Erkrankung abhängig gemacht werden. Hiermit ist gesagt, dass natürlich nicht gleich sämtliche auf Tuberculin reagierende Thiere geopfert werden sollen. Im Verein mit der klinischen Untersuchung und der bakteriologischen Controlle der Milchkühe ist daher die Tuberculinprobe der sicherste Weg zur Gewinnung einer tuberkelbakterienfreien Milch und einer tuberculosefreien Aufzucht des Nachwuchses.“ ([4], zit. nach [1], S. 76 f.)

Aus all diesen jahrelangen Forschungen entwickelte Rabinowitsch den Ratschlag, die Milch nicht roh zu genießen, sondern vor dem Verzehr zu erhitzen (eine Minute lang auf 88,1 – 88,3°C). Die konsequente Pasteurisierung der Milch beruht also mit auf ihren Untersuchungen.

Diese Forschungsergebnisse waren anfangs nicht unumstritten, zumal die praktischen Konsequenzen dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse sehr erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen hatten (Berliner Milchkrieg)[6] [5]. Außerdem änderte Robert Koch selbst – im Gegensatz zu seiner ursprünglichen Annahme – seine Einschätzung über die Infektiosität des Typus bovinus[7]: „Für die Tuberkulosebekämpfung kommen mithin nur die vom Menschen ausgehenden Tuberkelbazillen in Betracht“ (zit. n. [1], S. 80). Dieser Gesinnungswechsel erregte erhebliches Aufsehen und führte zu ausgedehnten wissenschaftlichen Untersuchungen, unter anderen auch von Lydia Rabinowitsch selbst [6], und zur Gründung spezieller Tuberkulosekommissionen in mehreren Ländern, welche letztendlich Rabinowitsch’ Ergebnisse bestätigten und diese wichtige Frage endgültig beantworteten.

1903/1904 wechselte Lydia Rabinowitsch-Kempner ihre Arbeitsstelle vom Institut für Infektionskrankheiten zu Professor Johannes Orth[8], Ordinarius am Pathologischen Institut der Charité, und führte hier ihre Tuberkulose-Untersuchungen fort. Sie war jetzt eine weithin bekannte und geschätzte Forscherin. Aus ihren zahlreichen Publikationen sollen nur einige hervorgehoben werden:

  • „Zur Frage der Immunisierung gegen Tuberkulose“[9],

  • „Über experimentelle enterogene Tuberkulose“[10]

  • „Über Resorption körperlicher Elemente im Darm, mit besonderer Berücksichtigung der Tuberkulosebacillen“[11]

  • „Tuberkelbazillen im Herzblut“[12]

1906 wurde Lydia Rabinowitsch-Kempner korrespondierendes Mitglied des Internationalen Zentralkomitees zur Bekämpfung der Tuberkulose und korrespondierendes Mitglied der Société centrale de Médicine Vétérinaire (Paris), 1913 Mitglied in der „Berliner medicinischen Gesellschaft“. An zahlreichen deutschen und vor allem internationalen medizinischen Tagungen, insbesondere Tuberkulose-Kongressen, nahm sie teil und hielt immer wieder selbst Vorträge[13]. Als besondere Ehrung wurde ihr 1912, als Frauen noch nicht habilitieren durften, von Kaiser Wilhelm II. der Professoren-Titel an der Berliner Universität verliehen, als zweiter Frau in Deutschland, allerdings ohne Lehrbefugnis [7]. Sie leitete ab 1914 viele Jahre lang die Redaktion der „Zeitschrift für Tuberkulose“ ([Abb. 2]). 1920 gründete sie die „Tuberkulose-Bibliothek“.

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Abb. 2 Titelblatt der „Zeitschrift Für Tuberkulose“ 1920.

Nach dem Tod ihres Mannes 1920 übernahm Lydia Rabinowitsch-Kempner die Leitung des bakteriologischen Laboratoriums im Berliner Städtischen Krankenhaus Moabit, ihre erste bezahlte Position in Berlin; über alle Jahre zuvor hatte sie ohne Gehalt gearbeitet. Gelebt hatte sie vom Verdienst ihres Mannes, zusätzlich unterstützt von ihrer Familie. In Moabit konnte sie – neben der üblichen Tätigkeit als leitende Laborärztin – weiter ihre Tuberkuloseforschungen voranbringen. Sie hat sich auch wesentlich mit aktuellen problematischen Geschehnissen befasst. So nahm sie kritisch Stellung zum Friedmannschen Tuberkulosemittel und zum Lübecker Impfunglück.

Lydia Rabinowitsch-Kempner war nicht nur eine herausragende wissenschaftliche Autorität auf dem Gebiet der Tuberkuloseforschung, wo sie beispielsweise den Frauen besondere Aufgaben bei der Tuberkulosebekämpfung zuwies [8], sondern sie zeichnete sich auch durch ihr lebenslanges Engagement für die Frauenbewegung aus ([1], S. 137 – 158). Sie trat für das Stimmrecht der Frauen ein, setzte sich für die Gleichstellung der Frau in Gesellschaft und Wissenschaft ein, war Mitbegründerin des Vereins zur Gewährung zinsfreier Darlehen für Medizinstudentinnen und setzte sich für den Schutz sozial benachteiligter Frauen ein [9]. Als Nichtmedizinerin wurde sie 1924 zusammen mit der Ärztin Franziska Tiburtius zum Ehrenmitglied des neu gegründeten Bundes Deutscher Ärztinnen ernannt ([1], S. 151).

1933 wurde Lydia Rabinowitsch-Kempner mit 61 Jahren vom NS-Regime wegen ihrer jüdischen Herkunft zwangspensioniert, zusammen mit fast 100 Ärzten allein im Moabiter Krankenhaus. In den Personalakten findet sich dazu folgende Notiz: „In der Zeit vom 12.3.1933 – 30.9.1933 sind durch die nationalsozialistische Revolution und durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums folgende Personalumstellungen bedingt“, gefolgt von einer Auflistung der Positionen (zit. n. [1], S. 132 f.).

Zudem musste sie auch ihre redaktionelle Tätigkeit für die „Zeitschrift für Tuberkulose“ nach 19 Jahren beenden ([Abb. 3]). Bisher ungeklärt ist, warum Franz Redeker, der 1933 Herausgeber der Zeitschrift wurde, ihren Namen vom Titelblatt strich, während er andere ausgeschiedene Herausgeber, auch wenn sie jüdische und verfolgte Ärzte waren, weiterhin aufführte ([10], S. 258).

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Abb. 3 Mitteilung des Verlages der „Zeitschrift Für Tuberkulose“ 1933.

Zu der Zeit war Lydia Rabinowitsch-Kempner schon sehr krank, so dass sie eine Emigration für sich selbst nicht mehr in Erwägung zog. Durch ihre Verbindungen mit Freunden in den USA hatte sie jedoch noch beizeiten erreichen können, dass ihre beiden Söhne dorthin emigrieren und sesshaft werden konnten: Walter Kempner bereits 1934, Robert Kempner erst im September 1939 nach einer vierjährigen Leitungstätigkeit im Landschulheim Florenz, das für die „Kinder der Opfer des Hitler-Reichs“ gegründet worden war [11] und wo der Enkel Lucian auf Initiative von Lydia Rabinowitsch-Kempner seit 1934 lebte ([1], S. 134).

Lydia Rabinowitsch-Kempner starb in ihrem 64. Lebensjahr am 3. August 1935 in Berlin. Ihr Grab befindet sich auf dem Park-Friedhof in Berlin-Lichterfelde. Eine Gedenktafel ist am Krankenhaus Moabit angebracht. Bei ihr verbanden sich wissenschaftliches Talent und ausgeprägter Forschungsdrang, methodische Genauigkeit und strenge Logik. Auch die Praxisrelevanz ihrer Arbeit hat ihr zu frühem, hohem Ansehen verholfen. Wenn diese führende Persönlichkeit in der deutschen Tuberkuloseforschung heute selbst unter Fachkolleginnen und Fachkollegen kaum mehr bekannt ist, muss konstatiert werden, dass die nationalsozialistische Verfolgung zu einer nachhaltigen Verdrängung aus dem kollektiven Gedächtnis beigetragen hat ([1], S. 136) – und das betrifft eine Vielzahl dieser ersten Akademikerinnen- und Wissenschaftlerinnengeneration [12].

* Dieser Artikel basiert auf der Dissertation von Katharina Graffmann-Weschke [1].


 
  • Literatur

  • 1 Graffmann-Weschke K. Lydia Rabinowitsch-Kempner (1871–1935). Leben und Werk einer der führenden Persönlichkeiten der Tuberkuloseforschung am Anfang des 20. Jahrhunderts. Dissertation Freie Universität Berlin. Herdecke: GCA-Verlag; 1999
  • 2 Vogt A. Vom Hintereingang zum Hauptportal? Lise Meitner und ihre Kolleginnen an der Berliner Universität und in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Stuttgart: Franz Steiner Verlag; 2007
  • 3 Goodman S. Nadja Kempner (1901-1932). In: geni.com [21. Februar 2015]
  • 4 Rabinowitsch L. Die Infectiosität der Milch tuberculöser Kühe, die Sicherstellung der bakteriologischen Diagnose, sowie die praktische Bedeutung des Tuberculins für die Ausrottung der Rindertuberculose. Zeitschr. Hyg. Infekt.Krankh 1901; 37: 439-449
  • 5 Hünermund C, Kropp R. Die Bekämpfung und Ausrottung der Rindertuberkulose in Deutschland. Pneumologie 2006; 60: 772-776
  • 6 Vogt A. Der „Milch-Skandal machte sie berühmt“. Berlinische Monatsschrift 1997; 7: 32-36
  • 7 Klinkhammer G. Erste Professorin in Berlin. Deutsches Ärzteblatt 2010; 107: C 1533
  • 8 Rabinowitsch L. Die Aufgaben der Frau bei der Tuberkulosebekämpfung. Tuberculosis 1914; 13: 285-292
  • 9 Graffmann-Weschke K. Frau Professor Dr. Lydia Rabinowitsch-Kempner. Die führende Wissenschaftlerin in der Medizin ihrer Zeit. In: Eva Brinkschulte, Hrsg. Weibliche Ärzte. Die Durchsetzung des Berufsbildes in Deutschland. Berlin: Edition Hentrich; 1994: 93-103
  • 10 Redeker D. Der Physikus. Als Public Health noch Volksgesundheit hieß. Bernsheim: Dorothea Redeker; 2016
  • 11 Ubbens I. Das Landschulheim Florenz. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 24/2006: Kindheit und Jugend im Exil – ein Generationenthema. 117-133
  • 12 Hansen-Schaberg I, Häntzschel H (Hrsg.) Alma Maters Töchter im Exil. Zur Vertreibung von Wissenschaftlerinnen und Akademikerinnen in der NS-Zeit. München: edition text + kritik; 2011