Fortschr Neurol Psychiatr 2017; 85(10): 632-642
DOI: 10.1055/s-0043-119916
Verbandsmitteilungen
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Mitteilungen der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft Nr. 35 (2017)


Subject Editor: Peter Henningsen, München
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Publication Date:
10 October 2017 (online)

Berliner Psychiatrisch-Psychotherapeutische Mittwochsgespräche

Am 27. Mai 2015 kam eine Veranstaltungsreihe zum Abschluss, die schon wenige Jahre nach ihrer Begründung im Jahr 1995 zu einer Institution in der geistigen Landschaft Berlins geworden ist. Der 1994 von der Medizinischen Hochschule Hannover an die Schlosspark- Klinik Berlin gekommene Psychiater und Psychotherapeut Hans Stoffels etablierte mit den Berliner Mittwochsgesprächen eine Form medizinischer Weiterbildung, die von Anbeginn erkennen ließ, dass es vor allem im Bereich der Psychotherapie, letztlich aber in jedem ärztlichen Handeln um Fragen geht, wie sie auch in den Kultur- und Geisteswissenschaften verhandelt werden. Auf diese Weise wurde ein Medizinverständnis in die interessierte Öffentlichkeit getragen, wie es im 20. Jahrhundert wohl vor allem mit dem Namen Viktor von Weizsäckers verbunden ist. Insofern war es nur selbstverständlich, wenn zum Abschluss der Mittwochsgespräche eine Würdigung dieser langjährigen Bemühungen erfolgte. Überdies ist es unserem Mitglied Kerstin Stenkamp (Berlin) zu danken, dass es nun an dieser Stelle zu einem Rückblick auf die 20jährige Tradition der Mittwochsgespräche kommen kann.

Grußwort der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft zum Abschluss der Psychiatrisch-Psychotherapeutischen Mittwochsgespräche

Von Rainer-M.E. Jacobi

Meine sehr verehrten Damen und Herren, lieber Herr Stoffels – es ist der Abschied von einer prominenten und hoch geschätzten Berliner Institution, der uns heute hier zusammenführt. Ja, vielleicht war es nicht nur eine Institution, sondern wie Sie – lieber Herr Stoffels – mir jüngst sagten, so etwas, wie ein Elexier Ihres Lebens und manch anderen Lebens auch.

Das Besondere dieser Institution ist nicht ihr Name. Denn hier denken wir sogleich an die aus dem späten 19. Jahrhundert stammende „Berliner Mittwochsgesellschaft“, wie sie dann am Ende des vergangenen Jahrhunderts von Helmut Schmidt und Richard von Weizsäcker neu begründet wurde. Vor allem aber denken wir an die 1902 von Sigmund Freud in Wien begründete „Psychologische Mittwochsgesellschaft“. Das Besondere ist auch nicht ihr selbst formuliertes Anliegen, also die Verbindung von Psychiatrie und Psychotherapie.

Das wirklich Besondere der von Hans Stoffels über die letzten 20 Jahre geplanten und geformten Mittwochsgespräche ist etwas anderes. Und dabei denke ich nicht an die künstlerische Gestaltung der Einladungen. Ich kenne keine andere Vortragsveranstaltung mit einer solchen Kontinuität in Stil und Geschmack. Nein, es ist noch etwas anderes – es ist, mit einem Wort von Jürgen Habermas, ein Bewusstsein von dem, was fehlt. So, wie der Moderne im Ganzen etwas fehlt, so fehlt der modernen Medizin etwas. Auf dieses Fehlende nicht nur hingewiesen, sondern es eingeklagt zu haben, ist ein Verdienst des Heidelberger Internisten und Neurologen Viktor von Weizsäcker. Und im Auftrag des Vorstandes der Gesellschaft, die seinen Namen trägt, spreche ich dieses Grußwort, das zuerst ein Wort des Dankes ist.

Denn schon ein flüchtiger Blick auf Themen und Referenten dieser 20 Jahre zeigt etwas von der Besonderheit. Es ist ja nicht selbstverständlich, für die Verbindung von Psychiatrie und Psychotherapie um die Mitwirkung von Jan Assmann und Rüdiger Safranski, oder von Christa Wolf und Klaus von Dohnanyi zu bitten – ich könnte auch noch Nike Wagner, Reinhard Koselleck und den erst kürzlich verstorbenen skeptischen Denker Odo Marquard nennen.

Es geht um ein Bewusstsein von dem, was fehlt. Der modernen Medizin fehlt das Wissen davon, dass unser Kranksein und Gesundsein auch etwas mit Wahrheit und Lüge, mit Recht und Unrecht, mit Schuld und Vergebung zu tun hat – ja vielleicht sogar auch mit Schönheit und Schrecken, mit Freude und Angst. Wir brauchen die Philosophie und Politik, die Geschichte, das Recht und die Literatur – und auch die Theologie, um eine Medizin zu betreiben, die sich nicht zuerst an der aktuellen Wissenschaft, sondern an der Not des Menschen orientiert, an dem, was dem kranken Menschen nottut. Mit anderen Worten: es geht um die Suche nach therapeutischer Kompetenz.

Hierfür ein Verständnis geweckt zu haben, macht das Besondere dieser heute zum Abschluss kommenden Mittwochsgespräche aus. Dafür gilt Ihnen allen – und Ihnen, lieber Herr Stoffels, ganz besonders – der Dank der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft.


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Das Psychiatrisch-Psychotherapeutische Mittwochsgespräch: Ein Bericht

Von Kerstin Stenkamp

Lässt man die Einladungstexte zu 20 Jahren Mittwochsgespräch und die Referenten Revue passieren, fällt auf, dass die eingenommene psychotherapeutische Perspektive unter besonderer Berücksichtigung der Psychoanalyse und ihres Begründers Sigmund Freud stattfand. Viele Referenten hatten einen psychoanalytischen Hintergrund und nahmen eine explizit psychoanalytische Perspektive ein, wobei die Psychoanalyse weit gefasst wird nicht nur als therapeutische Methode, sondern ebenbürtig als Erkenntnismittel. Das heißt nicht, dass die Vortragreihe eine bestimmte Schule oder psychotherapeutische Weltanschauung vertrat oder gar lehrte, sondern die Psychoanalyse fungierte vielmehr als ein Scharnier für weitere Erkundungen.

2006 war der 150. Geburtstag des Begründers der Psychoanalyse, und das Mittwochsgespräch widmete sich thematisch den Hysterien, einer zwar verschwundenen Diagnose, aber der bleibenden Frage, was denn eigentlich heute darunter zu verstehen ist. Den modernen Klassifikationssystemen wird häufig vorgeworfen, dass sie kontext-verleugnend und subjektfeindlich sind. Das gilt für das Mittwochsgespräch explizit nicht, das geleitet war von dem Bedürfnis nach historischer Reflexion der aktuell gültigen Auffassungen und Konzepte. In dem Jahresthema „Die Gesundheit des Kranken“ im Jahre 2000 kam zudem der Grundgedanke einer sich anthropologisch verstehenden Psychiatrie zum Ausdruck: dass der psychisch Kranke eben nicht der „ganz Andere“ ist. Selbstkritisch wird die Frage aufgeworfen, ob Psychiater und Psychotherapeuten in ihrer Defizit-Orientierung nicht häufig zu einseitig sind. Im Einladungstext zu diesem Jahreszyklus skizziert Stoffels – Bezug nehmend auf Sigmund Freud – die Aufgabe des Arztes. Der Arzt sei derjenige, der Hilfestellung gibt und der als „wahrer Sokratiker“ auf absichtsvolles Wirken-Wollen, auf Hindeuten und Hinschieben verzichten muss. Der Arzt sollte sich als jemand verstehen, der Möglichkeiten freilegt. In dieser Haltung wirkte Hans Stoffels sowohl als Leiter der psychiatrischen Abteilung als auch in der Gestaltung des Mittwochsgesprächs. Intention des Mittwochsgesprächs war eben nicht, Lektionen zu erteilen im Sinne von „so geht Psychiatrie und Psychotherapie heute,“ sondern einen weit gespannten Reflektionsraum zu schaffen. Dies lässt sich vielleicht als Mäeutik beschreiben, womit gemeint ist, dass sich (Selbst-) Verständnis und Erkenntnis durch das Stellen und Aufwerfen geeigneter Fragen und Perspektiven entwickeln kann im Gegensatz zu einer Vermittlung von vermeintlich sicherem Wissen auf dozierende Weise.

In diesem Sinn wurden auch immer wieder Gedanken des Begründers der medizinischen Anthropologie und psychosomatischen Medizin, des Heidelberger Neurologen und Internisten Viktor von Weizsäcker eingeflochten. Für die medizinische Anthropologie Weizsäckers ist kennzeichnend, dass sie den kranken Menschen nicht als Objekt ärztlichen Handelns sieht, sondern als Subjekt, das in einer Beziehung stehend anzuerkennen ist. Symptome stellen komplexe Antwortmuster dar, die ohne Berücksichtigung der Persönlichkeit und ihrer Geschichte nicht verstanden werden können. Hans Stoffels, der von 2000 bis 2009 Vorstandsvorsitzender der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft war, nahm in seinen Einladungen zum Mittwochsgespräch immer wieder Bezug auf Weizsäcker. So stellte das Mittwochsgespräch 2013 die Frage nach aktuellen Konzepten von Veränderung und Entwicklung in Psychiatrie und Psychotherapie. In der Einführung des Themas findet sich das treffliche und zur Bescheidenheit mahnende Zitat Weizsäckers: „Man darf sich in der Seelenbehandlung wirklich nicht zu viel vornehmen und ganze Menschen schaffen wollen.“

Als ein weiterer geistiger Weggefährte des Mittwochsgespräches ist Karl-Peter Kisker zu nennen. 1998 widmete Hans Stoffels das Mittwochsgespräch dem Gedenken an seinen Lehrer, der im Jahr zuvor verstorben war. Dieser war 1966 als erster und seinerzeit jüngster psychiatrischer Ordinarius an die Medizinische Hochschule Hannover berufen worden, wo er bis 1991 die Abteilung „Klinische Psychiatrie und Psychotherapie“ leitete und das sozialpsychiatrische „Hannoversche Modell“ mitgestaltete und prägte. Kennzeichnend für Kisker war, wie sein Schüler Stoffels ihn beschreibt, eine dialogisch-psychotherapeutische Einstellung zum Kranken und ein sozialpsychiatrisches Konzept von Therapie und Rehabilitation. Ein Verzicht auf Beeinflussung und Veränderung (des Kranken) sei wesentliche Bedingung, dass der Mensch zu sich selbst kommt.

Das Psychiatrisch-Psychotherapeutische Mittwochsgespräch folgte einer klaren und liebevoll konstruierten Choreographie. Jeder fachliche Vortrag wurde durch einen Mitarbeiter der Psychiatrischen Abteilung „eingestimmt.“ Auch dieser Mitarbeiter wurde von Hans Stoffels dem Auditorium vorgestellt. Gäste des Mittwochsgesprächs lernten auf diese Weise auch Ärzte, Therapeuten und Sozialarbeiter der psychiatrischen Abteilung kennen. Die Grundidee war, auf den kommenden wissenschaftlichen Vortrag mit einem kurzen, konkreten und sinnlich-erfahrbaren Beitrag einzustimmen. Üblicherweise wurde ein Bild, ein Gedicht oder ein Musikstück vorgestellt, manchmal auch ein Künstler oder eine Ausstellung porträtiert, ein Buch referiert oder sogar kleine Filmausschnitte gezeigt. Hans Stoffels empfahl immer, sich von einem subjektiven Einfall, einer Assoziation oder einem Erlebnis inspirieren zu lassen. Die Einstimmung war für den Mitarbeiter Bürde und Ehre zugleich und konnte insbesondere neuen Mitarbeitern durchaus einige schlaflose Nächte bereiten. Wenn man Glück hatte, durfte man sich aus dem Jahresprogramm neigungsgemäß einen Referenten aussuchen, auf den man einstimmen wollte. Es konnte aber auch passieren, dass man plötzlich eine Notiz von Hans Stoffels in seinem Fach vorfand mit der Frage: „Haben Sie Zeit und Lust, auf den Vortrag von Herrn X oder Frau Y einzustimmen?“ Das hatte man natürlich, gewiss.

Im Folgenden sollen einige Referenten schlaglichtartig mit ihren Vortragsthemen in Erinnerung gerufen werden, um Stil und Breite der Veranstaltung zu illustrieren.

Thomas Fuchs, Psychiater und Philosoph, Inhaber der Karl Jaspers-Professur für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Heidelberg, zudem Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Phänomenologische Anthropologie, Psychiatrie und Psychotherapie war wiederholt Referent beim Mittwochsgespräch. Er sprach zu Themen wie „Schizophrenie und Leiblichkeit“, „Die narrative Identität bei der Borderline-Störung“, „Das Gedächtnis des Leibes“ oder „Das Böse aus psychiatrischer Sicht.“ Zum Oberthema „Aggression, Gewalt und Zwang“ im Jahre 2010 hielt er den letztgenannten Vortrag. Entgegen einer dichotomen Aufteilung der Welt in „Gut und Böse“ gehe Letzteres „quer durch jedes Menschenherz“, wie Solschenizyn im „Archipel Gulag“ formuliert hatte. Die Grundthese von Fuchs lautete, dass destruktive Tendenzen aus der spezifisch menschlichen und geistigen Fähigkeit zur Negation erwachsen. Das Ressentiment als nachhaltige Kränkung des empfindlichen Selbstwerterlebens kann zu maßgeblichen Motiven menschlicher Aggression und Destruktivität werden. Fuchs entwickelte und exemplifizierte das Thema anhand eines brutalen Doppelmordes, der scheinbar grundlos durch zwei Jugendliche an Nachbarn verübt worden war, anhand der biblischen Geschichten des Sündenfalls und des Streits von Kain und Abel.

Im gleichen Jahreszyklus sprach Aleida Assmann, Literaturwissenschaftlerin und Ägyptologin mit dem Schwerpunkt Kulturanthropologie und kulturelles Gedächtnis, über das Thema: „Von kollektiver Gewalt zu einer gemeinsamen Zukunft: Vier Modelle für den Umgang mit einer traumatischen Vergangenheit.“ Ausgehend von der Frage, wie traumatische Kollektiverfahrungen wie der Holocaust gesellschaftlich verarbeitet werden können, schlägt sie ein „dialogisches Erinnern“ vor, worunter sie eine wechselseitige Anerkennung von Opfer- und Täterkonstellationen in Bezug auf eine gemeinsame Gewaltgeschichte versteht. „Erinnern“ sei keine rückwärtsgewandte Haltung, sondern ein dynamischer Prozess, der sich stets wandeln müsse und zum Beispiel auch in unterschiedlichen lokalen Geschichtsprojekten zum Ausdruck kommt. Im Falle des Holocaust kann ein Neubeginn nicht durch einen Schlussstrich erfolgen, was dem Erinnerungsmodell „Vergessen“ entspreche, aber auch nicht durch das Erinnerungsmodell „Erinnern, um nicht zu vergessen“ oder „Erinnern, um zu vergessen.“ Mit dialogischem Erinnern können traumatische Erinnerungen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene besser verarbeitet werden und zu einer nationalen Identität beitragen auch jenseits der in unserer Erinnerungskultur exklusiv sanktionierten Rollen des Täters, des Opfers oder des Märtyrers.

Das Jahr 2009 befasste sich mit „Grenzerfahrungen in Psychiatrie und Psychotherapie“, wie sie zum Beispiel der Suizid eines Patienten darstellen kann. Hierzu sprach auch Matthias Bormuth, der seit 2012 die Heisenberg-Professur für Vergleichende Ideengeschichte am Institut für Philosophie der Universität Oldenburg innehat. In seinem Vortrag ging er auf seinen eigenen Werdegang ein und führte aus, warum er sich von der konkreten klinischen Tätigkeit – er hatte nach seinem Medizinstudium in der Psychiatrie gearbeitet – abgewandt und den Geisteswissenschaften zugewandt hat. Aus seiner Habilitationsschrift „Ambivalenz der Freiheit – Suizidales Denken im 20. Jahrhundert“ entwickelte er luzide Reflexionen über die Selbsttötung mit literarischem und biographischem Bezug zu Jean Améry. Dieser hatte in seinem viel beachteten Buch „Hand an sich legen – Diskurs über den Freitod“ streng formuliert, dass der Freitod keine Krankheit, sondern ein Privileg des Humanen sei, bevor er sich zwei Jahre später das Leben nahm. Bormuth zeichnete anhand der Schriften Amerys und seiner Biographie Wandlungen und Radikalisierungen seiner Auffassungen nach und setzte sie in Bezug zum aktuellen Diskurs über diese Thematik.

Schließlich möchte ich Sophinette Becker, Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin und Sexualwissenschaftlerin erwähnen. Sie ist auf Störungen der Geschlechtsidentität und den kulturellen Wandel der Sexualität spezialisiert und leitete bis 2010 die Sexualambulanz an der Universität Frankfurt. 2011 sprach sie im Mittwochsgespräch zum Hauptthema „Aspekte der Sexualität und ihre Bedeutung für Psychiatrie und Psychotherapie“ über „Geschlechtsidentitäten und sexuelle Orientierung“ auf unterhaltsame und zum Teil humorvolle Weise. So sei es zum Beispiel kein Problem, dass sie ihren Vortrag mit einer Hose bekleidet halte, ohne dass man an ihrer Geschlechtszugehörigkeit zweifle, aber man würde sich sicher Sorgen um Hans Stoffels psychische Gesundheit machen, wenn er in einem schicken Kleid zum Mittwochsgespräch gekommen wäre. Obgleich starre Merkmale der Geschlechtszugehörigkeit zunehmend flexibler würden, bestehe immer noch eine klare binäre diskursive Ordnung und ein Wunsch nach Eindeutigkeit. Eine Grundthese des Vortrags war, dass eine Geschlechtsidentität ebenso wenig natürlich gegeben wie ausschließlich Produkt einer freien Wahl ist, sondern gleichermaßen Ergebnis eines komplexen Zusammenwirkens körperlicher, seelischer und sozialer Faktoren wie gewaltiger Abwehr- und Integrationsleistungen.

Abschließend soll der Vortrag von Ulrich Rüger in Erinnerung gerufen werden. Ulrich Rüger war bis 2007 Direktor der Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapie der Universität Göttingen. Im Jahr 2014 sprach er zum Hauptthema „Die Macht der Emotionen und ihre Bedeutung für Psychiatrie und Psychotherapie“ über das Thema „Emotionale Nähe und notwendige Distanz in der psychotherapeutischen Beziehung.“ Zentral für eine psychotherapeutische Beziehung sei die empathische Kompetenz des Therapeuten, was in Anlehnung an den Psychoanalytiker Peter Kutter die Fähigkeit meint, zwischen Identifizierung und Distanzierung zu oszillieren. Gefährdet sei diese Kompetenz gleichermaßen durch mangelhafte Identifizierung wie Überidentifizierung sowie durch unreflektierte Haltungen seitens der Therapeuten. Ein prinzipielles Problem sei oftmals, dass die Prognose wie ein Tabu in der therapeutischen Beziehung behandelt werde. Therapeuten seien häufig nicht ausreichend informiert über den bisherigen Krankheitsverlauf und die sekundären Folgen. Weiterhin würden nicht behebbare Defizite der Patienten ausgeblendet und die Tragik des Nicht-Gelebten und Nicht-Wiederholbaren nicht zum Fokus gemacht. In der lebhaften Diskussion zu dieser Thematik ging Ulrich Rüger auf erwähnenswert wertschätzende und bescheidene Art auf die Diskussionsbeiträge ein.

Über die Jahre hatte sich zunehmend ein treues Stammpublikum etabliert, welches Hans Stoffels in großen Teilen namentlich kannte. Bereits im dritten Jahr mussten wegen der wachsenden Resonanz größere Räumlichkeiten bezogen werden und das Mittwochsgespräch fand fortan in der Cafeteria der Schlosspark-Klinik oder im Festsaal der naheliegenden Wirtschaftshochschule statt. Auch das Gespräch mit dem Auditorium wurde im Vortragsraum präzise zeitlich begrenzt, aber Hans Stoffels lud am Ende der Diskussion immer ein, die Gespräche „bei einem Glas Bier oder Wein,“ im naheliegenden Schlosspark-Hotel fortzusetzen. Man hatte dann auch Gelegenheit, weitere Fragen an den Referenten zu richten und sich weiter miteinander auszutauschen. Diese schöne Tradition wurde in späteren Jahren folgerichtig umbenannt in den „psychiatrischen Salon.“

Hans Stoffels lebte als Gestalter des Psychiatrisch-Psychotherapeutischen Mittwochsgesprächs eine Haltung zu seinem Fachgebiet der Psychiatrie und Psychotherapie vor, die zur fortwährenden Reflexion des eigenen Handelns und Meinens anregte. Es war eine Haltung des Innehaltens, ein Hinterfragen des scheinbar Selbstverständlichen, eine skeptische Einstellung allen Gewissheiten gegenüber.

Neben der Referentin dieser Rückschau werden bestimmt viele weitere Gäste das Psychiatrisch-Psychotherapeutische Mittwochsgespräch und die damit verbundenen Begegnungen vermissen und mit Dankbarkeit auf dieses besondere Format zurückblicken.


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Satellitensymposium

Erstmals im Frühjahr 2012 wurde in München auf Anregung des dortigen Direktors der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie, Peter Henningsen, für den alljährlich stattfindenden Deutschen Kongress für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie ein Satellitensymposium der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft angeboten. Es war der Versuch, vor den aus ganz Deutschland versammelten Vertretern psychosomatisch orientierter Medizin, einen Eindruck von der Denkungsart jenes Arztes und Philosophen zu vermitteln, der engstens mit der neueren Geschichte dieser Orientierung zu tun hat. Bereits bei diesem ersten Versuch ging es nicht darum, ärztliche Fort- und Weiterbildung im engeren Sinn zu betreiben, sondern etwas von den geistigen Grundlagen und dem kulturellen Horizont ärztlichen Tuns zu vermitteln. Als Referenten hatten sich seinerzeit der Heidelberger Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs und der Hamburger Physiker und Naturphilosoph Klaus Michael Meyer-Abich zur Verfügung gestellt.

Der überraschende Erfolg dieser Unternehmung, der sich im darauffolgenden Jahr in Heidelberg wiederholte, ließ die Hoffnung wachsen, hieraus eine ständige Institution werden zu lassen. Es spricht viel dafür, dass dies nun der Fall ist, nachdem der Deutsche Kongress seit dem Jahr 2014 ständig in Berlin stattfindet und sich der Berliner Psychiater Hans Stoffels bereiterklärt hat, das Satellitensymposium im Auftrag des Vorstandes unserer Gesellschaft zu organisieren und zu leiten. Unter dem Titel „Die Psychosomatik und ihre Nachbardisziplinen“ ist es gewissermaßen zu einem öffentlichen Spiegel des transdisziplinären Profils der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft geworden. Besonders deutlich wurde dies in den letzten Jahren dank der erfolgreichen Mitarbeit des Basler Philosophen Emil Angehrn, des Osnabrücker Theologen Gregor Etzelmüller und des Würzburger Literarhistorikers Wolfgang Riedel.

Bericht zum Satellitensymposium 2017

Von Anke Giesa

Das diesjährige Satellitensymposium der Viktor von Weizäcker Gesellschaft im Rahmen des Deutschen Kongresses für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie gestalteten am 24.03.2017 die Literaturwissenschaftlerin Heidi Gidion und Professor Hans Stoffels. Das Thema des Symposiums war, wie auch schon in den vergangenen Jahren: „Die Psychosomatik und ihre Nachbardisziplinen“, und es fand im Henry Ford Bau der Freien Universität Berlin statt. Frau Gidion hielt den Hauptvortrag „Vom Umgang mit dem Leib in Kafkas Erzählungen“ und Professor Stoffels führte mit seinem Beitrag: „Medizin und Literatur – Verbündete oder getrennte Welten?“ in das Thema ein.

Die Begrüßung durch Hans Stoffels und seine einführenden Worte waren – wie gewohnt – herzlich, fundiert und weckten Interesse. So verwendete er das Bild der Brücke, die zwischen den getrennten Welten Medizin und Literatur gebaut werden müsse, um einen Dialog zwischen den Welten zu ermöglichen. Ein besonderes Beispiel hierfür habe der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg mit seinen Frankfurter Poetik Vorlesungen von 1981 unter dem Titel: „Literatur als Therapie?“ gegeben. Eine weitere Brücke entstand durch den regen Kontakt, den viele Psychotherapeuten mit Schriftstellern pflegten. Genannt wurden Freud mit Romain Rolland, Weizäcker mit Hugo von Hoffmannsthal und Gebsattel mit Rainer Maria Rilke.

Vor allem in den USA, aber auch zunehmend in Deutschland, entwickelte sich in den letzten zwei Jahrzehnten die so genannte „Bibliotherapie“ als eine Kreativtherapie neben der Kunst-, Musik- und Tanztherapie. Sie kann auch eine Brücke zwischen den Welten bilden. So teilte der Schweizer Psychotherapeut Daniel Hell kürzlich mit, dass er systematisch Bücher in seiner psychotherapeutischen Arbeit einsetzt, um eine Lese- und Literaturanamnese zu erheben.

Am Schluss wies Stoffels auf die Gedichtsammlung von Erich Kästner hin, der Kästner den Titel: „Lyrische Hausapotheke“ gegeben hatte. In der Einleitung heißt es: „Es tut wohl, den eigenen Kummer von einem anderen Menschen formulieren zu lassen. Formulierung ist heilsam.“

Danach ergriff die Literaturwissenschaftlerin Heidi Gidion das Wort. Sie skizzierte zunächst die Biographie Kafkas, der mit knapp 41 Jahren in einem Sanatorium bei Wien 1924 an Kehlkopf-Tuberkulose verstarb. Sein Werk hat wie wohl kein zweites in der Weltliteratur eine inzwischen unübersehbar gewordene Bibliothek von Sekundärliteratur provoziert. Seine berühmteste Erzählung „Die Verwandlung“ gilt dem Handelsvertreter Gregor Samsa, der sich nach unruhigen Träumen beim Aufwachen in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt vorfindet. Uns Lesenden wird nur das mitgeteilt, was Gregor Samsa wahrnimmt. Daraus folgt, dass wir zwar genau beschriebene Realien vor uns haben, aber in aller Regel keine Abbildung irgendeiner Form der uns bekannten Realität. Denn zu Kafkas Denk- und Erlebniswelten gehört das Imaginäre mitten im Alltäglichen. Neben dem Imaginären, so betonte Frau Gidion, sei bei Kafka eine Dominanz der Bilder auszumachen. Am Anfang steht das Bild. Ein Bild war zumeist das Erste, was Kafka vor sich sah und woraus sich die jeweilige Geschichte förmlich generierte.

Ein weiteres Beispiel für Kafkas bildhafte Anschaulichkeit gab Heidi Gidion mit folgendem Zitat: „Mein Körper ist zu lang für seine Schwäche, er hat nicht das geringste Fett zur Erzeugung einer segensreichen Wärme, zur Bewahrung inneren Feuers, kein Fett, von dem sich einmal der Geist über seine Tagesnotdurft hinaus ohne Schädigung des Ganzen nähren könnte. Wie soll das schwache Herz, das mich in letzter Zeit öfters gestochen hat, das Blut über die ganze Länge dieser Beine hinstoßen können. Bis zum Knie wäre genug Arbeit, dann aber wird es nur noch mit Greisenkraft in die kalten Unterschenkel gespült.“

Beruflich war der promovierte Jurist Kafka bei seinem Arbeitgeber, der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt in Prag, aufgrund seiner Exaktheit und Formulierungskunst in seinen Gutachten außerordentlich erfolgreich. Kafka hatte die Entschädigungen für Unfälle der Arbeiter an Maschinen zu berechnen. Auch dort begegnen wir der Dominanz der Bilder. Bei seinen Gutachten fertigte er exakte Zeichnungen von den Apparaten und den verletzten Gliedmaßen an. Das Schreiben selbst schilderte Kafka in einem Brief an seine Verlobte wie einen Geburtsvorgang. Auch hier überrascht die Dominanz der Bilder: „Die Geschichte (Das Urteil) ist wie eine regelrechte Geburt mit Schmutz und Schleim bedeckt aus mir heraus gekommen“. Kafka sah im Schreiben auch eine Selbsttherapie gegen die nervenzerrüttende Selbstbeobachtung, denn er wusste von der heilenden Wirkung schöpferischer Aufmerksamkeit und nennt es den erlösenden Trost des Schreibens.

In welch komplizierten Sinne Kafkas Schreiben autobiographisch ist, lässt sich in dem „Brief an den Vater“ demonstrieren. So gewiss hier bestimmte bedeutsame Lebensmomente von Hermann und Franz Kafka gleichsam fotographisch genau festgehalten sind, so gewiss fehlen andere ebenso bedeutsame. Festzuhalten aber ist: In ihm ist nichts so autobiographisch und so authentisch wie die Darstellung des mächtigen väterlichen Körpers im Vergleich zu seinem eigenen schmächtigen Körper. Und das lenkt die Aufmerksamkeit auf die wichtige Rolle, die in Kafkas autobiographischen Texten sein eigener Körper spielt, nämlich, dass sein Selbstbild förmlich von seinem Körper beherrscht zu sein scheint.

Heidi Gidion führte zahlreiche Beispiele aus Kafkas Texten an, aus denen sowohl die Dominanz der Bilder als auch die Dominanz des Körperlichen deutlich wird. „Schon hielt er das Geländer fest, wie ein Hungriger die Nahrung“ (Das Urteil). „Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele“ (aus einem Brief an die Verlobte). „An seiner rechten Seite, in der Hüftgegend, hat sich eine handtellergroße Wunde aufgetan. Rosa, in vielen Schattierungen, dunkel in der Tiefe, hellwerdend zu den Rändern, zartkörnig, mit ungleichmäßig sich aufsammelndem Blut, offen wie ein Bergwerk obertags“ (Ein Landarzt).

So ist das Werk Kafkas von drei großen Themen bewegt: Das Imaginäre im Alltäglichen, die Dominanz der Bilder und die Prägung der Texte durch das Körperliche. Deren Auswahl spiegelt sich wider in Kafkas Biografie, aber geht darin nicht auf. Andere zeitbezogene Ursachen können diskutiert werden.

Der eindrucksvolle Vortrag hinterließ zunächst eine Sprachlosigkeit beim Auditorium. Einige Zuhörer formulierten ihre Bewunderung für die Dichte des Vortrages. Es wäre lohnend, weiteren Hypothesen zu der Frage nachzugehen, warum Kafka so schrieb und worin die Faszination der Texte auch für die heutige Generation liegt.


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Bipersonalität

Psychophysiologie und anthropologische Medizin. Paul Christian zum 100. Geburtstag. Beiträge zur Medizinischen Anthropologie, Bd. 5. Herausgegeben von Wolfgang Eich unter Mitwirkung von Rainer-M.E. Jacobi. Königshausen & Neumann, Würzburg 2014, 304 Seiten, 39,80 Euro

Der vorliegende Band enthält Beiträge in Erinnerung an den Heidelberger Psychophysiologen und Kliniker Paul Christian, die zum größten Teil auf Vorträge zurückgehen, die im November 2010 bei einem von der Psychosomatischen Klinik der Heidelberger Universität ausgerichteten Symposium zum 100. Geburtstag von Paul Christian gehalten wurden.

Auch wenn es nicht üblich ist, dass ein am Band beteiligter Autor eine Rezension schreibt, so mag es gleichwohl im vorliegenden Fall gute Gründe geben. So handelt es sich um Texte, die sich mitunter schwer erschließen. Dies hat nicht nur mit der deutschen Sprache zu tun, der heute nur noch wenige Wissenschaftler kundig sind, es hat vor allem mit dem Werk Paul Christians zu tun, das zu seinen Lebzeiten nur wenig über den deutschen Sprachraum hinausreichte. Daher wird sich dieser Band auch kaum in den großen Bibliotheken und medizinischen Forschungsinstitutionen außerhalb Deutschlands finden. Unsere Besprechung will also weniger der Kritik und dem Lob dienen, als vielmehr den Versuch unternehmen, auf den ideengeschichtlichen Rang dieser Publikation hinzuweisen.

Es handelt sich um einen Band der Schriftenreihe „Beiträge zur Medizinischen Anthropologie“, die im Auftrag der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft seit 1999 von dem Biochemiker Friedrich Cramer (1923–2003), dem Neurologen Dieter Janz (1920–2016), dem Biologen Ernst Ulrich von Weizsäcker und dem Philosophen Reiner Wiehl (1929–2010) besorgt wird. Mit dem Namen Viktor von Weizsäcker verbindet sich eine besondere Tradition medizinischen Denkens in Deutschland, die der spanische Medizinhistoriker Pedro Lain Entralgo als „Heidelberger Schule der Medizin“ bezeichnete. Deren Bedeutung reicht weit über den Bereich medizinischer Klinik und Forschung hinaus; am deutlichsten wird sie wohl mit dem von Weizsäcker geprägten Begriff der „Medizinischen Anthropologie“ beschrieben. Die Vertreter dieser Schule sind indes von sehr unterschiedlicher Art, sie unterscheiden sich nicht nur in ihren Themen und Perspektiven, sondern waren mitunter auch in ihren Persönlichkeiten einander fern. Dennoch wird man sagen können, dass Paul Christian als Nachfolger auf dem Lehrstuhl Viktor von Weizsäckers auf exemplarische Weise zusammenführte, was den Kern dieser Schulbildung ausmacht und überdies neue Anschauungen und Konzepte beitrug, die noch heute in vielen Teilen der Welt als Neuheiten gelten – denn sein Werk und seine Denkungsart waren weder in Nordamerika noch in anderen Ländern hinreichend bekannt.

Bei Eröffnung des genannten Symposiums zum 100. Geburtstag von Paul Christian hatte ich Gelegenheit, einen Überblick zu Forschungsprogramm und Theoriebildung, aber auch zur Persönlichkeit und Lebenssituation meines hoch geschätzten Lehrers zu geben. Grundlegend hierfür waren die vielen Gespräche, die ich mit ihm in den Jahren nach seiner Emeritierung führen konnte. Hierbei inspirierten mich nicht nur seine großartige Bescheidenheit und die Aufrichtigkeit, in der er von den Wechselfällen der beruflichen Lebenswege seiner Kollegen und Freunde sprach, sondern vor allem war es das Glück, an der Herausbildung seines Spätwerkes beteiligt zu sein. Seine psychophysiologischen Forschungen führten in Fortsetzung der von Weizsäcker vertretenen „Allgemeinen Klinischen Medizin“ zum Entwurf einer „Anthropologischen Medizin“, die sich letztlich als eine Metatheorie der Psychosomatik erweisen sollte. Neben dem Abdruck meines damaligen Vortrages (in deutscher und in spanischer Sprache) finden sich eine Reihe von Texten in diesem Band, die sowohl aus eigener Erfahrung der Mitarbeit wie auch aus der Perspektive gegenwärtiger klinischer Forschung bzw. ideengeschichtlicher Rekonstruktion einen faszinierenden Eindruck von der Denkungsart und dem geistigen Profil Paul Christians vermitteln. Ein leitendes Konzept hierbei ist die Formel von der „Theoretischen Pathologie“ ̶ hiermit wird eine methodische Brücke von den konkreten pathophysiologische Experimenten hin zu Grenzfragen der Medizin geschlagen.

Besonders dankbar war ich für die Möglichkeit, den späten Entwurf seiner „Anthropologischen Medizin“ dann endlich für den Universitätsverlag in Santiago de Chile ins Spanische übersetzen zu dürfen. Denn das überraschend Moderne an diesem Entwurf liegt in einer transdisziplinären Offenheit, die neben neueren klinischen Konzepten (z. B. Stress-Forschung) auch die Entwicklungen in den Geisteswissenschaften (z. B. die Leibphänomenologie bei Merleau-Ponty) für eine zeitgemäße medizinische Theorie nutzbar macht. Ein besonders markantes Beispiel für die Kreativität des Christianschen Denkens ist seine bereits im Jahr 1949 gemeinsam mit Renate Haas veröffentlichte Studie zu „Wesen und Formen der Bipersonalität“, mit der er wohl als erster die „Grundlagen für eine medizinische Soziologie“ skizzierte. Auch diese bis heute wegweisende Untersuchung konnte ich als Monographie für die „Acta Bioethica“ des interdisziplinären Zentrums für Bioethik an der Universität Chile ins Spanische übersetzen (vgl. hierzu die vorzüglich bearbeitete Bibliographie zu Paul Christian im vorliegenden Band).

Zum Lebensweg von Paul Christian gehört auch, wie bei allen anderen seiner Generation, das Erlebnis und die Erschütterung des Zweiten Weltkrieges und des Zusammenbruchs einer politischen Ideologie, deren Menschheitsverbrechen bis in die Gegenwart nachwirken. Aber auch den Ambivalenzen dieser Zeit, einerseits die großartige Herausforderung der gemeinsamen Arbeit mit Viktor von Weizsäcker im Neurologischen Institut der Universität Breslau und dem dortigen Lazarett für Hirnverletzte, und andererseits die Einbindung in die bestehende politische Ordnung, gilt die Aufmerksamkeit des vorliegenden Bandes. Paul Christians Grundlegung einer medizinischen Soziologie, seine Studien zur Gemeinschaftlichkeit von Arbeit und Sport werden vor diesem Hintergrund nicht nur auf neue Weise verständlich, sondern erlangen eine kulturkritische Dimension. [ 1 ]

Fernando Lolas Stepke, Santiago de Chile


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Exzentrische Positionalität

Studien zu Helmuth Plessner von Joachim Fischer. Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2016, 415 Seiten, 39, 90 Euro

Die Grundlagen von Viktor von Weizsäckers „Neuer Medizin“, dem Doppelprogramm von Medizinischer Anthropologie und Anthropologischer Medizin, haben ab Mitte der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts nicht zuletzt durch die Kenntnis des Werks und der Person von Max Scheler ihre besondere Gestalt gewonnen. [ 2 ] Dieser war ihm durch seine Freundschaft mit Weizsäckers Schwager Ernst Robert Curtius auch persönlich wohl vertraut.

Der Einfluss Schelers – die Absage an die lebensfremde Nüchternheit der Kantischen Rationalität – ist in Weizsäckers Werk trotz Differenzen auf den ersten Blick deutlich; [ 3 ] weniger leicht erkennbar ist der Einfluss Plessners, dem zweiten Begründer des Denkansatzes der Philosophischen Anthropologie. Auch dieser war Weizsäcker persönlich (Kölner Treffen 1927 zusammen mit Scheler), durch wissenschaftliche Kontakte (Aufsatz-Dialog aus den Jahren 1922/23, Weizsäckers Mitarbeit an Plessners Zeitschriftenprojekt „Philosophischer Anzeiger. Zeitschrift für die Zusammenarbeit von Philosophie und Einzelwissenschaft“) sowie durch Kenntnis dessen Werkes gut bekannt.

Gleichwohl lassen sich trotz erheblicher Unterschiede (in Herkommen, religiöser Fundierung und theologischer Argumentation sowie Nähe bzw. Distanz zur Psychoanalyse) vielerlei begriffliche Ähnlichkeiten im systematischen Ansatz ihrer grundlagentheoretischen Reflexionen nicht übersehen: wie z. B. Rationalitätskritik, Anticartesianismus, Differenz von Körper und Leib, essentiell biologische und zugleich soziale Bestimmung des Menschen.

Das vorliegende Buch des Plessner-Forschers Joachim Fischer versammelt 20 zwischen 1990 und 2014 erstpublizierte Aufsätze, die sich dem weiten Spektrum der vom Ansatz der Plessnerschen Philosophischen Anthropologie erfassten Aspekte der menschlichen Lebenswelt (Natur, Gesellschaft, Geschichte, Kunst) in ihrem zeitgeschichtlichen, wissenschaftlichen und auch literarischen Kontext zuwenden und überdies der aktuellen Bedeutung des Primatenforschers und Kognitionspsychologen Tomasello für die von Plessner formulierten Fragen und Thesen widmen. Im Zentrum aller Texte und damit des spezifisch Plessnerschen Ansatzes steht das philosophische Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Dessen Fundament liegt in einer philosophischen Biologie und der von der argumentativen Konstruktion bedingten Konsequenz des Begriffes der „exzentrischen Positionalität“. Dieser markiert einerseits die Differenz zum „nur-natürlichen“ Tierwesen und impliziert andererseits die Möglichkeit des Körper-Leib-Wesens Mensch, in jeder Beziehung „neben sich treten“ und damit auch den fundamentalen Doppelaspekt von Körper (den man hat) und Leib (der man ist) im Lebensvollzug verwirklichen zu können.

Eine Vertiefung in die vorliegenden Aufsätze Fischers, in denen dieses Hauptwerk zusammen mit weiteren zentralen Texten, wie „Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes“ und „Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens“, philosophisch gedeutet und in seinen zeitgeschichtlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen subtil interpretiert wird, kann dazu verhelfen, auch die sinnesphysiologischen, naturphilosophischen und anthropologischen Grundlagen des Weizsäckerschen Werkes in ihrem historischen Zusammenhang differenzierter als bisher zu beurteilen.

Die nach reflexiver Auflösung und konkreter Einbettung in die praktische Arbeit des Arztes verlangende Kontraposition zweier von Weizsäcker formulierter Antworten auf die allgemeine Frage nach der Ursache einer Krankheit, nämlich zum einen: „Mit der Natur wird hier ein Menschliches verfehlt“ und zum anderen: mit der „Nicht-Natur wird etwas Menschliches verfehlt“, [ 4 ] lässt sich zwanglos mit der Grundeinsicht der Philosophischen Anthropologie Plessners verbinden. Insofern nämlich bei Plessner „Philosophische Anthropologie … ein tiefer Einstieg in die Welt des Naturalismus (ist), ohne selbst ein naturalistischer Ansatz zu sein“ ̶ so die Formulierung von Joachim Fischer (S. 305). Das Gespräch zwischen Medizinischer (Weizsäcker) und Philosophischer (Plessner) Anthropologie hat gerade erst begonnen.

Bernhard Helmut Schmincke, Detmold


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Karl Jaspers Korrespondenzen

3 Bände (Philosophie, Psychiatrie/Medizin/Naturwissenschaften, Politik/Universität). Herausgegeben im Auftrag der Karl Jaspers-Stiftung von Matthias Bormuth, Carsten Dutt, Dietrich von Engelhardt, Dominic Kaegi, Reiner Wiehl und Eike Wolgast. Wallstein, Göttingen 2016, 2292 Seiten, 99,00 Euro

Abgesehen von den wenigen eigenständigen Editionen zum Briefwechsel mit Hannah Arendt, Karl Heinrich Bauer und Martin Heidegger, die überdies einem speziell interessierten Leserkreis vorbehalten blieben, fand Karl Jaspers als Briefschreiber bislang wenig Beachtung. [ 5 ] Angesichts seiner wirkmächtigen und streitbaren Einlassungen in den disziplinär weit geschiedenen aber gleichwohl eng verwandten Bereichen der Medizin, der Philosophie und der Politik, muss dies verwundern. Um so mehr, als einem Diktum Hans-Georg Gadamers folgend, das Werk von Karl Jaspers als „das persönlichste und individuellste“ gelten müsse, das „unsere Zeit (…) im Umkreis des Philosophierens kennt.“ [ 6 ] Ein Werk also, das in besonderer Weise der Aufschlüsse und Hintergründe bedürfte, die man gemeinhin mit der Lektüre von Briefen zu gewinnen sucht. Insofern ist es den glücklichen Umständen einer großzügigen Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Karl Jaspers-Stiftung (Basel) zu danken, wenn nunmehr eine schmerzliche Lücke in der Wahrnehmung des bedeutenden Philosophen und politischen Autors Karl Jaspers geschlossen werden kann. [ 7 ]

Und in der Tat, es gibt einen großen Bestand nachgelassener Briefe von und an Jaspers. So verzeichnet das Repertorium zum Nachlass von Karl Jaspers im Deutschen Literaturarchiv Marbach etwa 8 000 Korrespondenten, so dass man wohl von insgesamt um 35 000 Briefen ausgehen darf, die im engeren und weiteren Sinn einschlägig sind. Die vorliegende Edition bietet daher trotz ihrer über 2 000 Seiten nur eine kleine Auswahl. Wobei man sehen muss, dass sowohl die genannten eigenständigen Briefausgaben als auch viele verstreut publizierte Briefwechsel, wie z. B. mit Carl J. Burckhardt, Gustav Radbruch, Albert Schweitzer oder Max Weber hier keine Berücksichtigung finden. Die Zusammenführung in eine weitgehend vollständige Briefsammlung erfolgt im Rahmen der Jaspers-Gesamtausgabe, wie sie seit 2012 von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften betreut wird.

Trotz der Fülle des nachgelassenen Materials, wie es nun erstmals exemplarisch mit dieser auf drei große Bereiche verteilten Edition präsentiert wird, bleibt eine gewisse Irritation. An mancherlei Stellen vermisst man in den Korrespondenzen mit bedeutenden Zeitgenossen jene großen Briefe, die dem Autor selber wie vor allem dem Leser Einblicke in die geistige Genese leitender Gedanken oder großer Schriften vermitteln. Es gibt diese Briefe, die den inneren Menschen beim Entstehen der äußeren Werke zeigen, aber sehr oft fehlt dieser Korrespondenzanteil von Karl Jaspers, was angesichts grundsätzlicher und auch intimer Entfaltungen der Briefpartner einen großen Mangel ausmacht (besonders zu beklagen ist dies bei dem hochbegabten jüdischen Heidegger-Assistenten Werner Brock, aber auch bei Gerhard Krüger und Lieselotte Richter, der ersten Frau auf einem Philosophie-Lehrstuhl in Deutschland ̶ ganz anders und sehr engagiert der Briefwechsel mit Heinrich und Karl Barth sowie mit Julius Ebbinghaus). Genau dies spricht Dominic Kaegi in seiner Einleitung zum Philosophie-Band in aller gebotenen Deutlichkeit an: „Jaspers war kein passionierter Briefschreiber.“ Dies gründet zunächst, worauf sein letzter Assistent und Nachlassverwalter Hans Saner hinweist, in den massiven zeitlichen Einschränkungen, mit denen sich Jaspers seiner chronischen Krankheit wegen arrangieren musste. Die Korrespondenz erfolgte „gleichsam nebenher“ ̶ und dies sei oft zu spüren. Sein Briefstil wirke daher „unspektakulär und ambitionslos, manchmal nachlässig und schroff bis zur Brüskierung.“ [ 8 ] Den Briefen fehlt daher etwas von dem, was Karl Jaspers eher in seinen Werken zu leisten versucht, als er nämlich dort „dichtet, um sich zu begreifen, um seine Wege zu erhellen“. [ 9 ] So ist es zumindest fraglich, inwieweit und an welchen Stellen uns die Briefe jene werkgenetischen Aufschlüsse geben, wie man sie zumeist erwartet.

Mag diese Fraglichkeit bei einigen philosophischen Korrespondenzen sogleich ins Auge fallen, bei den medizinischen Korrespondenzen stehen die Dinge anders. Hier sind es vor allem die Kontroversen um die beiden für die neuere Medizingeschichte bedeutsamen Gründungen, nämlich die der Psychoanalyse und der Psychosomatischen Medizin, die den Medizin-Band der vorliegenden Edition zu einer wertvollen Quelle machen. Denn weniges stört das Bild des besonnenen, aus einer sittlichen Lebenshaltung heraus zum Denken gefundenen Gelehrten so sehr, wie seine gelegentlich bittere Polemik gegen die Psychoanalyse und die Psychosomatik. Und gerade hierzu wünscht man sich ein näheres Verständnis.

Seitens der Herausgeber, dem Oldenburger Ideenhistoriker Matthias Bormuth und dem Lübecker Medizinhistoriker Dietrich von Engelhard liegt indes der besondere Wert dieses Bandes noch an anderer Stelle. Die erfolgreiche philosophische Karriere und die für Jaspers selbst überraschende Rolle einer öffentlichen Leitfigur für die politisch-moralische Gewissensbildung in der frühen Bundesrepublik, ließ den Arzt und medizinischen Forscher, der Jaspers einst gewesen ist, nahezu vergessen. Vor allem geht es hierbei um die 1913 in erster Auflage erschienene Allgemeine Psychopathologie, deren völlige Neubearbeitung in den Jahren 1941/42 den beruflichen Wandel ihres Autors zwar zu erkennen gibt und dennoch oder vielleicht gerade deshalb „als methodologischer Klassiker wahrgenommen wird.“ [ 10 ] Die jeweils über vier Jahrzehnte sich erstreckenden Korrespondenzen mit seinen ärztlichen Fachkollegen Hans Walther Gruhle, Kurt Kolle und Kurt Schneider sind nicht nur für den Weg des medizinischen Denkens des zum Philosophen gewordenen Arztes Karl Jaspers und damit wissenschaftstheoretisch höchst aufschlussreich, sondern sie zeigen auch nicht jenen bei den philosophischen Korrespondenzen erwähnten Mangel. Es sind großartige, aus dem Dialog wachsende Lebens- und Denkbilder, die ergänzt um die gleichfalls intensiven Korrespondenzen mit dem Psychotherapeuten Alexander Mitscherlich, dem Internisten Curt Oehme und dem Theologen Oskar Pfister viel zur Klärung jener bitteren Polemik beitragen, die das Verhältnis zwischen Karl Jaspers und Viktor von Weizsäcker stark belastet hat. [ 11 ]

Nun würde man meinen, dass der vom Umfang her zwar eher kleine aber über die politisch wie geistig-kulturell folgenreichsten Jahre der neueren Geschichte, nämlich von 1920 bis 1948 währende Briefwechsel zwischen den beiden ehemaligen Berufskollegen gerade hierzu von Bedeutung ist ̶ diese Erwartung wird überraschend enttäuscht. Es gibt lediglich eine behutsam zurückhaltende aber sehr eindringliche Reaktion Weizsäckers auf die Schrift Die Geistige Situation der Zeit, mit der Karl Jaspers 1931 höchst wirkungsvoll auf ein „diffuses Orientierungsbedürfnis“ antwortet und die Position der „Existenzphilosophie“ erstmals in die Öffentlichkeit bringt. [ 12 ] Allerdings verbunden mit einer scharfen Absage an „Marxismus, Psychoanalyse und Rassentheorie“, die allesamt und gleichermaßen durch „eigentümlich zerstörende Eigenschaften“ gekennzeichnet seien. [ 13 ] Weizsäcker hoffte nun, durch Übersendung des Manuskriptes seiner Studie „Körpergeschehen und Neurose“ hierzu mit Jaspers ins Gespräch zu kommen. [ 14 ] Doch in diesem Briefwechsel spielt die Kontroverse zur Psychoanalyse keine Rolle, stattdessen kommt die dramatische Situation von Karl Jaspers und dessen Ehefrau Gertrud auf beklemmende Weise in den Blick. Die seit 1942 dem Ehepaar drohende Deportation bewog Jaspers, über Weizsäckers Vermittlung bei dessen Bruder Ernst im Auswärtigen Amt vorstellig zu werden, um ̶ leider erfolglos ̶ eine Emigration in die Schweiz zu befördern.

Neben dem reich kommentierten Briefwechsel mit Alexander Mitscherlich und der universitären Debatte um die Einrichtung eines „Instituts für Psychotherapie“ an der Heidelberger Universität [ 15 ] ̶ aus dem dann schließlich die erste Klinik für Psychosomatik in Deutschland wurde ̶ , gibt es noch einen ganz anderen Ort, an dem die große und schmerzliche Differenz zwischen Jaspers und Weizsäcker zur Sprache kommt. Es ist der Briefwechsel mit dem Physiker und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker. Er setzt recht eigentlich im Juli 1953 ein und gilt bis auf wenige andere Stücke einem Aufsatz von Karl Jaspers, der unter dem Titel „Arzt und Patient“ für die interdisziplinäre Zeitschrift Studium Generale vorgesehen war. [ 16 ] Die dort erfolgende polemische Verwerfung der Ansichten seines Onkels Viktor war für Carl Friedrich von Weizsäcker Anlass zum Gespräch mit Jaspers, zumal er als Mitherausgeber in der Verantwortung für die Inhalte der Zeitschrift stand. Auch wenn dieses Gespräch zunächst ergebnislos blieb, der Text von Jaspers unverändert erschien und Weizsäcker seine Mitherausgeberschaft niederlegte, verdient es bis heute größte Aufmerksamkeit. Erstmals wird der geistesgeschichtliche Horizont deutlich, in dem die von Viktor von Weizsäcker beabsichtigte Reform der Medizin steht: es geht um nicht weniger als eine Revision der Prämissen neuzeitlicher Denkungsart. Damit stehen die großen Themen der Objektivität, der Rationalität und der Kausalität zur Debatte ̶ und dies zunächst und vor allem am Beispiel des Umgangs mit dem kranken Menschen. [ 17 ]

Der Philosoph, Publizist und spätere Politologe Dolf Sternberger (1907–1989), der sowohl Karl Jaspers als auch Viktor von Weizsäcker zu seinen geliebten Lehrern zählte, war wohl der einzige, dem die Differenz im Denken der beiden Gelehrten zur lebenslangen Aufgabe wurde ̶ gleichsam als „ein unendlicher Disput“. Zumindest aber ist ihm eine zutreffende Darstellung dieses verbindenden Getrenntseins gelungen. Er versuchte es „an ihrem Verhältnis zur Krankheit, zur Krankheit als einem Merkmal des Menschenwesens“, zu charakterisieren: „Weizsäcker war immer wie versenkt und versunken in die Dialektik von Leib und Seele, in die Krankheit des Kranken als Geschick und Geschichte. Jaspers registrierte Krankheiten, einschließlich der eigenen, aus der kühlen Distanz der Vernunft. Jaspers bestand durchweg auf dem Objektcharakter des wissenschaftlichen Erkenntnisgegenstandes, Weizsäcker hat sich ̶ mit seinen eigenen Worten zu reden ̶ die Einführung des Subjekts in die anthropologische Erkenntnis zur Maxime gemacht.“ [ 18 ]

So verwundert es nicht, dass der Briefwechsel mit Dolf Sternberger nicht nur den Band der Korrespondenzen zu Politik und Universität dominiert, sondern überhaupt der an Jahren und Briefen umfänglichste der Edition ist. Er überspannt die Jahre von 1927 bis 1968 und enthält auf nahezu 200 Seiten etwas mehr als 200 Briefe und Karten. Aber auch in den noch unveröffentlichten Briefen von und an Viktor von Weizsäcker, um dessen Sammlung und Erschließung sich der kürzlich verstorbene Berliner Neurologe Dieter Janz gemeinsam mit dem Saarbrücker Theologen und Psychotherapeuten Peter Achilles große Verdienste erworben hat, spielt der Briefwechsel mit Dolf Sternberger eine herausragende Rolle. Weniger seines Umfanges und seiner Zeitdauer als vielmehr des besonderen Umstandes wegen, ein wirklicher Briefwechsel zu sein. Denn bei Weizsäcker kommt die Erschwernis hinzu, dass viele Gegenbriefe nach der Rückkehr von Breslau als verloren gelten müssen. Verwundern darf nun allerdings, sofern man dem Personenverzeichnis folgt, dass im Briefwechsel zwischen Dolf Sternberger und Karl Jaspers der Name Weizsäckers keine Erwähnung findet – ein weiterer Beleg für den behutsamen Weg Sternbergers zwischen seinen „Meistern“, zu denen ja mit Hannah Arendt und Martin Heidegger weitere große Briefpartner von Karl Jaspers gehörten.

Aber auch andere Schüler von Karl Jaspers, wie Rolf Hochhuth und Golo Mann, oder prominente Journalisten wie Marion Dönhoff, Benno Reifenberg und Rudolf Augstein sind in diesem bemerkenswerten und umfangreichsten Band (860 Seiten) der vorliegenden Edition vertreten. Freilich, von besonderem Interesse – nicht zuletzt mit Blick auf das Verhältnis zwischen Jaspers und Weizsäcker ̶ sind die vielen Briefe und Dokumente zu dem bis heute sonderbar anmutenden und gleichwohl denkwürdigen Streit um das rechte Bild von Goethe, wie er von Ernst Robert Curtius furios in Szene gesetzt wurde. [ 19 ] Hierzu sei auch auf den eindrucksvollen und menschlich anrührenden Briefwechsel mit dem Frankfurter Goetheforscher Ernst Beutler im Philosophie-Band der Edition verwiesen.

Doch über alle biographischen und werkgeschichtlichen Konstellationen und Einsichten hinweg, vermittelt diese großartige Briefauswahl auch ein erstes Verständnis sowohl für den skeptischen Blick, den Jaspers auf die geistig-kulturelle Entwicklung der Bundesrepublik warf wie auch auf die Gründe für sein eigenes Scheitern an den Realitäten des politischen Alltags. [ 20 ]

Rainer-M.E. Jacobi, Bonn


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Karl Jaspers-Haus Oldenburg

Man möchte es einen Akt historischer Wiedergutmachung nennen, wenn der von den Nationalsozialisten amtsenthobene und dann in die Schweiz ausgewanderte Philosoph Karl Jaspers (1883–1969) nunmehr in Gestalt seiner komplett erhaltenen Bibliothek in seine Geburtsstadt Oldenburg zurückkehrt.

Doch diese Rückkehr ist nicht nur von historisch-politischer Bedeutung, sie ist auch und vor allem ein großartiges Zeugnis mäzenatischen Geistes. Nach vielen Bemühungen der in Basel ansässigen Karl-Jaspers-Stiftung und der 1990 von Rudolf Prinz zur Lippe in Oldenburg begründeten Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit sowie der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg selbst, war es dann der Anlass des 125. Geburtstages im Jahr 2008, der nicht nur den philosophischen Denker und politischen Autor Jaspers zu würdigen half, sondern mehr noch ein neues bürgerschaftliches Verhältnis der Stadt zu Ihrem berühmten Sohn und Ehrenbürger entstehen ließ.

Gemeinsam mit dem großen regionalen Energieversorger EWE und dessen Vorstandsvorsitzenden, der Stiftung Niedersachsen und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) konnte die Rückkehr und sachgemäße Betreuung der Bibliothek in ein für die Oldenburger Universität höchst bedeutsames akademisch-öffentliches Konzept eingebunden werden. [ 21 ] Hierzu gehören neben der Schaffung eines geeigneten Bibliotheksraumes mit großzügigen Arbeits- und Tagungsmöglichkeiten, die Gründung der Karl Jaspers-Gesellschaft und die Einrichtung einer Stiftungsprofessur als des geistig-organisatorischen Scharniers zwischen der neu entstehenden Karl Jaspers Forschungsstätte und dem Philosophischen Institut der Universität. [ 22 ] Der neue Ort der Jaspers-Forschung in Deutschland gerät damit nicht nur in enge Nachbarschaft zum Hannah Arendt-Zentrum, sondern auch zur Adorno-Forschungsstelle und dem Erich Auerbach-Archiv ̶ Institutionen, die bisher schon für das besondere Profil der Oldenburger Universität standen.

Seit dem Spätherbst 2014 gibt es mit dem Jahrbuch der Karl Jaspers-Gesellschaft Offener Horizont ein publizistisches Organ der besonderen Art. Schon mit der Gestaltung des Umschlages, den alljährlich die Reproduktion eines prominenten Kunstwerkes schmückt, wird jener offene Horizont deutlich, der dieser Jahrbuchreihe nicht zufällig den Titel gibt. Das breit angelegte Denken von Karl Jaspers gibt Anlass und Rechtfertigung für ein publizistisches Profil, das die Geisteswissenschaften mit der literarisch-künstlerischen Welt verbindet. Eindrücklich und programmatisch zugleich stehen hierfür die Namen des Beirates: Ulrich von Bülow (Marbach), Wolfgang Frühwald (Augsburg), Dieter Henrich (München), Ulrich Keicher (Warmbronn) und Sebastian Kleinschmidt (Berlin). Die angenehme und anregende Atmosphäre der Veranstaltungen im Karl Jaspers-Haus wiederholt sich in der soliden und anspruchsvollen Gestaltung des Jahrbuches. So findet sich in dessen ersten Band der Festvortrag des Literaturwissenschaftlers und langjährigen Präsidenten der DFG Wolfgang Frühwald, mit dem die feierliche Eröffnung des Karl Jaspers-Hauses am 7. September 2013 erfolgte. [ 23 ] Auch alle anderen Vorträge und Veranstaltungen des reichhaltigen Oldenburger Jaspers-Programms finden ihren redaktionell gepflegten Niederschlag in den Jahrbüchern.

Es war also nur noch eine Frage der Zeit, bis sich Gelegenheit finden würde, auch die Beziehung zwischen Karl Jaspers und Viktor von Weizsäcker zu einem Thema des Karl Jaspers-Hauses zu machen. Beide waren Mitglieder der Heidelberger Medizinischen Fakultät, mit dem Unterschied, dass Jaspers aus seiner philosophischen Leidenschaft einen Beruf werden ließ und Weizsäcker bei seinem ärztlichen Beruf blieb, um die Leidenschaft seines Philosophierens erhalten zu können. Dieser Unterschied führt dazu, dass es gerade angesichts der Verhältnisse zwischen Medizin und Philosophie, näher hin mit Blick auf das disziplinäre Selbstverständnis der Medizin, zu weitreichenden Differenzen zwischen den beiden Gelehrten kommt. [ 24 ] Der intellektuelle Reiz und eine bis in die aktuellen Debatten reichende wissenschaftspolitische Brisanz macht diese Differenzen zu einem spannenden Arbeitsfeld.

Vom 23. bis 25. Juni 2016 kam es auf Anregung von Matthias Bormuth, dem Leiter des Karl Jaspers-Hauses und Inhaber der Heisenberg-Professur für Vergleichende Ideengeschichte an der Universität Oldenburg, zu einem Symposium zu Werk und Wirkung Viktor von Weizsäckers. Als äußerer Anlass diente die gemeinsam mit der Karl-Jaspers-Klinik Oldenburg getragene Karl-Jaspers-Gastprofessur, die im Sommersemester 2016 unser Mitglied Martin Sack (München) innehatte. Neben Vorträgen zur Psychosomatik und Psychotherapie bei Weizsäcker (Martin Sack), vergleichenden Betrachtungen zu Reinhart Koselleck (Rainer-M.E. Jacobi) und Ernst Jünger (Sebastian Kleinschmidt) stellte der Berliner Neurologe und Gründungsvorsitzende unserer Gesellschaft, Dieter Janz, einige eindrucksvolle Briefe Viktor von Weizsäckers an seinen Schüler Peter Vogel vor, der dann zum prägenden Lehrer von Dieter Janz werden sollte. [ 25 ]


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Nachrichten

In der Nacht zum 25. Dezember des vergangenen Jahres ist der Berliner Neurologe und Epileptologe Dieter Janz im 97. Lebensjahr verstorben. Als Gründungsvorsitzender und Ehrenmitglied war er wie kein anderer mit der Geschichte und dem Charakter der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft verbunden. Aber bereits seine ärztlichen Anfänge an der Heidelberger Nervenklinik und sein seither verfolgtes großes Lebensthema eines besseren Verstehens der Epilepsien waren von der Person und dem Werk Viktor von Weizsäckers geprägt. Er hat dies selbst sehr eindrucksvoll in einem großen Interview beschrieben, das er im Frühjahr 2009 dem damaligen Chefredakteur der Zeitschrift „Sinn und Form“ Sebastian Kleinschmidt und dessen Stellvertreter Matthias Weichelt gewährt hat. [ 26 ] In der nächsten Ausgabe der „Mitteilungen“ werden neben den Beiratsmitgliedern unserer Gesellschaft, die Nachfolger im Amt des Vorsitzenden und enge Wegbegleiter im Lichte ihrer je eigenen Erfahrungen etwas vom Reichtum und Vermächtnis dieses großen Arztes zu vermitteln suchen.

Im vergangenen Jahr sind aus den Reihen unserer Mitglieder auch der Gymnasiallehrer Lutz Gerber, die Neurologin Mechthilde Kütemeyer und der Psychosomatiker Burghard F. Klapp verstorben. Gemeinsam mit dem in diesem Mai verstorbenen Physiker Theodore von Haimberger gilt ihnen allen unser ehrendes Gedenken.

Impressum

Verantwortlich für diese Rubrik:

Peter Henningsen, München

Redaktion:

Rainer-M.E. Jacobi, Bonn


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