Hamostaseologie 2023; 43(02): 098
DOI: 10.1055/s-0043-1768489
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Orale Antikoagulation mit VKA: Nicht-CYP2C9-inhibierende SSRI einsetzen!

Bakker S. et al.
Selective Serotonin Reuptake Inhibitor Use and Risk of Major Bleeding during Treatment with Vitamin K Antagonists: Results of A Cohort Study.

Thromb Haemost 2023;
123: 245-254
 

    Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) erhöhen bei Patienten, die unter einer oralen Antikoagulation mit einem Vitamin-K-Antagonisten (VKA) stehen, das Risiko für Blutungskomplikationen. Eine aktuelle Studie bestätigte den Zusammenhang erneut und lieferte Details zu einzelnen Substanzgruppen der SSRI und VKA.


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    In der Literatur wird über drei mögliche Mechanismen berichtet, durch die SSRI das Hämorrhagierisiko unter einer oralen Antikoagulation mit einem VKA erhöhen könnten: 1. SSRI hemmen die Serotonin-Wiederaufnahme in Thrombozyten, was mit einer gestörten Thrombozytenfunktion einher gehen könnte; 2. SSRI könnten die Säuresekretion im Magen steigern, was das Risiko für obere gastrointestinale Läsionen erhöhen könnte, und 3. die SSRI Fluvoxamin und Fluoxetin interagieren mit VKA durch eine Inhibition von CYP2C9, was mit erhöhten INR-Werten einhergehen könnte. Bisherige Studien zu einer möglichen Erhöhung des Blutungsrisikos unter der gleichzeitigen Einnahme von VKA und SSRI fokussierten auf Warfarin und Acenocoumarol. Phenprocoumon könnte aber durch seine Metabolisierung durch sowohl CYP2C9 als auch CYP3A4 weniger anfällig für Wechselwirkungen mit SSRI sein.

    In die aktuelle Studie aus 2 Zentren in den Niederlanden wurden insgesamt 58918 Patientinnen und Patienten eingeschlossen, die zwischen 2006 und 2018 eine orale Antikoagulation mit einem VKA einnahmen. 1504 Studienteilnehmer wurden gleichzeitig mit einem SSRI und 395 mit einem trizyklischen Antidepressivum behandelt. 1182 Patienten begannen innerhalb des Studienzeitraums neu mit der SSRI-Einnahme (von diesen gingen 1175 Patienten in die Analysen ein) und 395 Patienten wurden neu auf ein trizyklisches Antidepressivum eingestellt. Die Berücksichtigung von Patienten mit der (Neu-) Einnahme eines trizyklischen Antidepressivum erfolgte im Sinne einer Negativ-Kontrollgruppe, um ein mögliches Indikationsbias im Rahmen der Depression nicht zu übersehen. 52% der Gesamtkohorte und 31% der SSRI-Anwender waren Männer. Das mittlere Alter lag in der Kohorte zu Studienbeginn bei 69 Jahren. Die häufigsten Indikationen für die Behandlung mit einem VKA waren Vorhofflimmern (56%) bzw. venöse Thrombembolien (27%) und bei 2% der Patienten lag ein mechanischer Klappenersatz vor. Ein Studienendpunkt waren INR-Werte ≥5 innerhalb von 2 Monaten nach Beginn der SSRI-Therapie; die Autoren nahmen hierfür ein Matching nach soziodemographischen und klinischen Faktoren mit jeweils 5 Patienten vor, die keinen SSRI einnahmen. Als weiterer Endpunkt wurden notwendige Dosisanpassungen des VKA unter der Behandlung mit dem SSRI definiert (Dosierung vor Beginn bzw. 2 Monate nach Beginn der SSRI-Therapie). Außerdem wurden die Daten im Hinblick auf schwerwiegende Blutungskomplikationen ausgewertet.

    In der Gruppe der Patienten, die neu mit einer SSRI-Therapie begannen, wurde bei 18% mindestens einmal innerhalb von 2 Monaten nach Behandlungsbeginn ein INR-Wert ≥5 gemessen, während dies in der gematchten Vergleichsgruppe nur bei 8% der Fall war (OR 2,41; 95%-KI 2,01-2,89; OR für SSRI mit CYP2C9-Inhibition 3,14; 95%-KI 1,33-7,43; OR für SSRI ohne CYP2C9-Inhibition 2,38; 95%-KI 1,98-2,86). Nach dem Neubeginn einer Behandlung mit einem trizyklischen Antidepressivum war das Risiko für einen INR-Wert ≥5 um das 2,3-fache erhöht (OR 2,30; 95%-KI 1,70-3,12). Die Autoren gehen daher davon aus, dass die Erhöhung des INR-Wertes möglicherweise zumindest teilweise über ein Indikationsbias erklärbar ist (schlechtere Ernährungsgewohnheiten im Rahmen der Depression könnten zu einer INR-Erhöhung geführt haben). Die Dosierung der VKA wurde nach Beginn einer SSRI-Therapie im Mittel um 3,4% (95%-KI -4,5 bis -2,3) verringert. Wurden die Analysen auf SSRI mit CYP2C9-Inhibition beschränkt, lag die mittlere Dosisreduktion bei 8,6% (95%-KI -14,2 bis -2,9). Nach dem Beginn einer Behandlung mit einem trizyklischen Antidepressivum erfolgte keine wesentliche Dosisreduktion. Unter der gleichzeitigen Einnahme eines VKA und eines SSRI war das Risiko für schwerwiegende Blutungskomplikationen nach statistischen Adjustierungen gering erhöht (HR 1,22; 95%-KI 0,99-1,50), wenn auch bei einem Beginn des Konfidenzintervalls unterhalb von 1,0 nicht ausgeschlossen werden kann, dass es sich hierbei um einen Zufallsbefund handelt. Patienten, die gleichzeitig einen VKA und ein trizyklisches Antidepressivum einnahmen, wiesen dagegen kein erhöhtes Hämorrhagierisiko auf, was wiederum gegen ein relevantes Indikationsbias (möglicher schlechterer allgemeiner Gesundheitszustand durch die Depression und dadurch möglicherweise erhöhtes Blutungsrisiko) des Effektes der SSRI spricht, so die Autoren. Subgruppenanalysen zeigten, dass das Risiko unter der gleichzeitigen Einnahme von SSRI und Acenocoumarol erhöht war (HR 1,26; 95%-KI 0,95-1,68), während Patienten, die stattdessen mit Phenprocoumon behandelt wurden, keine relevante Risikoerhöhung aufwiesen (HR 1,05; 95%-KI 0,78-1,41); die Autoren weisen aber darauf hin, dass die Studie für die Unterschiede zwischen den einzelnen Substanzen nicht gepowert war.

    Fazit

    Unter einer oralen Antikoagulation mit einem VKA hatten Patienten nach dem Beginn einer SSRI-Therapie ein um das Zweifache erhöhtes Risiko erhöhter INR-Werte. Die Behandlung mit einem CYP29C-inhibierenden SSRI führte sogar dreimal häufiger zu INR-Werten ≥5. Auch das Risiko für schwere Blutungskomplikationen war unter der gleichzeitigen Behandlung mit VKA und SSRI möglicherweise gering erhöht. Patienten sollten unter der Einnahme eines VKA daher möglichst einen nicht CYP2C9-inhibierenden SSRI erhalten und es sollte innerhalb der ersten Behandlungswochen ein engmaschiges INR-Monitoring erfolgen, so die Autoren.

    Dr. Katharina Franke, Darmstadt


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    No conflict of interest has been declared by the author(s).


    Publication History

    Article published online:
    26 April 2023

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