Schlüsselwörter
primärer Kopfschmerz - akuter Kopfschmerz - chronischer Kopfschmerz - Migräne - Spannungskopfschmerz
Wer?
In der überwiegenden Zahl der Fälle handelt es sich bei primären Kopfschmerzerkrankungen
in der Pädiatrie um einen Spannungskopfschmerz, eine Migräne oder einen (im Kindesalter
häufigen und typischen) sog. Kopfschmerz vom „Mischtyp“ (Mischform von Migräneepisoden
und Spannungskopfschmerzen) [3].
Merke
Über 80% der Jugendlichen berichten von mindestens einer Kopfschmerzepisode pro Monat.
Für den „Mischtyp“, der nicht als eigene Kategorie in der IHS-Klassifikation aufgeführt
wird, erfolgt die Diagnosezuordnung in Abhängigkeit von der zum Zeitpunkt der Vorstellung
dominierenden Symptomatik. Selbst wenn eine eindeutige Diagnosezuordnung primär möglich
ist, kommt es im Verlauf bei über 50% der pädiatrischen Patienten zu einem Diagnosewechsel
zwischen Migräne und Spannungskopfschmerz innerhalb von 3 Jahren [3].
Migräne und Spannungskopfschmerzen werden daher in der Pädiatrie, ähnlich wie es auch
für die Erwachsenen diskutiert wird, weniger als getrennte Entitäten, sondern als
2 Ausdrucksformen innerhalb des Kopfschmerzspektrums angesehen. Es umfasst dabei in
jeder Altersstufe mehr als nur das Symptom „Schmerz“: Es handelt sich vielmehr – mit
Fokus auf die Migräne – um ein ganzes Spektrum zentraler, peripherer und autonomer
Symptome mit den Charakteristika des jeweiligen Entwicklungsalters [4].
Zahlen
Migräne
Bei bis zu 10 – 20% der Kinder und Jugendlichen kann eine Migräne, bei weiteren 15%
eine wahrscheinliche Migräne und bei 0,1% eine chronische Migräne anhand der Kriterien
der ICHD-3 diagnostiziert werden ([Tab. 1]). Bei 30 – 60% der Migränepatienten kommt es zu einer Remission in der Pubertät,
allerdings ist bei ca. einem Drittel dieser Patienten von einem erneuten Auftreten
der Symptomatik ab der 4./5. Lebensdekade auszugehen.
Merke
Ein früher Beginn legt eine spätere Persistenz der Beschwerden nahe [3], [5], [6], [7].
Tab. 1 Diagnosekriterien der IHS – Migräne ohne Aura im Kindes- und Jugendalter [8].
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Bereich
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Kriterien
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A
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≥ 5 Attacken, welche die Kriterien B – D erfüllen1,2
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1 Werden < 5 typische Attacken berichtet, wird die Diagnose „wahrscheinliche Migräne
ohne Aura“ kodiert.
2 Bei einer Migränehäufigkeit von ≥ 15 Tage/Monat für > 3 Monate wird „chronische Migräne
ohne Aura“ kodiert.
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B
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Kopfschmerzattacken, die (unbehandelt oder erfolglos behandelt) 2 – 72 Stunden anhalten
|
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C
|
Der Kopfschmerz weist mind. 2 der folgenden Charakteristika auf:
-
beidseitige oder einseitige (frontale/temporale) Lokalisation
-
pulsierender (pochend oder sich mit dem Herzschlag verändernder) Charakter
-
mittlere oder starke Schmerzintensität
-
Verstärkung durch körperliche Routineaktivitäten (z. B. Gehen oder Treppensteigen)
oder führt zu deren Vermeidung
|
|
D
|
Während des Kopfschmerzes besteht mind. 1 der folgenden Charakteristika:
-
Übelkeit und/oder Erbrechen
-
Fotophobie und Phonophobie (ggf. vom Verhalten des Patienten zu erschließen)
|
|
E
|
Der Kopfschmerz ist nicht auf eine andere Erkrankung zurückzuführen.
|
Spannungskopfschmerz
Die Prävalenz von Spannungskopfschmerzen gemäß den ICHD-3-Kriterien beträgt über 50%.
Ca. 1% dieser Patienten leidet an chronischen täglichen Kopfschmerzen [9].
Kopfschmerz vom Mischtyp
Kopfschmerzepisoden vom Migräne- und vom Spannungskopfschmerztyp geben 20% der Patienten
an. Insbesondere bei jungen Patienten und Patienten mit chronischen täglichen Kopfschmerzen
ist ein Entweder-oder-Schema von Migräne vs. Spannungskopfschmerzen nicht sinnvoll
– dabei gilt: Je länger der Kopfschmerz chronisch besteht, desto weniger charakteristisch
ist die jeweilige Ausprägung [3], [10].
Zusatzinfo
Diagnosestellung
Charakteristika
Migräne
Bei der Migräne treten wiederholt akute Kopfschmerzepisoden von mittlerer bis hoher
Intensität auf. Meist handelt es sich im Kindes- und Jugendalter um eine Migräne ohne
Aura (60 – 80%). In der IHS-Klassifikation werden die folgenden klinischen Besonderheiten
der Migräne in jungem Alter berücksichtigt:
-
kürzere Dauer der einzelnen Attacken (2 – 72 Stunden, wobei auch Attackendauern mit
< 2 h berichtet werden)
-
häufiger bilaterale als unilaterale, i. d. R. frontale Lokalisation
-
Schmerzintensität liegt bei über 6 von 10 (auf der numerischen Analogskala [NRS])
-
häufig besteht eine vegetative Symptomatik in Form von Übelkeit, Erbrechen (wird oft
als erleichternd empfunden) oder „nur“ abdominellem Schmerz
Die kindliche Migräne beginnt oft in den frühen Morgenstunden, führt zu einer Unterbrechung
von eigentlich gerne durchgeführten Beschäftigungen und zu einem Rückzug mit „Abschottung“
und strikter Vermeidung (auch geringer, z. B. „Treppensteigen“) körperlicher Aktivität.
In der Schmerzattacke besteht oft ein eindrucksvoll „imperativer“ Schlafdrang. Vorläufersymptome
(premonitory symptoms) i. S. von autonomen, psychischen oder neurologischen Symptomen
sind häufig [8], [11]:
-
Stimmungsschwankungen
-
Konzentrationsstörungen
-
Inappetenz
-
Heißhungerattacken
-
Müdigkeit
-
auffallende Blässe
-
Lichtempfindlichkeit
-
Nackenschmerzen
-
Nackensteife
-
häufiger Harndrang
Fallbeispiel
Ein 5-jähriger entwicklungsgesunder Junge wird vorgestellt. Seit 10 Monaten treten
alle 4 – 6 Wochen Episoden mit folgenden Symptomen auf: Der Junge wird im Kindergarten
plötzlich sehr quengelig und weinerlich und verlangt nach seinen Eltern. Wenn die
Mutter ihn abholt, findet sie ein müdes, blasses Kind vor, dem es augenscheinlich
nicht gut geht. Sie muss den Jungen zum Auto tragen. Zu Hause gibt der Junge dann
Kopfschmerzen an, die schlecht lokalisierbar sind. Er übergibt sich zweimal und schläft
dann ein. Am nächsten Morgen ist er wieder quietschfidel, als ob nichts gewesen wäre.
Auf Nachfrage geben die Eltern an, dass es an diesen Tagen meistens schon so ist,
dass sie beim Frühstück merken, dass etwas im „Anmarsch“ ist. Der Junge, der sonst
morgens einen großen Appetit hat, stochert dann nur lustlos in der Müslischale. Die
Familienanamnese zeigt eine episodische Migräne bei der Mutter und Großmutter (Beginn
im jungen Erwachsenenalter).
In der klinisch-neurologischen Untersuchung zeigen sich in allen Bereichen altersentsprechende
Befunde. Es wird die Diagnose einer episodischen Migräne gestellt.
Spannungskopfschmerzen
Spannungskopfschmerzen treten wiederholt, episodisch oder chronisch auf und zeigen
keine Progredienz im Verlauf. Im Vergleich zur Migräne sind Spannungskopfschmerzen
von geringerer Intensität, führen weniger oft zu einer signifikanten Beeinträchtigung
des Allgemeinzustands, lassen die Fortführung der Alltagsaktivitäten meist zu und
bessern sich durch Ablenkung und leichte körperliche Aktivität.
Weiterführender diagnostischer Work-up
Die Diagnose einer primären Kopfschmerzerkrankung ist immer eine klinische Diagnose,
die anhand sorgfältiger Anamnese und internistischer und (kinder-)neurologischer Untersuchung und Verlaufsbeurteilung gestellt und im Verlauf bestätigt wird.
Merke
Wenn das Gesamtbild einschließlich Familienanamnese und gesicherter interiktaler Beschwerdefreiheit
passt, ist die Diagnose ausgesprochen robust und bedarf keiner weiteren Untersuchungen
[7], [12].
Passt das Bild nicht, bestehen atypische Symptome oder Verläufe, bestehen klinisch
suspekte Befunde (insbesondere fokal-neurologische Symptome, z. B. Änderung des Schriftbilds)
oder Hinweise auf psychische Veränderung (z. B. das mit den Geschwistern frech-offensiv
umgehende Kind wird brav-passiv und zurückhaltend) oder geben klinische Symptome Hinweise auf einen gesteigerten intrakraniellen Druck, ist
entsprechend der möglichen Differenzialdiagnose eine weitere Abklärung indiziert,
wobei die Bildgebung (cMRT) an 1. Stelle steht [13], [14].
Wann?
Da Chronifizierung von Kopfschmerzen in Kindheit und Jugend beginnen kann, sind früh
angewendete Strategien zur Prävention von Chronifizierung essenziell. Diese sollten
die dynamischen Reifungsprozesse des kindlichen und adoleszenten Gehirns, die mit
einer besonderen entwicklungsspezifischen Vulnerabilität einhergehen, berücksichtigen
[3], [14], [15].
Nach Diagnosestellung
Diagnosegespräch
Nachdem eine Diagnosezuordnung erfolgt ist, findet ein ärztlich geführtes Diagnosegespräch
mit Patient und Eltern statt. Hierbei wird dem Patienten durch eindeutige Benennung
der Kopfschmerzdiagnose sowie der Darlegung dessen biologischer Grundlagen eine Konzeptualisierung
des ihm eigenen Kopfschmerzes auf dem Boden des biopsychosozialen Modells ermöglicht.
Fehlattributionen können benannt und in der Folge abgebaut oder am besten ganz vermieden
werden [12].
Merke
Diagnose und Therapie primärer Kopfschmerzen im Kindesalter basiert auf einem biopsychosozialen
Modell.
Diskussion des geplanten individuellen Therapiekonzepts
In Folge des Diagnosegesprächs werden gemeinsam mit dem Patienten die Ziele der Behandlung
zur Festlegung eines geeigneten maßgeschneiderten Therapiekonzepts erarbeitet und
diskutiert. Hierbei wird der hohe Stellenwert der Adhärenz/Compliance und der Selbstverantwortlichkeit
des Patienten für den Erfolg der Behandlung des eigenen Kopfschmerzes herausgestellt:
Der Patient (altersbezogen) trägt selbst die Verantwortung, steuert seine Therapie
– auch als Kind – in seinem Rahmen selbstständig und erfährt hierdurch Selbstwirksamkeit.
Als konkrete Ziele werden i. d. R. benannt:
-
Reduktion der Kopfschmerzfrequenz (um mind. 2 Tage pro Monat)
-
Reduktion der Dauer der einzelnen Kopfschmerzepisode (auf < 1 – 2 Stunden)
-
Reduktion der Einschränkung des Alltags und der Lebensqualität
-
Verbesserung des Umgangs mit Schmerzen
-
Vermeidung von Chronifizierung
-
Vermeidung von Vermeidungsstrategien (z. B. Fernbleiben von der Schule)
-
Vermeidung eines Analgetikaabusus mit insbesondere auch Vermeidung der Einnahme von
Medikamenten, wenn gleichzeitig „Nichtwirksamkeit“ attestiert wird [16]
Klinischer Follow-up im Verlauf
Individuell, aber verbindlich und fest definierte Follow-up-Zeitpunkte werden im Rahmen
des Erstgesprächs vereinbart. Diese können zusammen z. B. mit dem niedrigschwelligen
Angebot von Telefonkontakten im Intervall zu einer guten Adhärenz führen. Im Rahmen
der Verlaufsuntersuchungen erfolgen [12]:
-
Re-Evaluation der Diagnose
-
Beurteilung der Umsetzung von Lebensstilmaßnahmen
-
Erkennen und (wenn möglich) Abbau von Triggerfaktoren
-
Beurteilung der Effektivität der eingeleiteten Maßnahmen
-
Beurteilung der Lebensqualität des Kindes und dessen Umfeld
-
Zufriedenheit des Patienten/der Eltern mit dem Betreuungsregime
-
Erkennen einer Chronifizierung oder eines Übergangs in eine funktionelle (somatoforme/psychogene)
Störung/somatische Belastungsstörung
Was?
In der Diagnostik, Betreuung, Therapie und Beratung von Kindern mit primären Kopfschmerzen
und ihren Bezugspersonen ist der Einsatz eines interdisziplinären, „dreidimensionalen“
Teams aus Pädiatrie, Psychologie und Physiotherapie dann sinnvoll, wenn im Verlauf
die Basisversorgung der Praxis nicht ausreicht.
Ärztliche Diagnostik und Psychoedukation
Im Rahmen des ärztlichen Gesprächs stehen auch die Erläuterung der evidenzbasierten
Relevanz von Lebensstilfaktoren und die Identifikation individueller körperlicher
und psychischer Auslösefaktoren im Mittelpunkt. Diese Faktoren umfassen u. a. [17], [18]:
-
Schlafmangel oder unregelmäßiger Schlaf
-
körperliche Inaktivität
-
Übergewicht
-
Alkohol- (> 2 Drinks/Woche), Koffein- (> 2 Tassen Kaffee/Tag oder deren Äquivalent
in Cola oder Energy Drinks) und Nikotinkonsum
-
geringe Flüssigkeitszufuhr (kontrovers)
-
Freizeitstress (zu wenig regenerative, nicht verplante Zeit)
-
Leistungsdruck (schulischer Stress, Erwartungsdruck der Eltern, sozialer Druck durch
Peergroup/Mobbing oder Schule durch als ungerecht empfundene Behandlung von Lehrern)
-
familiäre Konflikte
Im Weiteren wird die patientenspezifische Wirksamkeit von sog. „Basismaßnahmen“ bei
akutem Kopfschmerz diskutiert [12]:
-
Rückzugsmöglichkeit schaffen (Unterbrechung von schulischen/sportlichen Aktivitäten)
-
Reizabschirmung (ruhiger, dunkler Raum)
-
Erlaubnis/Möglichkeit zum Schlafen
-
Ablenkungsmöglichkeiten
-
leichte körperliche Aktivität in der frischen Luft (gilt für Spannungskopfschmerzen,
nicht für Migräne)
-
Kühlung der Stirn (feuchter Lappen)
-
niederschwellige Selbstmedikation (z. B. wiederholtes Auftragen von Pfefferminzöl
auf die Stirn/Schläfen/Nackenmuskeln)
Im klassischen ärztlichen Gespräch kann auch auf die ergänzende Nutzung analoger oder
internetbasierter Programme hingewiesen werden. Diese Programme können zu einer Steigerung
des Kenntnisstands über Kopfschmerzen im Allgemeinen und des Bewusstseins für den
eigenen Kopfschmerz führen (z. B. http://www.klinikum.uni-muenchen.de/Integriertes-Sozialpaediatrisches-Zentrum-im-Dr-von-Haunerschen-Kinderspital/de/Verschiedenes/sonstiges/momo/index.html; http://www.dmkg.de; http://www.migraine.org.uk).
Darüber hinaus können integrierte Gruppenkonzepte zur Vertiefung von Grundlagen, zum
Erlernen verhaltenstherapeutischer Maßnahmen zur Stressbewältigung, zur Anleitung
hinsichtlich muskulärer Dehnungsübungen und Entspannungsverfahren und zur medikamentösen
Akuttherapie sinnvoll sein [19], [20], [21].
Kopfschmerztagebuch
Ein wichtiges Instrument in der Behandlung primärer Kopfschmerzerkrankungen stellt
die Dokumentation im Kopfschmerztagebuch (durch den Patienten selbst, z. B. über 2 – 4
Wochen) dar. Durch die hierdurch angeregte Selbstwahrnehmung und Konzeptualisierung
kann der therapeutische Prozess positiv beeinflusst werden. Folgende patientenspezifische
Faktoren können damit erarbeitet werden [22]:
-
Überblick über die Kopfschmerzfrequenz
-
Einschätzung der Intensität der Schmerzen
-
Koexistenz mehrerer Kopfschmerzformen anhand der dokumentierten Charakteristika
-
Identifizierung von Triggerfaktoren
-
Identifizierung von Faktoren, die eine Linderung oder eine Zunahme der Kopfschmerzen
bewirken
-
Hinweise auf eine funktionelle Störung
Gleichwohl gilt es beim Gebrauch des Kopfschmerztagebuchs, die Balance zwischen Fokussierung
auf und Ablenkung von Beschwerden ärztlich zu steuern.
Merke
Eine alternative Form kann daher auch die Führung eines Aktivitätstagebuchs sein,
was mehr auf die erhaltenen Ressourcen fokussiert.
Psychologische Diagnostik
Eine neuropsychologische Diagnostik, mit dem Ziel patientenspezifische Lösungsvorschläge
zur Krankheits- und Stressbewältigung zu erarbeiten, kann besonders sinnvoll sein.
Folgende Aspekte können hierbei fokussiert werden:
-
Identifikation von Auslösern oder „Unterhaltern“ des Kopfschmerzes (z. B. Stress,
Überforderung, sekundärer Krankheitsgewinn, Schulvermeidungsverhalten)
-
Objektivierung von Folgen der Schmerzerfahrung (z. B. Einbuße hinsichtlich Konzentrationsfähigkeit,
Leistungsniveau)
-
kognitive Leistungstestung (Erkennen von Überforderungssituationen in der Schule)
-
Erkennen von psychischen Belastungen und psychiatrischen Komorbiditäten (z. B. Hyperaktivität,
Angststörungen, Depression, posttraumatische Belastungsstörung)
Merke
In der psychologischen Betreuung von Kindern mit Kopfschmerzen sind Selbstwahrnehmung
und Selbstwirksamkeit Schwerpunkte der Arbeit zur konkreten Kopfschmerzreduktion.
Grafische Darstellung des Kopfschmerzes
Als weitere Maßnahme, um den Patienten in der Auseinandersetzung mit seinem Schmerz
zu unterstützen, kann die Anfertigung eines Bildes des eigenen, erlebten Kopfschmerzes
hilfreich sein ([Abb. 1]). Sie visualisiert den Kopfschmerzcharakter und die erlebte Belastung durch den
Schmerz und trägt zur Steigerung der Eigenreflexion bei [23].
Abb. 1 „Mein eigener Kopfschmerz“. Zeichnung einer 11-jährigen Patientin mit episodischer
Migräne.
Spezifische Fragebögen
Darüber hinaus stehen standardisierte Fragebögen zur Verfügung, um funktionelle Beeinträchtigungen
im Alltag und eine damit einhergehende Einbuße an Lebensqualität immer wieder zu objektivieren:
-
Headache Impact Test (HIT; nicht validiert für die Altersgruppe, nach klinischer Erfahrung
aber ab dem 14. Lebensjahr einsetzbar)
-
Pediatric Migraine Disability Assessment Score (PedMIDAS)
-
Pediatric Quality of Life Inventory (PedsQL)
-
Fragebogen zur Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen KidKINDL (https://www.kindl.org/deutsch/fragebögen/)
Physiotherapie
Die physiotherapeutische Beurteilung des muskuloskelettalen Systems insbesondere mit
Fokus auf die Nacken-Schulter-Muskulatur und Asymmetrien/Fehlhaltungen bezüglich der
Statik und Wirbelsäule ist ein essenzieller Bestandteil der körperlichen Untersuchung
von Kindern und Jugendlichen mit Kopfschmerzen. In diesem Zusammenhang kommt der Untersuchung
auf das Vorliegen myofaszialer Triggerpunkte (mTrPs) in der Kopf-Hals-Nacken-Muskulatur
durch manuelle Palpation eine besondere Bedeutung zu [3], [17], [24], [25], [26].
Die Physiotherapie hat in der Kopfschmerzdiagnostik und -therapie die Aufgabe, die
durch die ärztliche Untersuchung gescreenten Verspannungen und myofaszialen Triggerpunkte
der Nacken-, Schulter- und Halsmuskulatur zu bestätigen, zu differenzieren und in
Aufklärung, Therapie und Vermittlung von Eigenübungen aufzunehmen.
Fallbeispiel
Eine 14-jährige Patientin (Turnerin der Leistungsklasse, Wechsel zu diesem Schuljahr
auf ein Sportgymnasium mit Internat, Periode seit dem 14. Lebensjahr), bei der seit
dem Alter von 10 Jahren eine episodische Migräne bekannt ist, berichtet in einer Routineverlaufskontrolle
von einer ausgeprägten Zunahme der Frequenz der Episoden (vorher ca. 1 × in 3 Monaten,
nun 2 – 3 × pro Monat). Zudem dauern diese Episoden nun deutlich länger an (vorher
1 – 2 Stunden, nun einen halben bis ganzen Tag). Zudem treten fast täglich Spannungskopfschmerzen
auf.
Das Mädchen wird im Rahmen des multimodalen Therapieansatzes folgendermaßen behandelt:
-
neuropsychologische Beurteilung mit Fokus auf Stressoren im Alltag
-
Psychoedukation an die aktuelle Situation angepasst
-
bei aktiven muskulären Triggerpunkten im M. trapezius 2 × 6 Therapieeinheiten triggerpunktspezifische
Physiotherapie
-
Umstellung von Ibuprofen auf Triptan und Naproxen als Akutmedikation
-
Beginn einer Therapie/Nahrungsmittelergänzung mit Magnesium/Vitamin B2/Q10
Nach 6 Wochen berichtet die Jugendliche von einer deutlichen Besserung ihrer Situation:
Die Spannungskopfschmerzfrequenz habe sich bereits deutlich reduziert und es sei nur
1 Migräneepisode aufgetreten, die sich mit Triptan und Naproxen gut kupieren ließ.
Genetik – bei spezifischer Fragestellung
Für die Migräne ist eine komplexe genetische Grundlage anzunehmen. Große genomweite
Assoziationsstudien konnten über 40 Genloci identifizieren, die mit einem erhöhten
Risiko für Migräne einhergehen [27], wobei für die meisten Loci nur eine leichte Risikoerhöhung um 20 – 30% gesehen
wird. Wichtig für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen ist die Kenntnis der
seltenen monogenetischen Migränesyndrome, die unter dem Begriff „hemiplegische Migräne“
zusammengefasst werden. Klinisch besteht das Bild einer Migräne mit Aura (oft sehr
lang andauernd über Stunden bis Tage bis Wochen) und einer unterschiedlich stark ausgeprägten
Hemiparese bei (nicht zwingend, aber häufig) positiver Familienanamnese:
-
FHM 1: CACNA1A
-
FHM 2: ATP1A2
-
FHM 3: SCN1A
Fallbeispiel
Ein 15-jähriger Jugendlicher wird mit dem Rettungshubschrauber zuverlegt. 3 Stunden
vor Aufnahme war eine akute Hemiparese rechts, eine faziale Parese rechts sowie eine
Aphasie aufgetreten. Zum Zeitpunkt der Aufnahme bestehen noch eine (ganz milde) armbetonte
Hemiparese sowie eine diskrete Wortfindungsstörung, die sich jeweils innerhalb der
folgenden 2 Stunden komplett zurückbilden. Im Verlauf treten mittelgradige Kopfschmerzen
auf.
Bei positiver Familienanamnese (Mutter, Großvater mütterlicherseits) wird primär der
V. a. Migräne mit Aura gestellt. Als sich der Junge verabredungsgemäß einige Tage
später zu einem Routine-MRT des Schädels vorstellt, zeigen sich abgesehen von wenigen
unspezifischen White Matter Lesions keine pathologischen Befunde. Der Junge zeigt
in den kommenden 3 Monaten 4 weitere absolut identische Episoden. Ein EEG zeigt einen
Normalbefund. Es wird eine genetische Diagnostik veranlasst. Diese bestätigt die Verdachtsdiagnose
einer hemiplegischen Migräne Typ I (CACNA1A-Mutation).
Welche Therapie?
Für Patienten mit primären Kopfschmerzen wird – bei jedem „nicht unkomplizierten“
Verlauf – ein multimodales Therapieregime angeboten, das sich individuell zusammensetzt
und im Verlauf entsprechend des veränderten Bedarfs wiederholt angepasst werden sollte.
Gemeinsam mit dem Patienten erarbeitet das interdisziplinäre Team dieses modulare
Konzept auf Grundlage des biopsychosozialen Schmerzmodells.
Akute Kopfschmerzen
Akute Spannungskopfschmerzen – Motto „defensiv“
In der Regel ist ein defensives Pharmakoregime zu empfehlen, vor allem, wenn bereits
die o. g. Basismaßnahmen erfolgreich eingesetzt werden können. Sollte eine Akutmedikation
als notwendig angesehen werden, gelten Analgetika (nicht steroidale Antiphlogistika,
NSAID) als Mittel der Wahl [16].
Akute Migräneattacken – Motto „offensiv“
Bei Migräneattacken gilt es, frühzeitig ein zuverlässig wirksames (richtig dosiertes!),
gut verträgliches und sicheres Medikament einzunehmen. Eine sorgfältige Einweisung
in die Anwendung und Grenzen „seines“ Medikaments und die rasche Verfügbarkeit des
Medikaments im Akutfall sind Voraussetzungen für einen maximalen Wirkungsgrad. Zunächst
werden Analgetika (NSAID) in ihrer Wirksamkeit erprobt ([Tab. 2]) [16].
Cave
Aufgrund des Nebenwirkungsprofils ist Metamizol bei Kindern und Jugendlichen nicht
zur Behandlung akuter Kopfschmerzepisoden zu empfehlen [28].
Tab. 2 Pharmakotherapie primärer Kopfschmerzen im Kindes- und Jugendalter – Analgetika und
nicht steroidale Antiphlogistika (NSAID) [12].
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Wirkstoff
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Stellenwert
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Dosierung absolut
(Jugendliche)
|
Dosierung gewichtsadaptiert
(Kinder < 12 J.)
|
Dosisintervall
|
Kommentar
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|
TTH = Tension Type Headache (Spannungskopfschmerz)
Einnahme möglichst rasch nach Einsetzen der Symptomatik in ausreichend hoher Dosierung;
bei Symptompersistenz erneute Einnahme nach 3 – 4 h möglich; Anwendung max. 2 – 3 ×/Woche.
Grundsätzlich wichtige Nuance: individuell geeignete Darreichungsform wählen.
|
|
Ibuprofen
|
Mittel der 1. Wahl bei Migräne und TTH
|
400 – 800 mg
|
10 – 15 mg/kg
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6 h
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ggf. Schmelztabletten
|
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Paracetamol
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Mittel der nachgeordneten Wahl bei TTH
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500 – 1000 mg
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10 – 15 mg/kg
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6 h
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Bei Migräne in dieser Dosierung oft nicht effektiv; max. Tagesdosis 60 mg/kg
Cave: Hepatotoxizität/Selbstmedikation (geringe therapeutische Breite!)
|
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Azetylsalizylsäure
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Optionen bei Migräne und TTH
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500 – 1000 mg
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10 – 15 mg/kg
max. 25 mg/kg/d
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4 – 6 h
|
Cave: < 12 Jahre, (historische Diskussion: Reye-Syndrom, definitiver Zusammenhang
bislang nicht gesichert)
|
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Naproxen
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250 – 500 mg
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5 – 7,5 mg/kg
max. 15 mg/kg/d
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8 – 12 h
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zugelassen > 12 Jahre; Kombination mit Triptan möglich
|
Der Einsatz von Antiemetika kann bei starker Übelkeit sinnvoll sein (z. B. Ondansetron).
Bei „versteckten Neuroleptika“ (Dopamin-A2-Antagonisten) mit der möglichen Nebenwirkung
einer akuten dystonen Reaktion (z. B. bei Metoclopramid, MCP) sollte sehr sorgfältig
Risiko und Nutzen abgewogen und mit dem Patienten besprochen werden [29]. Nach Erfahrung der Autoren ist eine suffiziente Schmerztherapie häufig auch gegen
die Übelkeit ausreichend und es ist keine darüber hinausgehende antiemetische Therapie
notwendig.
Eine unzureichende Wirksamkeit der klassischen Analgetika/NSAID wird bei 30 – 60%
der Patienten mit Migräne beobachtet. In diesen Fällen kommt die Anwendung der migränespezifischen
Triptane in Betracht. Von der European Medicines Agency (EMA) liegen folgende Zulassungsdaten
vor:
Andere Triptane, abweichende (höhere) Dosierungen und Anwendung in jüngerem Lebensalter
können aber in Einzelfällen zur Realisierung eines Therapieerfolgs begründet sein
([Tab. 3]) [12].
Merke
Eine effektive Akutmedikation trägt bei Kindern und Jugendlichen mit Migräne dazu
bei, dass das Gefühl des Kontrollverlusts durch die Schmerzen sinkt und sich dadurch
der allgemeine Umgang mit der Schmerzsymptomatik verbessert.
Die Kombination eines Triptans und eines langwirksamen NSAID (z. B. Naproxen) bewirkt
oft eine Verbesserung sowohl der Akut- als auch der Langzeitwirkung. Dadurch lässt
sich evtl. ein Wiederauftreten der Kopfschmerzen nach einigen Stunden („re-occurance
headache“) und damit einhergehend eine wiederholte Anwendung von NSAID oder Triptanen
vermeiden [12], [30].
Tab. 3 Triptantherapie der akuten Migräne im Kindes- und Jugendalter [12].
|
Triptan
|
Anwendung
|
Dosis
|
Dosisintervall
|
Zulassungsstatus
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|
EMA = European Medicines Agency; FDA: Food and Drug Administration (USA)
Stratifiziertes Regime: Bei Erreichen einer vorher festgelegten Schmerzintensität
(Triptanschwelle) wird das Triptan möglichst rasch angewendet; bei guter Einstellung
max. Anwendung 2 ×/Woche.
Grundsätzlich wichtige Nuance: individuell geeignete Darreichungsform wählen.
Kontraindikationen: Vasospasmus, frühere zerebrovaskuläre Probleme oder TIA; periphere
vaskuläre Erkrankung, arterieller Hypertonus, Angina pectoris, schwere Herzerkrankung;
gleichzeitige Einnahme von MAO-Hemmern (bis zum Zeitraum von 2 Wochen nach Absetzen)
oder Ergotaminen; schwere Leber- oder Nierenfunktionsstörungen, Schwangerschaft.
|
|
Sumatriptan
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nasal
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10 – 20 mg
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einmalige Wiederholung frühestens 2 Stunden nach erster Anwendung, sofern diese einen
Effekt gezeigt hatte
|
EMA; ab 12 Jahren
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Zolmitriptan
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nasal
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2,5 – 5 mg
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EMA; ab 12 Jahren
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Almotriptan
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oral
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6,25 – 12,5 mg
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FDA; ab 12 Jahren
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Rizatriptan
|
oral
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5 – 10 mg
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FDA; ab 6 Jahren
|
|
Rizatriptan
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Schmelztablette
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5 – 10 mg
|
FDA; ab 6 Jahren
|
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Zolmitriptan
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Schmelztablette
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2,5 – 5 mg
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nicht zugelassen unter 18 Jahren
|
Status migraenosus
Der Status migraenosus ist ein (neuro)pädiatrischer Notfall. Er bedarf einer raschen
medikamentösen Therapie in einem hospitalisierten Setting. Triptannaive Patienten
können Sumatriptan subkutan oder Rizatriptan sublingual erhalten (höhere Akzeptanz
der Applikationsform, aber etwas längere Zeitspanne zum Wirkeintritt [30 vs. 10 Minuten]).
Wenige pädiatrische Daten liegen für die intravenöse Gabe von Azetylsalizylsäure (ASS),
Ondansetron oder Metamizol vor. Eine Diskussion einer kurzzeitigen Prophylaxe des
Wiederauftretens der Kopfschmerzen bzw. eines Rückfalls in den Status migraenosus
mittels NSAID oder Steroiden kann im Einzelfall sinnvoll sein. Standardisierte Protokolle
wie in der Erwachsenenneurologie liegen für Kinder mit Migräne allerdings nicht vor
und die Variabilität kindlicher Entwicklung und Kopfschmerzkonstellation unterstützt
individuelles, nicht schematisches Vorgehen. In jedem Fall sollte nach stattgehabter
Akuttherapie eines Status migraenosus über das Wiederholungsrisiko von Kopfschmerzen
und deren Akutbehandlung aufgeklärt werden und ein kontinuierliches ambulantes kinder- und jugendärztliches Setting angeboten werden
[16], [22].
Chronische Kopfschmerzen
Psychologische Intervention
Evidenzbasierte Effektivität wurde für psychologische Interventionen zur Stressmodifikation,
Verbesserung der Körper- und Selbstwahrnehmung, Stärkung der Autonomie und Erarbeiten
von Coping-Strategien nachgewiesen [31], [32]. Bei erwachsenen Patienten gelten insbesondere folgende Verfahren als effektiv ([Tab. 4]) [33]:
-
progressive Muskelrelaxation
-
thermales Finger-Biofeedback
-
muskuläres Biofeedback
-
kognitive Verhaltenstherapie
Tab. 4 Effektstärke verhaltenstherapeutischer Behandlungsverfahren im Rahmen einer Migränetherapie
[33].
|
Behandlungsverfahren
|
Effektstärke
|
|
progressive Muskelrelaxation (PMR)
|
0,55
|
|
thermales Finger-Biofeedback (tBFB)
|
0,38
|
|
PMR + tBFB
|
0,40
|
|
muskulärer BFB (EMG-BFB)
|
0,77
|
|
kognitive Verhaltenstherapie (KVT)
|
0,54
|
|
KVT + tBFB
|
0,37
|
|
Placebogabe
|
0,16
|
|
keine Behandlung
|
0
|
Physiotherapeutische Intervention
Verspannungen im Nacken-Schulter-Bereich sind bei Kindern und Jugendlichen, die an
Kopfschmerzen – insbesondere Migräne – leiden, häufig [17], [24], [25]. Betroffen sind hiervon die über C1–C3 versorgten Muskelgruppen:
Diese häufige Assoziation stützt das pathophysiologische Konzept des trigeminozervikalen
Komplexes, in dem nicht nur zentrale Mechanismen eine Rolle bei der Schmerzentstehung
und -aufrechterhaltung bei Migräne spielen, sondern auch die peripheren Afferenzen
der Schulter-Nacken-Muskulatur, die auf den Hirnstamm einwirken und vice versa [25], [34], [35], [36].
Muskulär fokussierte Maßnahmen im Bereich des M. trapezius können dadurch sowohl die
lokale, myofasziale Komponente des Kopfschmerzes beeinflussen, die zentrofugale und
zentripetale biopsychische Komponente des trigeminozervikalen Schmerzkomplexes erreichen
als auch ein somatisch erfahrbares Modell für psychologischen Stress und die eigenen,
daraus folgenden Körperreaktionen darstellen.
Den trigeminozervikalen Komplex adressierende Maßnahmen reichen von physiotherapeutischen
Dehnungsübungen auch in Kombination mit Wärmebehandlung oder Massage über die triggerpunktspezifischen
Physiotherapie bis zum Muskel-Biofeedback [36].
Merke
Die triggerpunktspezifische Physiotherapie ist bei Nachweis sog. „aktiver myofaszialer
Triggerpunkte“ (mTrPs) effektiv.
Voraussetzungen für den Therapieerfolg dieser Verfahren sind immer:
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Motivation
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altersadaptiertes Erfahren und Erlernen
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regelmäßige selbstständige Übung
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Überführen in Eigenverantwortlichkeit und Eigensteuerung
Im breiten Spektrum der Neurostimulation könnte als weitere therapeutische Option
die repetitive periphere Magnetstimulation (rPMS) der Schulter-Nacken-Muskulatur eine
Rolle spielen. Eine erste Pilotstudie zur rPMS im Bereich des M. trapezius bei jungen
Erwachsenen mit Migräne zeigte eine gute Toleranz der Methode und (nicht placebokontrolliert)
einen nachhaltigen Effekt auf die Kopfschmerzfrequenz und Alltagsbeeinträchtigung.
Pathophysiologisch-theoretisch lässt sich die rPMS sowohl über das Konzept des trigeminozervikalen
Komplexes, über das Konzept der peripheren Sensitivierung des kaudalen Anteils des
Kerngebiets des N. trigeminus als auch über die myofaszialen Triggerpunkte begründen
[37], [38], [39], [40].
Pharmakoprophylaxe
Vor Beginn einer Pharmakoprophylaxe werden i. d. R. die psychologischen und nicht
medikamentösen Maßnahmen ausgeschöpft [16]. Indikationen für eine medikamentöse Prophylaxe können sein:
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hohe Attackenfrequenz (Migräne > 1 – 2 ×/Woche oder > 3 – 4 ×/Monat) oder chronischer
täglicher Kopfschmerz
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relevante Einschränkung in Bezug auf Schulpräsenz, Alltagsfunktionalität, Aktivitäten
(z. B. Migräne PedMIDAS ≥ 30) und Lebensqualität
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unzureichende Wirksamkeit und Verträglichkeit oder regelmäßige Überdosierung der Akuttherapeutika
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Kontraindikation für die Akuttherapeutika
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prolongierte Migräne (> 48 Stunden), hemiplegische Migräne und Migräne mit Hirnstammaura
(früher: Basilarismigräne) sowie ausgeprägte andere Auren (als nicht evidenzbasierte
Indikationen)
Merke
Die Indikation für eine Pharmakoprophylaxe bei Kindern und Jugendlichen mit primären
Kopfschmerzen wird i. d. R. zurückhaltend gestellt.
Nach wie vor ist kein Medikament spezifisch zur Prophylaxe primärer Kopfschmerzen
im Kindes- und Jugendalter zugelassen. Optionen zur Prophylaxe der Migräne in Analogie
zur Erwachsenenmedizin können sein:
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Magnesium
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Propranolol
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Topiramat
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Flunarizin
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Amitriptylin
Flunarizin stellt eine im angloamerikanischen Raum nach wie vor empfohlene Option
dar, insbesondere für die hemiplegische Migräne [16]. Bezüglich Magnesium (alleine oder in Kombination mit Vit. B2 und Koenzym Q10) kann „Großzügigkeit“ empfohlen werden, bezüglich der Alternativen
Topiramat und Amitriptylin sind die Empfehlungen restriktiv. In die Entscheidung zur
Therapie sind die Ergebnisse des sog. CHAMP-Trials einzubeziehen, die in 2017 keine
Überlegenheit gegenüber Placebo zeigen konnten [41] ([Tab. 5]).
Merke
Valproinsäure gilt mit kritischem Wirkungs-Nebenwirkungs-Profil und mit Teratogenität
(Rote-Hand-Brief) für Kinder und Jugendliche als obsolet [42].
Tab. 5 Pharmakoprophylaxe primärer Kopfschmerzen im Kindes- und Jugendalter [12].
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Wirkstoff
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Dosierung
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Kommentar
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Magnesiumcitrat
Magnesiumaspartat
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200 – 600 mg/d
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Nebenwirkung: Diarrhö/Flatulenz, bei Absetzen Obstipation, bei Kombinationspräparaten
mit Zusätzen (Riboflavin) über „kräftig gelben“ Urin aufklären
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Propranolol
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0,5 – 2 mg/kg
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(relative) Kontraindikationen: Atopie, Asthma, Diabetes, Herzrhythmusstörungen, Leistungssport
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Flunarizin
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< 40 kg: 5 mg
> 40 kg: 10 mg
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keine Zulassung in der Pädiatrie, abendliche Einnahme; Indikation: hemiplegische Migräne;
Nebenwirkung: extrapyramidal-motorische Störungen
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Topiramat
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0,5 – 1(− 2) mg/kg, max. 100 mg
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Cave: Kognition/Psyche/Verhalten/Essverhalten (Gewichtsabnahme); besondere Indikation:
hemiplegische Migräne
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Amitriptylin
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0,2 – 1(− 2) mg/kg, max. 100 mg
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abendliche Einnahme; EKG-Kontrollen, psychologische/psychiatrische Nebenwirkungen
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Botulinumtoxin (Onabotulinumtoxin A) hat seinen spezifischen Platz (bei chronischer
Migräne) in der Erwachsenenneurologie gefunden (nach ≥ 2 wirkungslosen Pharmakotherapien
in Kombination mit nicht medikamentösen Maßnahmen) [43]. In einer US-amerikanischen, placebokontrollierten klinischen Studie (PREEMPT) war
der Wirksamkeitsnachweis bei guter Verträglichkeit erbracht worden. Seit 2010 besteht
eine Zulassung der FDA in dieser Indikation für Erwachsene. Im Rahmen von nicht kontrollierten,
nicht randomisierten kleinen Fallserien konnten auch Jugendliche und Kinder erfolgreich
behandelt werden [44], [45]. Eine evidenzbasierte Empfehlung lässt sich zu dieser Therapieoption zurzeit nicht
geben, für Kinder und Jugendliche bleibt es ein individueller, selten indizierter
Off-Label-Heilversuch. Für die Anwendung von Calcitonin-Gene-related-Peptide-Antikörper
(CGRP bzw. Rezeptor-Antikörper) fehlen bislang pädiatrische Daten. Seit November 2018
ist der CGRP-Rezeptor Antikörper Erenumab für Patienten ab dem 18. Lebensjahr auf
dem deutschen Markt erhältlich – mit der Zulassung weiterer Antikörper ist im Verlauf
des Jahres 2019 zu rechnen [46]. Hier ist in Zukunft möglicherweise auch für Kinder und Jugendliche eine neue Therapieoption
zu erwarten.
Fallbeispiel
Ein 6 Jahre altes Mädchen wird wegen Kopfschmerzen und Erbrechen in der Notaufnahme
vorgestellt. Es besteht kein Fieber, es sind keine weiteren Familienmitglieder erkrankt.
Das Mädchen ist sehr müde, kooperiert bei der körperlichen Untersuchung nicht gut,
ohne Dolmetscher kann keine differenzierte Anamnese erhoben werden. Es wird mit der
Verdachtsdiagnose einer beginnenden Gastroenteritis nach Hause entlassen.
Verabredungsgemäß stellen sich die Eltern am nächsten Morgen erneut mit dem Mädchen
vor. Die Symptomatik hat sich dahingehend verschlechtert, dass das Mädchen fast nur
noch schlafe. Wenn es halbwegs wach sei, könne es kaum stehen und taumele beim Gehen.
Im sofort durchgeführten cMRT des Schädels zeigt sich ein raumfordernder Tumor im
Bereich der hinteren Schädelgrube mit Verlegung des 4. Ventrikels.
Komplementärmedizinische Therapieansätze
Die Nachfrage nach komplementärmedizinischen Therapiemöglichkeiten steigt stetig.
Für Kinder und Jugendliche gilt hier, dass i. d. R. keine belastbaren evidenzbasierten
Daten für die Vielzahl von Therapieoptionen vorliegen [47]. Orientiert an der aktuell neu erschienenen S1-Leitlinie zur Therapie der Migräne
bei Erwachsenen kann ggf. auch auf Jugendliche übertragen werden [33]:
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Aerober Ausdauersport (regelmäßig!) ist empfehlenswert.
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Akupunktur kann eine Alternative zu einer medikamentösen Prophylaxe darstellen; klassische
Akupunktur ist jedoch hinsichtlich der Wirksamkeit einer sog. Scheinakkupunktur nicht
überlegen.
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Homöopathische Therapieansätze zeigen bislang keine nachgewiesene Wirksamkeit in der
Migräneprophylaxe.
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Kein Wirksamkeitsnachweis konnte bisher – auch in Ermangelung kontrollierter Studien
– erbracht werden für:
Ausblick
Im Jahr 2019 wird das deutschlandweite Projekt „modules on migraine activity“ (moma;
[Abb. 2]), gefördert durch einen Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA),
starten. Ziel dieses Projekts der Ludwig-Maximilians-Universität München gemeinsam
mit der BARMER Krankenkasse und dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ)
ist es, für Kinder im Alter von 6 – 11 Jahren die diagnostische und therapeutische
Migränekompetenz bei Kinder- und JugendärztInnen zu erhöhen, dabei den trigeminozervikalen
Komplex in praktische Kompetenz zu überführen und die biopsychosoziale Wirklichkeit
von Migräne mit einer „Complexity Signature“ visuell verstehbar, patientennah und
einfach kommunizierbar zu machen.
Abb. 2 Modules on Migraine Activity (moma).(Quelle: Arbeitsgruppe Heinen/Landgraf)
In einer deutschlandweiten, kontrollierten, clusterrandomisierten Studie wird eine
Level-1-Behandlung in der kinder- und jugendärztlichen Praxis mit einer Level-2-Behandlung
in einem sozialpädiatrischen Zentrum mit strukturierten multidisziplinären Therapiemodulen
in einem Zeitraum von 3 Monaten verglichen. Das grundsätzliche Ziel ist es, durch
eine frühe, strukturierte, interdisziplinäre multimodale Kompetenz einer Chronifizierung
der Migräne und damit einer Einschränkung der Lebensqualität betroffener Kinder vorzubeugen
und innovative Versorgungsoptionen zu evaluieren (weiterführende Informationen erhältlich
unter: http://www.klinikum.uni-muenchen.de/Integriertes-Sozialpaediatrisches-Zentrum-im-Dr-von-Haunerschen-Kinderspital/de/Verschiedenes/sonstiges/momo/index.html).
Kernaussagen
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Primäre Kopfschmerzen sind – beginnend im Kindesalter und mit einem typischen Gipfel
bei den Jugendlichen – ein Nummer-1-Gesundheitsproblem.
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Mit der ärztlichen Diagnosesicherung durch Anamnese, klinische Untersuchung und Verlaufsbeurteilung
(selten mit der Notwendigkeit ergänzender apparativer Diagnostik) kann ein patientenzentriertes,
modulares, im Verlauf flexibel erweiterbares oder wieder reduzierbares Therapiekonzept
definiert und mit bzw. für den Patienten angepasst werden.
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Primäre Kopfschmerzen sind wissenschaftlich unterrepräsentiert („the most underfunded
neurological problem“, [48]).
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Schlüsselfunktion hat der ärztlich-klinische Zugang mit Anamnese und differenzierter
körperlicher Untersuchung, die Elemente aus der Kinderneurologie für Hirnnerven und
Nackenmuskulatur berücksichtigend. Die Diagnose kann i. d. R. zuverlässig klinisch
gestellt werden.
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Die Diagnosekriterien für Migräne und Spannungskopfschmerzen sind in der Klassifikation
der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft (ICHD-3) von 2018 formuliert.
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Die Kinder- und JugendärztInnen entscheiden bei primären Kopfschmerzen pragmatisch
zwischen den Polen „fokussieren“ und „ablenken und belasten“.
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Jenseits der unkomplizierten Verläufe ist ein interdisziplinäres, „dreidimensionales“
Team aus Pädiatrie, Psychologie und Physiotherapie zu fordern.
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Der trigeminozervikale Komplex ist ein innovatives, pathophysiologisch begründetes
Arbeitskonzept zur erfolgreichen Therapie von Kopfschmerzen bei Kindern und Jugendlichen.
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Nicht medikamentös ist das Erreichen von Selbstwirksamkeit ein ebenso abstraktes wie
konkretes Ziel, dabei wird ein aktives Selbstmanagement angestrebt.
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Die Akutmedikation von Migräneattacken wird mit erprobten Medikamenten offensiv gestaltet.
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Die Prophylaxe von chronischen Kopfschmerzen ist hinsichtlich Medikamenteneinsatz
defensiv und setzt das gestaffelte Ausschöpfen nicht medikamentöser Verfahren voraus.
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ist Prof. Dr. med. Prof. h. c. Florian Heinen, München.
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