Zeitschrift für Palliativmedizin 2018; 19(01): 16-20
DOI: 10.1055/s-0043-124422
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Doppelkopf: Harald Retschitzegger und Bettina Pußwald

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Publication Date:
02 January 2018 (online)

Harald Retschitzegger

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Zur Person

Geboren 1964 in Micheldorf in Oberösterreich. Aufgewachsen in Linz, Medizinstudium in Wien, Promotion 1992. Beginn der aktiven Beschäftigung mit Hospizbewegung und Palliativmedizin 1993 in Oberösterreich. Ausbildung zum Arzt für Allgemeinmedizin, Gründung eines Palliativkonsiliardienstes 1996. Aufbau der Palliativstation im Krankenhaus Ried im Innkreis, dortige Leitung vom Beginn 1998 bis 2011. Diploma in Palliative Medicine, Cardiff, University of Wales. Akademischer Palliativexperte. Master of Science (Palliative Care). Lehrgang für Krankenhausmanagement.

Seit 2001 Lehrbeauftragter an der Medizinischen Universität Wien. Seit 2012 wieder in Wien lebend. Zusatzfacharzt für Geriatrie. Von 2012 – 2014 Ärztlicher Leiter der Caritas Wien. Seit 2014 vorwiegend in der Geriatrie tätig, seit Kurzem im Pflegewohnhaus Meidling der Stadt Wien, als Geriater, Palliativmediziner und Palliativbeauftragter.

Von 2010 – 2014 Vizepräsident, seit 2014 Präsident der OPG.

Seit 2015 Kolumnist in der medizinischen Wochenzeitung „Medical Tribune“ zu gesundheits- und gesellschaftspolitischen Themen. Zusätzlich zur OPG-Seite seit 2014 schreibe und rezensiere ich nun seit dem Vorjahr mit großer Freude hier in der Zeitschrift für Palliativmedizin zum – hoffentlich nicht nur für mich – so schönen Thema: „Lebensliteratur“.

Wie kamen Sie in Ihr jetziges Tätigkeitsfeld?

Aus „der erlebten Not heraus“ suchte ich von Beginn meiner ärztlichen Ausbildungszeit an nach Möglichkeiten, wie man mit schwer kranken, schmerzgeplagten und leidenden Menschen im Krankenhaus „anders“ umgehen könnte. „Bei mir erfahren die Patienten nicht, was sie haben!“ war einer der prägenden Sätze, mit denen ich von meinem ersten medizinischen Abteilungsleiter in die tägliche Arbeit eingeführt wurde. Gemeinsam mit einigen wenigen Verbündeten gründeten wir 1994 den ersten Hospizverein in Oberösterreich. Dann ging es Schritt für Schritt weiter. Mit der Betrauung zu Aufbau und Leitung der ersten oberösterreichischen Palliativstation 1998 ging ein Traum in Erfüllung! Es folgten viele Schritte in Oberösterreich und Österreich – und zeitweise auch darüber hinaus, so z. B. als österreichischer Vertreter Mitglied des „Committee of experts on the organisation of palliative care“ des Europarats, in Straßburg zu sein (2001 – 2002).Mit dem Wechsel nach Wien ergab sich immer mehr die Schwerpunktverlagerung hin zur Palliativen Geriatrie, wo ich mich auch jetzt hauptsächlich sehe.

Was wäre für Sie die berufliche Alternative?

Die verlockendste und am öftesten vermisste Alternative wäre Schauspieler – aber nur am Wiener Burgtheater. Da sich diese Option wahrscheinlich nicht mehr ausgehen wird, begnüge ich mich mit dortiger Komparsentätigkeit und kleinen Auftritten. Mit der Berufsalternative „Schriftsteller“ verhält es sich ähnlich – auch wenn hier ja vielleicht kleine Schritte in diese Richtung möglich sind. Zu guter Letzt: Buchhändler. Also jedenfalls: Literatur und Theater!

Wie beginnen Sie Ihren Tag?

Nach dem Läuten des Weckers verspüre ich wirklich meist rasch das Glück und freue mich dankbar über mein gutes Leben. Dann schalte ich das Radio ein, Ö1, den Kultur- und Qualitätssender ohne Werbung mit schöner Musik und sinnvollem Text. Dazu der erste und meist auch der zweite Kaffee. Wichtig ist mir auch die aktuelle Tageszeitung in gedruckter Form in Händen zu halten – meistens bin ich da aber schon in der U-Bahn …

Leben bedeutet für mich …

leben. Wirklich leben. Das Leben möglichst in jeder Minute zu spüren. Dankbar sein für das Glück. Dankbar für die viele Zeit, die ich schon gut leben darf. Intensiv leben, mit allen Sinnen. Liebe Menschen, gelingende Kommunikation. Herzklopfen und Hirnmarathon, Denken und Lieben, Lesen und Staunen, Theater und Träumen.

Sterben bedeutet für mich …

zu Ende gelebt haben. In diesem Leben zu Ende gelebt haben. Staunend erwarten, was noch kommt. Schon viele Menschen an ihrem Lebensende gesehen und mit ihnen gesprochen zu haben – und immer wieder Neues über das Menschsein, das Leben und das Sterben gelernt zu haben. Und immer wieder nichts davon wissen …

Welches Ziel möchten Sie unbedingt noch erreichen?

Ein Buch schreiben, oder mehrere. Mehr als einen Satz auf der Burgtheaterbühne sprechen dürfen. Mich immer weiter lernend verwandeln, wie Andre Heller es ausdrückt. Wenn möglich, alt werden.

Meine bisher wichtigste Lernerfahrung im Leben ist …

wie kostbar das Leben ist! Die Gespräche mit so vielen Menschen – und die so oft gehörte Trauer über ungelebtes Leben, falsche Prioritäten, vergeudete Lebenszeit. Durch die Begegnungen und die Kommunikation mit meinen PatientInnen hab ich das genussvolle, intensive und bunte Leben zu leben gelernt! Dafür werde ich ihnen bis an mein Lebensende dankbar sein! Das Leben ist keine Generalprobe. Es ist Aufführung! Jetzt – und jeden neuen Tag! Wie wunderbar.

Was würden Sie gern noch lernen?

Seit einigen Jahren lerne ich die griechische Sprache – leider lerne ich immer zu wenig. Mich irgendwann in Griechenland entspannt und herzensfroh mit den dort lebenden Menschen zu unterhalten, das wäre sehr schön.

Woraus schöpfen Sie Kraft für Ihre Arbeit?

Aus der Liebe zu meinem Lieblingsmenschen und zu meinen drei mittlerweile erwachsenen Kindern. Und natürlich aus der Literatur, dem Lesen. Und aus ganz vielen Theaterabenden, schönen interessanten Stücken, der Begegnung mit großartigen SchauspielerInnen auf der Bühne – und danach mit diesen in der Kantine.

Mit wem aus der Welt- oder Medizingeschichte würden Sie gern einmal einen Abend verbringen?

Mit Peter Handke, einem der feinsten Beobachter und größten Dichter unserer Zeit. Einem unglaublich interessanten, sanften, tiefgehenden und bis ins Innerste achtsamen, denkenden und fühlenden Menschen – und der all dies in einzigartiger Art und Weise in Sprache und Schrift wandeln kann. Von ihm können wir das lernen, was wir bei unseren PatientInnen sosehr brauchen: das ganz genaue und achtsame Beobachten und Hinspüren.Und mit André Heller: ähnlich genial wie Handke, nur schräger und lauter – und genau so tief und weise. Und nicht zuletzt mit Dame Cicely Saunders, der wir nahezu alles in Palliative Care zu verdanken haben! Bei meinem Besuch in St. Christopherʼs vor 20 Jahren war sie gerade im Krankenhaus wegen einer Knieoperation – und so lernte ich sie leider nicht mehr persönlich kennen.

Wenn ich einen Tag unsichtbar wäre, würde ich …

– mir fällt auf, dass ich diesen Wunsch noch nie hatte …!Wahrscheinlich, weil ich gern „ganz da“ bin. Wenn ich einen Tag unsichtbar wäre, würde ich mich vielleicht in die Hörsäle meiner Kinder setzen und zuhören und zusehen. Oder ins Parlament – und den GesundheitspolitikerInnen soufflieren. Oder einen Tandemsprung mit einem Fallschirmspringer machen – falls „unsichtbar sein“ unverwundbar machen würde.

Wie können Sie Bettina Pußwald beschreiben?

Bettina erscheint mir immer aufmerksam, engagiert, neugierig. Und für mich ist an ihr immer diese menschenliebende Grundhaltung spürbar, die immer wieder ansteckend und mutmachend ist für uns im Vorstand. Ich weiß gar nicht mehr genau, wann und wo wir uns erstmals getroffen haben. Aber ich bemerkte bei und an ihr von allem Anfang an die absolut intensive Beschäftigung mit den Menschen. Immer angetrieben von den Bedürfnissen und Nöten der Menschen. Sie hat mit ihrer Präsenz, ihrem Engagement und ihrer unermüdlichen Aktivität für etwas, ganz entschieden dazu beigetragen, dass die personell sehr oft unterrepräsentierte Profession der Sozialarbeit deutlich wahrgenommen und als unverzichtbarer Bestandteil funktionierender Palliativarbeit integriert worden ist – auch in Österreich. Da wir unser Tagungs- und Kongresspräsidium in der OPG immer interprofessionell, gemäß der „Saundersʼschen Trias“, besetzen, haben wir oft die Freude, Bettina als Kongresspräsidentin zu sehen, was sehr gut für die Sache und gut für die Menschen ist!

Wie beenden Sie Ihren Tag?

Die Antwort wird wahrscheinlich wenig überraschen: meist mit Lesen. In meinem Lesesessel sitzend, mit einem guten Buch – einer immer neuen Welt – in meinen Händen. Und vielleicht mit einem guten Bier. Und dann zärtlich umarmend und umarmt.

Gibt es etwas, das Sie gern gefragt worden wären, aber noch nie gefragt worden sind?

Ja: „Möchten Sie Ihr erstes Buch im Suhrkamp Verlag publizieren?“ und „Würden Sie gern bezahlt ein Jahr auf unserer griechischen Insel als ,Inselschreiber‘ verbringen?“Oder auch: „Könnte die OPG – ausgestattet mit allen Umsetzungskompetenzen und Ressourcen! – uns bitte helfen, rasch eine durchgängige, flächendeckende, ausfinanzierte und nachhaltige Inklusion von Palliative Care ins gesamte Gesundheits- und Sozialsystem zu machen?“ Drei Ja wären Ihnen sicher!