Dtsch Med Wochenschr 2017; 142(15): 1089
DOI: 10.1055/s-0043-110287
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

1+1+1 = Multimorbidität ist mehr als die Addition von Monopathologien

1+1+1 = Multimorbidity is More than the Addition of Monopathologies
Cornel Sieber
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Publication Date:
01 August 2017 (online)

Liebe Leserinnen und Leser,

„Innere Medizin – Medizin für den ganzen Menschen“ meinte der Schweizer Internist Walter Siegenthaler schon vor Jahrzehnten. Heute gilt es mehr denn je: Der demografische Wandel fordert einen holistischen Zugang zu den Patienten geradezu heraus. Nur selten sehen wir Monopathologien und die Verschränkung mehrerer – meist auch chronischer – Krankheiten birgt stets die Gefahr, Funktionalität und Selbstständigkeit einzubüßen. Nebst der physio-psycho-sozialen Herangehensweise in Diagnostik und Therapie ist deshalb alleine schon für die somatischen Herausforderungen ein fächerübergreifendes Handeln wichtig.

Üblich für Herangehensweise und Klassifizierung ist die International Classification of Diseases (ICD). Gerade bei chronischen Krankheiten mit funktionellen Konsequenzen für die Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) spielt aber die Funktionalität und damit verbunden die soziale Teilhabe einen wesentlichen Faktor. Dies wird durch die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) besser abgebildet, denn häufig machen syndromale Entitäten wie das Schmerzsyndrom die Behandlung (geriatrischer) Patienten aus. Genannt seien beispielsweise das Sturzsyndrom oder das demenzielle Syndrom, das auch im Heft besprochen wird (s. S. 1102). Pathogenetisch verschieden und häufig multi-kausal zeigen diese klinisch häufig eine ähnliche Ausprägung. Ätiologisch gut definierbare Krankheiten wie die Herzinsuffizienz hingegen sind klinisch recht verschieden (s. S. 1123).

Multimorbide Patienten entwickeln sowohl klar zu diagnostizierende Krankheiten wie auch syndromale Pathologien. Die auf primär einer Monopathologie basierende Evidenz-basierte Medizin (EBM) stößt hier an ihre Grenzen. Gerade diese Verschränkung von Ätiologie und klinischer Präsentation lässt das Walter-Siegenthaler-Zitat auch heute – oder besonders heute – noch zeitgemäß erscheinen. Daher wurde dies auch zum Motto für den Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) 2018 ernannt. Komplexe Muster erkennen und die dadurch erhaltenen Informationen in die individuelle Situation des einzelnen Patienten integrieren, das ist die Herausforderung für uns klinisch Tätige. Wichtige Erkenntnisse sind hierbei auch von „big data“-Analysen zu erwarten.

Das vorliegende Heft zeigt auf, wie breit das Spektrum in der Inneren Medizin gerade in Bezug auf das im oben Beschriebene ist. Dazu gehören sicherlich die Leitlinien für die arterielle Hypertonie (s. S. 1128). Da 2/3 der betagten Menschen eine – meist isolierte systolische – arterielle Hypertonie aufweisen, ist sie ein gutes Beispiel dafür, dass auch alters-adaptierte Empfehlungen benötigt werden und hier auch vorhanden sind. Keine Altersgruppe ist so heterogen wie die von (hoch-)betagten Menschen.

Weitere interessante Themen dieser Ausgabe sind die Struma nodosa, endoskopische Techniken bei intestinalen Tumoren und aus dem Bereich der Herzkreislaufkrankheiten tachykarde Herzrhythmusstörungen in der Notaufnahme, endovaskuläre Stents bis hin zu Kleingefäßvaskulitiden. All dies zeigt auf, wie breit gefächert und damit herausfordernd das Spektrum der Inneren Medizin ist. Dies erfordert den Schulterschluss zwischen integrativen Fähigkeiten bei Multimorbidität im Sinne der Allgemeinen Inneren Medizin und Geriatrie sowie einer „high-end“-Spezialisierung in den internistischen Schwerpunkten zum Wohle der Patienten.

Was können wir nun aber prophylaktisch – auch ganz persönlich – tun? Für ein erfolgreiches und noch besser ein gelungenes Altern ist es sinnvoll, die 3 Determinanten für Langlebigkeit in allen Gesellschaften zu akzeptieren und in das Verhalten zu integrieren: regelmäßige körperliche Aktivität, eine ausgewogene Ernährung sowie Sozialkontakte. Ernährung und körperliche Aktivität werden auch am DGIM-Jahreskongress thematisiert werden – und „spannende“ soziale Kontakte sind am Kongress eh garantiert.

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Prof. Dr. med. Cornel Sieber