Balint Journal 2016; 17(04): 128-130
DOI: 10.1055/s-0042-121641
Persönlicher Rückblick
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Balint im Wandel – ein persönlicher Rückblick

Balint in Change – a Personal Retrospective
E. Kuhfahl
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Publication Date:
09 January 2017 (online)

Die Teilnahme an Balintgruppen ist heute die Voraussetzung für die Anerkennung der Psychosomatischen Grundversorgung und für die Zulassung zu verschiedenen Facharztprüfungen bei den Landesärztekammern. Durch ein tieferes Verständnis der Arzt-Patienten-Beziehung kann sich der Arzt besser auf den Patienten und dessen Erleben einstellen und erfährt auch in den Balintgruppen viel über seine eigene Wirkung auf den Patienten.

Was hat sich in Deutschland im Laufe von Jahrzehnten in der Balint-Arbeit verändert?

Zu DDR – Zeiten sind wir in den siebziger und achtziger Jahren 3–4 x im Jahr für ein Wochenende nach Uchtspringe (Bezirksnervenklinik) nahe Stendal (Sachsen Anhalt) gefahren, um unsere Problempatienten in den sogenannten Problemfallseminaren beim damaligen Leiter der Klinik, Prof. Wendt und Dr. phil. Tögel (Coleiter), die beide eine analytische Ausbildung hatten, vorzustellen.

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Abb. 1 VILLA WOLLNER, mit freundlicher Genehmigung von Villa Wollner, Dresden.

Wir, das waren psychotherapeutisch tätige ärztliche Kolleginnen und Kollegen aus Klinik und Praxis aus unterschiedlichen Bezirken der DDR, wovon die meisten eine mehrjährige Ausbildung in Gruppenpsychotherapie (Intendiert Dynamische Gruppenpsychotherapie) hatten. Es war eine conditio sine qua non, dass wir dort mit eigenen Tonbandprotokollen anreisen mussten, d. h., diejenigen Kollegen, die sich dorthin trauten. Eine Teilnahme war nicht obligatorisch für die 2. Facharztausbildung (Facharzt für Psychotherapie) vorgeschrieben. Wir stellten in einer kleinen Gruppe (5–8 Kollegen) unseren „Problemfall“ vor. Und einen Fall sollte jeder Kollege im Gepäck haben. Es erfolgte eine ziemlich kritische Auseinandersetzung innerhalb der Gruppe. Erschwerend kam die schlechte Tonbandqualität der uns zur Verfügung stehenden Technik hinzu, die für Leiter, Coleiter und Gruppe aus heutiger Sicht eine Zumutung darstellten. Obendrein waren diese Aufnahmegeräte sehr teuer und kosteten mindestens 600,- Ostmark bei einem OA-Gehalt von 1.500–1.700,- Ostmark. Aufgrund dieser Tonbandaufnahmen wurde die Arzt-Patienten-Beziehung des Vortragenden sehr kritisch bearbeitet (eine schützende Herausnahme des Referenten gab es nicht). Ich bin des öfteren gesenkten Hauptes und sehr nachdenklich auf der ca 500 km langen Bahnfahrt von Uchtspringe nach Hause gefahren. Aber es waren Erfahrungen, die meine psychotherapeutische Tätigkeit in der Klinik sehr befruchtet haben und die ich nicht missen möchte. Aus heutiger Sicht ähnelten diese Problemfallseminare technisch-kasuistischen Seminaren bzw. einer Teamsupervision.

Im Jan. 1991 wurde in Ostdeutschland unter Leitung von Sigmar Scheerer die Balint-Gesellschaft e.V. gegründet. Die Anerkennung als Balintgruppenleiter in dieser Gesellschaft Ostdeutschlands erhielten u. a. diejenigen Kollegen, die als 2. Facharzt den Facharzt für Psychotherapie hatten. Er war 1980 in der DDR eingeführt worden. Voraussetzungen dafür waren u. a. Erstfacharzt, Promotion und eine 4-jährige Ausbildung in Intendiert Dynamischer Gruppenspychotherpie in Form von sehr vielen Stunden Gruppenselbsterfahrung unter Leitung von Höck, Ott und Hess und bereits Erfahrungen in der Leitung von Problemfallseminaren und in mehrjähriger psychotherapeutischer Aus-und Weiterbildung. Die meisten dieser Kollegen waren schon einige Jahre psychotherapeutisch in Kliniken (meist als Chef- oder Oberärzte bzw. Leiter von Ambulanzen ) tätig.

Nach der Wende erinnere ich mich an heftige miterlebte Auseinandersetzungen zwischen Ost und West. Für uns ostdeutsche Kollegen war es sehr schwer zu vermitteln, dass es auch in der DDR Psychotherapie in Klinik und Ambulanzen gab. So hörte ich oft den Satz: „Psychotherapie war ja bei euch gar nicht möglich, da ja überall die Stasi (inoffizieller Mitarbeiter) mitten unter euch waren“. Das stimmte z. T. auch, wie sich nach der Wende herausstellte. Plötzlich waren einige Kollegen nicht mehr in den Vorständen oder wissenschaftlichen Gesellschaften anzutreffen und traten auch nicht mehr aktiv bei Tagungen auf. Schmerzlich, dass darunter Menschen waren, mit denen ich jahrelang kollegial verbunden war. Nichtsdestotrotz fand Psychotherapie in der DDR statt und ich war eine engagierte Vertreterin der Intendiert dynamischen Gruppenpsychotherapie, damals als OÄ in einer psychotherapeutischen Klinik tätig. Durch die Anwendung dieser Methode konnten wir den großen Ansturm von psychotherapeutisch bedürftigen Patienten besser bewältigen. Besonders im Zusammenhang mit der Ausreisewelle in den achtziger Jahren, wo viele Familien und Freundschaften auseinandergerissen wurden, war das mit viel Leid verbunden und führte zu einem hohen Psychotherapiebedarf. Es gab zu dieser Zeit in der DDR nicht sehr viele Fachärzte für Psychotherapie (etwa 80) und relativ wenig psychologische Psychotherapeuten (Fachpsychologen der Medizin).

1992 kam es zum Zusammenschluss beider Balintgesellschaften aus Ost und West.

Bei meinen ersten gesamtdeutschen Balinttagungen in Hahnenklee, Hannover und Hamburg unter Leitung von Prof. Stucke und Frau Stubbe war für mich bei der Bearbeitung der Arzt-Patienten-Beziehung die völlige Herausnahme des Referenten nach der Fallvorstellung neu. Auch das anschließende Fantasieren der Gruppenmitglieder in Bildern einerseits und die für mich analytische und z.T. sehr intellektuell geprägte Herangehensweise, die mir mitunter elitär und weniger praxisnah erschien, irritierten mich. Neulinge wurden einfach hinein geschmissen – eine Einführung in die Balint-Arbeit ist mir aus diesen Jahren nicht erinnerlich. Besonders in den Leiterseminaren spürte ich starke Unsicherheit, Ängste und Leistungsdruck. Der Nutzen der psychoanalytischen bzw. tiefenpsychologischen Technik der freien Assoziation und freischwebenden Aufmerksamkeit innerhalb der Gruppe, um Zugang zum unbewussten Geschehen der vorgestellten Arzt-Patienten-Beziehung zu ermöglichen, wurde mir erst im Laufe der Jahre bewusster.

Völlig neu waren für mich auch die Großgruppensitzungen mit Innen- und Außenkreis innerhalb der Balint-Studientagungen. Hier erlebte ich im Innenkreis, wenn ich mich mal hineinwagte und auch einen Fall vorstellte, ziemliche Ängste und war immer unsicher, etwas Falsches zu sagen oder mich zu blamieren. Im Laufe der Jahre und nicht zuletzt durch Heide Ottens ermunternden Leitungsstil, legte sich das. Insgesamt hat sich die Großgruppenatmosphäre spürbar positiv verändert und ist nicht mehr so künstlich angespannt und verkrampft. Im Gegenteil, spontane und völlig unerwartete Äußerungen eines Gruppenmitglieds („think fresh“) bereichern die Dynamik in der Großgruppe und werden größtenteils nicht gewertet. Dem Schutz des Referenten wird große Aufmerksamkeit gewidmet und auch innerhalb der Gruppe wohlwollend und wertschätzend z.T. humorvoll miteinander umgegangen. Dabei kann das unterschiedliche Leiterverhalten in Großgruppen hautnah erlebt und mit dem eigenen Führungsstil von Balintgruppen verglichen werden. Als große Bereicherung auf Tagungen erlebe ich auch die Supervisionsgruppen, die für schon tätige Balintgruppenleiter gute Möglichkeiten zum kollegialen Erfahrungsaustausch bieten und leider aus mir unverständlichen Gründen viel zu wenig genutzt werden.

Ich halte eine Einführung in die Balint-Arbeit am Beginn einer jeden neuen Gruppe für sehr wichtig, obwohl das bei dem meist unterschiedlichem Erfahrungsniveau der Teilnehmer Probleme mit sich bringt, da die dafür benötigte Zeit auf Kosten der eigentlichen Arbeit in der Gruppe geht.

Nachdem für die Abrechnung der Psychosomatische Grundversorgung bei der KV die Absolvierung einer bestimmten Anzahl an Balintstunden ebenso wie für die Zulassung zur Facharztprüfung bei den Landesärztekammern Voraussetzung ist, stieg der Bedarf der Teilnehmer an Balintgruppen sehr stark an.

Innerhalb der DBG wurde aber zunächst nur ein Arzt, der interessiert und regelmäßig berufsbegleitend an einer kontinuierlichen Balintgruppe teilnahm, akzeptiert. Die sogenannten „Scheinjäger“, die die Stunden für die Zulassung zur Facharztprüfung oder bei der KV zur Abrechnung der Psychosomatischen Grundversorgung benötigten, waren mir in meinen Gruppen anfangs auch nicht so lieb. Das hing u. a. damit zusammen, dass einige Kollegen deutlich zum Ausdruck brachten und z. T. heute noch bringen, dass sie anstelle der vorgeschriebenen Balintstunden, viel lieber mehr Ultraschall oder andere technische Ausbildungskurse favorisieren. Für diese andere Gewichtung der Arzt-Patienten-Beziehung habe auch ich anfangs nicht so viel Verständnis aufbringen können und ich denke, sie war innerhalb der Deutschen Balintgesellschaft weit verbreitet. Damals schämte ich mich fast, erfahrenen Balintkollegen von meinen guten Erfahrungen der sogenannten „Scheinjäger“ mit Blockseminaren zu berichten. Heute werte ich diese Haltung nicht, sondern versuche sie zu verstehen und zu akzeptieren. Ich fordere im Feedback am Ende eines Seminars die Teilnehmer immer auf, ganz offen ihre Meinung zu sagen, ob ihnen die Balint-Arbeit der 15 Doppelstunden etwas gebracht habe oder eben auch nicht. Erst in einem kürzlich stattgefundenen Seminar, sagte mir eine Teilnehmerin (FÄ f. Allgemeinmedizin), die bereits das 3. Blockseminar bei mir absolviert hatte und in der letzten Stunde auch einen Fall vorstellte, dass ich ja wisse, dass sie die Balint-Pflichtstunden für nicht besonders sinnvoll halte. Beim Abschied gab sie mir lächelnd die Hand mit der Bemerkung: „Aber Sie wissen ja, dass das nichts mit Ihnen und Ihrer Person zu tun hat – es hat mir in den Runden trotzdem Spaß gemacht“.

Gute Erfahrung mache ich seit einigen Jahren, indem ich für die benötigten 15 Dh Balint in vierteljährigen Abständen Blockseminare à 10 Stunden freitags (2Dh) und samstags (3Dh) einführte. Hierbei lege ich großen Wert auf die Gruppenzusammensetzung. Nach Möglichkeit sollten Vertreter unterschiedlicher Fachdisziplinen und wenigstens 3–4 männliche Kollegen in einem Blockseminar (max. 15 Kollegen) sein. Ein Großteil davon meldet sich nach dem ersten Seminar wieder für die 2 folgenden Blockseminare in vierteljährlichen Abständen an. Nebenbei werden in einer kollegialen Atmosphäre in den Pausen interdisziplinär auch Brücken zwischen unterschiedlichen medizinischen Einrichtungen und Fachdisziplinen geschlagen. Diese Form der Blockseminare wurde dann in Sachsen in den letzten Jahren auch von der Sächsischen Landesärztekammer bei der Ausbildung in Psychosomatischer Grundversorgung übernommen. Sie sind immer lange vorher ausgebucht und die Resonanz ist in der Regel positiv. Viele Kollegen kommen von außerhalb, haben Familie und bevorzugen aus diesen Gründen Blockseminare. Bei unseren jährlichen Sächsischen Studientagungen in Dresden legen wir zu Beginn der Tagung großen Wert auf eine Einführung in die Balint-Arbeit, um für Erstteilnehmer eine sichere und angstfreie Atmosphäre zu schaffen und ihnen den Zugang für die Balint-Arbeit zu erleichtern. Das ist heute umso mehr erforderlich, da sich in den letzten Jahren zunehmend ausländische Kollegen (bei mir ca 25%) anmelden. Einerseits erschwert es die Arbeit für den Leiter aufgrund oft zusätzlich auftretender Verständigungsprobleme, andererseits ist es eine große Bereicherung für die Gruppe. Der Einfluss fremder Kulturen mit den deutlichen Unterschieden innerhalb der Sozialsysteme der einzelnen Länder z. B. USA, Russland u. a. gegenüber Deutschland wird für alle erkenn- und erlebbar.

In meiner seit einigen Jahren bestehenden Kontinuierlichen Balintgruppe, die 10x jährlich mit 1 Dh Mittwochabend stattfindet, sind etwa 1/3 Teilnehmer, die schon seit Jahren dabei sind und 2/3 neue Kollegen (häufig Erstteilnehmer), die sich zu Beginn eines neuen Jahres anmelden, weil sie die Stunden für den Erwerb der Psychosomatischen Grundversorgung bzw. für die Anmeldung zur Facharztprüfung benötigen, aber auch Kollegen, die sich in der Ausbildung zum Balintgruppenleiter befinden. Als Gruppenleiter muss ich auf die Balance achten, die sich aus dem unterschiedlichen Erfahrungsniveau ergibt. Am effektivsten zum Erreichen der 15 Dh Balint wurde von vielen Teilnehmern meiner Gruppen eine Kombination zwischen 10 Dh Kontinuierliche Gruppe (geschlossen innerhalb eines Jahres) und die Teilnahme an 1 Blockseminar/Jahr bewertet. Es kommt auch vor, dass Kollegen aus verschiedenen Fachdisziplinen nach der Teilnahme in meinen Balintgruppen später noch die Ausbildung zum FA für Psychosomatik und Psychotherapie bzw. die fachgebundene Zusatzbezeichnung Psychotherapie anschlossen.

Insgesamt hat die jahrzehntelange Verbundenheit mit Balint mein ärztliches Tun in Klinik und Praxis stark geprägt und bereichert. Das trifft bis heute auf die Ausbildung von Ärzten und Psychologen in Supervision u. Lehrtherapie, aber auch innerhalb meiner ehrenamtlicher Aktivitäten z. B. als jahrelange Supervisorin bei der Telefonseelsorge, wo ich auch mit der Balinttechnik arbeitete, zu.

Ich wünsche mir, dass bereits Medizinstudenten und junge Ärzte einen frühen Zugang zur Balint- Arbeit finden und das schon zu Beginn ihres Berufslebens. In Balintgruppen können sie hautnah und frühzeitig erleben, welche Bedeutung die Arzt-Patienten-Beziehung für ihr späteres ärztliches Tun hat.

In diesem Sinne lade ich Sie alle, insbesondere auch junge Assistenzärzte und Medizinstudenten in klinischen Semestern ganz herzlich zur Teilnahme an der 27. Sächsischen Balint-Studientagung vom 31.03.– 02.04.2017 nach Dresden ein. Sie findet zum 2. Mal an unserem neuen Tagungsort in der Villa Wollner (kontakt@villa-wollner.de) statt. (Anmeldung bei der Geschäftsstelle der DBG in Magdeburg/s. a. unter Deutsche Balintgesellschaft/Tagungskalender) ([Abb. 1]).

Ich bin überzeugt, dass Sie sich während dieser 2 ½ Tage in Dresden wohlfühlen, nette Kollegen aus anderen Bundesländern kennenlernen und in den unterschiedlichen Gruppen eigene positive Erfahrungen machen, sodass Sie bereichert in Ihren Praxisalltag zurückkehren.

Wir freuen uns auf Ihre Teilnahme!

Ihre Elke Kuhfahl

P.S.: „Ich bin heute sehr, sehr dankbar, dass die Mauer fiel und sich mit dem Mauerfall viele Entfaltungsmöglichkeiten beruflich und privat auftaten. Was derzeit in Dresden und Umgebung an Hass und Gewalt passiert, finde ich schlimm und habe dafür keinerlei Verständnis, zumal es ja den meisten Menschen viel besser geht als zu DDR-Zeiten. Ich kann nur hoffen, dass sich potenzielle Dresden-Teilnehmer aus anderen Bundesländern 2017 nicht davon abschrecken lassen, ist doch die überwiegende Mehrheit der Dresdner weltoffen und gastfreundlich und Dresden eine tolle Stadt“.

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27. Sächsische
Balint -
Tagung Dresden
31.3. – 2. 4. 2017
Klassische Balintarbeit in Kleingruppen
Leiterseminar
Villa Wollner – Interdisziplinäre
Tagungs- und Bildungsstätte
für Wirtschaft, Politik, Bildung und Kultur
Am Steinberg 14
01326 Dresden

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