Zeitschrift für Phytotherapie 2017; 38(05): 230
DOI: 10.1055/s-0043-118937
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

ZPT - Buchtipp

Matthias F. Melzig Prof. Dr.
1   Berlin
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Publication Date:
04 December 2017 (online)

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Die Globalisierung hat längst auch die Wissenschaften erfasst, ja multinationaler Austausch von Ideen und Konzepten ist eine Triebfeder des Erkenntnisgewinns. Gepaart mit dem Interesse am Exotischen und der wissenschaftlichen Neugier stehen seit einigen Jahren auch die unterschiedlichen Therapiekonzepte indigener Gesellschaften im Fokus von Publikumsmedien wie auch der biomedizinischen Wissenschaftsgemeinde. Eine möglichst umfassende, alle Kontinente einbeziehende Darstellung zum Thema Ethnopharmakologie, von Fachwissenschaftlern vor Ort in kompakter Form erstellt, stand daher schon lange auf der Agenda. Zum Gelingen eines solchen Vorhabens ist neben einem klaren Konzept und guter internationaler Vernetzung auch die Fähigkeit zur Schwerpunktsetzung notwendig, um ein lesbares und nicht zu umfängliches Buch vorlegen zu können. Die beiden Herausgeber, Anna Jäger aus Kopenhagen und Michael Heinrich aus London, haben diese Herausforderung eindrucksvoll bewältigt. Bereits das detaillierte Inhaltsverzeichnis gibt dem Leser das Gefühl, sowohl einen Überblick als auch konkrete Einblicke in die verschiedenen Aspekte zum Titelthema zu erhalten.

Die ersten 10 Kapitel gehen vor allem auf allgemeine Themen ein, wie die historische Einordnung oder die Wechselbeziehungen zur Biodiversität, es werden anthropologische, ökologische sowie analytische Gesichtspunkte ebenso betrachtet wie auch rechtliche Zusammenhänge – wem gehört eigentlich dieses Wissen indigener Gesellschaften?

Im zweiten Teil des Buches stehen spezielle pharmakologische Indikationen bzw. die Beeinflussung von Organsystemen im Mittelpunkt. Auch sind Schwerpunkte gesetzt, die aus therapeutischen Notwendigkeiten erwachsen sind, wie z. B. Antiinfektiva, Antimalaria- und entzündungshemmende Drogen, Arzneipflanzen zur Behandlung von metabolischen Erkrankungen, Wunden, aber auch Aspekte zu klinischen Studien mit ethnopharmakologischem Hintergrund. Dieser Teil erscheint logisch zusammengestellt, lässt aber einige Themen vermissen, wie z. B. ethnopharmakologische Ansätze zur Behandlung von Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, des Urogenitaltraktes oder von Tumoren.

Der dritte Teil umfasst Kapitel zu regionalen Aspekten der Ethnopharmakologie. Hier beschreiben ausgewiesene Autoren aus allen relevanten Regionen der Welt beispielhaft und kurz zusammengefasst, was traditionelle Medizinsysteme leisten können, welche Bedeutung sie historisch hatten und heute noch haben sowie aktuelle Forschungsansätze. Hier kann der Leser sehr unterschiedliche Herangehensweisen indigener Völkergruppen entdecken und es wird Neugier zum Weiterlesen induziert. Dabei wird v. a. deutlich, dass ethnopharmakologisches Wissen heute im Spannungsbogen zwischen Tradition und moderner Forschung steht. Dem Rezensenten ist aufgefallen, dass ein großer Teil der Pflanzenbeispiele dabei dem fachkundigen, phytotherapeutisch geschulten Leser bekannt vorkommt und das induziert die Frage, warum ist das so. Die Ausnutzung indigenen Wissens in den Industrieländern ist auch das Ergebnis kolonialer Politik und zwingt zu neuen Überlegungen im Umgang mit solchem Wissen. Trotz der breit aufgestellten internationalen Autoren kann sich der Rezensent des Eindrucks nicht erwehren, dass die Betrachtungsweise des vorgestellten ethnopharmakologischen Wissens vorrangig „westlich“ geprägt ist, d. h. naturwissenschaftlich exakt mit auf den Wirkstoff orientiertem reduktionistischem Ansatz. Nur an wenigen Stellen wird auf die Einbettung der ethnopharmakologischen Kenntnisse in den regional-kulturellen Kontext eingegangen.

Aktuelle Literaturverzeichnisse zu jedem Kapitel ermöglichen dem interessierten Leser ein weiteres Eindringen in die Materie durch gezielte Recherche. Auch das detaillierte Stichwortverzeichnis macht eine Suche nach speziellen Pflanzen bzw. interessierenden Begriffen und Sachverhalten einfach. Das Buch kann daher nicht nur Fachleuten und Bibliotheken empfohlen werden, auch der phytotherapeutisch interessierte Leser findet eine Fülle von Informationen zu Therapievorstellungen in anderen Teilen der Welt. Dabei ist die Qualität der einzelnen Beiträge bei solch einem Vielautoren-Werk naturgemäß nicht durchgehend hoch, aber in der Summe wird man nicht enttäuscht, denn die Vielfalt der Aspekte und Herangehensweisen der Autoren mit ihren regionalen Besonderheiten machen den Reiz des 430 Seiten umfassenden Buches aus und sollten einen Kauf nicht bereuen lassen.