GGP - Fachzeitschrift für Geriatrische und Gerontologische Pflege 2017; 01(03): 102-103
DOI: 10.1055/s-0043-118065
Kolumne
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Schöne heile Pflegewelt

Sabine Hindrichs
Further Information

Publication History

Publication Date:
09 October 2017 (online)

Wir werden alt und multimorbid und wer wird uns pflegen?

Haben die drei Pflegestärkungsgesetzte und das Krankenhausstrukturgesetz unseren pflegerischen Alltag verändert – oder ist alles wie gehabt? Haben Sie sich schon einmal die Frage gestellt, welche Auswirkungen PSG I bis III für Sie ganz persönlich haben? Haben Sie nun andere Patienten, Bewohner und Klienten, sind diese durch den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff anders pflegebedürftig als früher? Ist bei Ihnen und Ihren Kollegen oder gar in der Führungsetage urplötzlich nur noch von Selbstständigkeit und Selbstbestimmung die Rede und der Hilfebedarf spielt überhaupt keine Rolle mehr? Schwebt der Geist des personenzentrierten Ansatzes durch Ihre Einrichtung und sind alle Zwänge von Personalausstattung und Fachkraftquote kein Thema mehr? Ich befürchte, die überwiegende Mehrzahl von Ihnen wird mit „NEIN!“ antworten.

Eines ist allen gesetzlichen Änderungen der letzten Jahre im Gesundheitswesen gemein: die Erkenntnis, dass wir alle zunehmend älter werden, aber nicht zwangsläufig auch damit gesünder bleiben, die Alterspyramide gnadenlos ihr Gesicht zeigt und die Zahl der Personen, die pflegen, heute schon nicht mehr ausreicht.

Zusammengefasst: Wir werden sehr alt, multimorbide, leiden an Demenz und es gibt keinen mehr, der uns versorgt und pflegt!

Was ist die Lösung?

Durch die unterschiedlichen Gesetze soll die Pflege in Deutschland langfristig auf ein sicheres finanzielles Fundament gestellt werden, um diese Herausforderungen bewältigen zu können. In der Tat ist seit Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs am 01.01.2017 der Zugang zur Pflegeversicherung erheblich vereinfacht bzw. heruntergesetzt worden – und damit auch verbunden der Anspruch auf die unterschiedlichsten Leistungen und finanziellen Mittel. So gesehen ein voller Erfolg, wäre da nicht diese kleine Unschärfe, wer diese Leistungen erbringen bzw. das damit verbundene Anspruchsdenken bedienen soll.

In meiner täglichen Arbeit treffe ich zunehmend auf Versorgungssituationen – oder sollte ich besser sagen Versorgungszustände? –, die mich alles andere als hoffnungsvoll stimmen. Es können Wohnbereiche in neuen Einrichtungen nicht eröffnet werden, weil das Personal nicht zur Verfügung steht, ambulante Dienste nehmen keine neuen Kunden auf, da sie die Versorgung über alle Versorgungsbereiche (SGB V und SGB XI) auf Grund fehlenden Personals nicht sicherstellen können, bis dahin, dass ambulante Dienste ihre Fachkrafttour schließen müssen, weil sie kein ausreichend qualifiziertes Personal mehr zur Verfügung haben.

Pflegebedürftige Personen mit einem nun ermittelten Pflegegrad haben Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung und können diese Leistungen nicht einkaufen, weil es niemanden gibt, der diese Leistungen erbringen kann. Die gesetzliche Vorgabe „ambulant vor stationär“ ist rein theoretisch ein wundervoller Gedanke; wollen wir nicht alle am liebsten bis zum Ende im Kreise unserer Lieben zu Hause bleiben? Das Modell Familie, das im Verbund die Versorgung und Pflege seiner pflegebedürftigen Angehörigen übernimmt und dafür Geldleistungen aus der Pflegeversicherung zur Unterstützung erhält, ist ein sozialromantisches Auslaufmodell.

Die Tochter, die morgens mit dem großen Familienvan zunächst die Kleinen in den Kindergarten, die Großen in die Schule und dann die (Schwieger-)Eltern in die Tagespflege bringt, um anschließend motiviert ihren Halbtagsjob zu erledigen, bevor sie am Nachmittag alle wieder einsammelt, einkaufen geht und im Anschluss auch noch die unterschiedlichsten Bedürfnisse und Anforderungen der einzelnen Familienmitglieder befriedigt – wer macht bei ihr die Psychische Gefährdungsbeurteilung? Und was ist, wenn es diese Töchter (es sind leider immer noch in der Regel die Töchter/Schwiegertöchter) gar nicht gibt oder sie 500 km entfernt wohnen, sie nicht die Pflege übernehmen wollen oder gar die pflegebedürftige Person so nicht versorgt werden will, welche Versorgungsform ist dann möglich?

Für Pflegegrad 1 und 2 hat der Gesetzgeber die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen so eng gesteckt, dass dieser Personenkreis für die stationäre Langzeitpflege vor allem hinsichtlich der Personalausstattung, aber auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht keine anzustrebende Zielgruppe ist. Also wo bleiben nun diese neuen pflegebedürftigen Personen des Pflegegrades 1 und 2, wenn es keine Versorgung durch Angehörige gibt, es keinen ambulanten Dienst gibt, der sie als Kunde aufnimmt und das Pflegeheim sich diese Personen schlicht nicht leisten kann, zumindest wenn es ausreichend qualifiziertes Personal beschäftigen möchte und dieses wohlmöglich auch noch nach Tarif bezahlen will? Eine der unmittelbar sichtbaren Auswirkungen ist der Drehtür-Effekt zwischen Häuslichkeit und Krankenhaus, wenn die Versorgung in der Häuslichkeit nicht sichergestellt ist. Von Seiten des entlassenden Krankenhauses wird dann irgendeine Art von Versorgung forciert (die möglichst den Drehtür-Effekt verhindert), die nicht an den Wünschen und Bedürfnissen des Patienten ausgerichtet ist, sondern daran, eine möglichst sichere Versorgungsmöglichkeit zu finden.

Irgendwie beschleicht mich das Gefühl, dass die Pflegestärkungsgesetze an unserem Berufsstand mal wieder vorbei gegangen sind, denn letztlich sind wir es da draußen vor Ort, sei es im Krankenhaus, im ambulanten Dienst oder in der stationären Langzeitpflege, die mit den Erwartungen, Forderungen, Enttäuschungen und Missständen umgehen müssen, die uns die tägliche Arbeit nicht erleichtern, sondern zusätzlich erschweren.

Es ist Zeit, durch selbstbewusstes, fachkompetentes Auftreten klarzustellen, dass Pflege nichts mit dem alten Verständnis von Dienen und Leiden zu tun hat, sondern eine eigenständige Profession ist, die es nicht zum Nulltarif gibt und die Wertschätzung verdient hat. Nicht über uns reden, sondern mit uns reden als gleichberechtige Partner, das muss unser aller Ziel sein – sonst steht unser System vor dem personellen Aus.

Ihre

Sabine Hindrichs

sabine@hindrichs-pflegeberatung.de