Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 1999; 34(4): 198-203
DOI: 10.1055/s-1999-10737
DER BESONDERE BEITRAG
Georg Thieme Verlag Stuttgart ·New York

Das Leid mit den Leitlinien*

* Vortrag 4. 12. 1998 - MünsterThe trouble With StatutesK. Ulsenheimer
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Publication Date:
31 December 1999 (online)

Die seit einigen Jahren in der Medizin mit großem Engagement geführte Diskussion um das Pro und Contra, die möglichen Vor- und Nachteile fachspezifischer Leitlinien hat zu erheblichen Irritationen, Mißverständnissen und Kontroversen geführt. Dieses „Leid” hat seinen Grund zum einen in der unterschiedlichen Zielsetzung, die mit der Aufstellung von Leitlinien verfolgt wird, und zum anderen in deren unterschiedlichem Begriffsverständnis.

Es war nicht die Medizin, die die „Leitlinien-Bewegung” in Gang gesetzt hat, sondern die Gesundheitspolitik. Der Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen forderte in seinem Sachstandsbericht 1994 vor dem Hintergrund der „leeren öffentlichen Kassen” neue „Strategien im Umgang mit der Knappheit” und befürwortete mit dem Blick auf andere Länder (z. B. Holland) zur Vermeidung überflüssiger Leistungen, zur Rationalisierung und Kostendämpfung die Erarbeitung von Leitlinien für die ärztliche Behandlung. Diese sollen helfen, das „medizinisch Erforderliche” zu bestimmen und die Vergütung an ihre Einhaltung zu knüpfen, im Kern also den Leistungskatalog der Krankenkassen zu konkretisieren bzw. einzuschränken. Die Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlich-medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) hat nach einigem Zögern diese Forderung aufgegriffen, ebenso die Bundesärztekammer, wobei hier aber vor allem der Aspekt der Qualitätssicherung, die Wiedergabe des aktuellen Standes der medizinischen Wissenschaft und damit die Hilfestellung für den einzelnen Arzt, sein Handeln sicherer, „meßbarer und berechenbarer zu machen”1, im Vordergrund standen. Die beiden unterschiedlichen Grundtendenzen bei der Formulierung der Leitlinien liegen also offen zutage: auf der einen Seite die damit verbundenen wirtschaftlichen Erwägungen, die Hoffnungen der Gesundheitsökonomen, vermutete Einsparungspotentiale zu heben, und andererseits das Bemühen, mit Hilfe der Leitlinien „Informationen und Instruktionen über den Stand der Medizin”2 zu geben, um dadurch zu mehr Sicherheit und Transparenz bei der Krankenbehandlung zu gelangen. Inzwischen schießen Leitlinien wie „Pilze aus dem Boden”, eine wahre Leitlinieneuphorie scheint ausgebrochen: in knapp 3 Jahren wurden über 600 Leitlinien höchst unterschiedlicher Qualität und Quantität - von 1 Seite bis zu einem Kompendium von 30 Seiten - fertiggestellt, im Internet per Knopfdruck für jedermann abrufbar. Diese umfangreichen Aktivitäten vollziehen sich jedoch vor dem Hintergrund einer fehlenden einheitlichen Bestimmung des Begriffs der „Leitlinien”, höchst unterschiedlicher Definitionen und Abgrenzungsversuche zu den Termini „Richtlinien” und „Standard” sowie ohne genügende Beachtung der sich daraus ergebenden haftungsrechtlichen Konsequenzen. Ich möchte Sie im folgenden nicht mit Begriffsjurisprudenz langweilen, aber doch einige, wie mir scheint, wesentliche Klarstellungen treffen, die für das Verständnis und die Wertung der Leitlinien von erheblicher Bedeutung sind. Weder die höchstrichterliche Rechtsprechung auf dem Gebiete der Arzthaftung noch die einschlägigen Gesetzestexte noch das juristische Fachschriftum zur zivil- und strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Arztes verwenden den Begriff der „Leitlinie”3. Statt dessen findet sich hier der Begriff des „fachärztlichen Standards”, der Facharztqualität, die jeder Arzt jedem Patienten bei seiner Behandlung schuldet und die frü-her gebräuchlichen Begriffe „Stand der Wissenschaft” oder „Kunstregeln” abgelöst hat. Damit soll der gesetzliche Terminus der „im Verkehr erforderlichen Sorgfalt”, wie in § 276 BGB der Maßstab für das rechtlich Erlaubte und Gebotene umschrieben ist, durch außerrechtliche, wissenschaftlich-empirische Erkenntnisse, Erfahrungssätze und Bewertungen näher konkretisiert4 und die Frage beantwortet werden, wie sich ein umsichtiger, gewissenhafter Arzt in der jeweiligen Situation verhalten hätte. Durch den Rückgriff auf den „Standard”, d. h. das in der ärztlichen Praxis und Erfahrung Bewährte, naturwissenschaftlich Gesicherte, die gute, verantwortungsbewußte Übung5 wird zugleich der Dynamik der Medizin gegenüber der Statik des Rechts Rechnung getragen. Denn die fachlichen Standards sind nicht etwas Vorgegebenes, Erreichtes, Abgeschlossenes, sondern ein fortschreitender Prozeß, etwas relativ Bewegliches, ein ständiges Werden und Wechseln6. Außerdem verweist die Rechtsprechung auf diese Weise zur Bestimmung der „im Verkehr erforderlichen Sorgfalt” auf die Medizin zurück: die berufsspezifische Sorgfaltspflicht richtet sich nach medizinischen Maßstäben und muß deshalb von einem medizinischen Sachverständigen ermittelt werden7. Mangels Sachkompetenz können nicht die Gerichte darüber entscheiden, welchen der in Rede stehenden Heilverfahren der Vorzug gebührt8, und damit nicht die Richter den Inhalt des Standards bestimmen, vielmehr ist dieser das Ergebnis einer medizininternen Auseinandersetzung. Vor diesem Hintergrund ist zunächst festzuhalten, daß der Begriff der „Leitlinie” weder gesetzlich noch richterlich definiert und im Arzthaftungsrecht nicht gebräuchlich ist. Wer ihn benutzt, muß daher sagen, was er damit meint. Beschränken sich die Leitlinien darauf, das in der ärztlichen Praxis Erprobte und wissenschaftlich Gesicherte aufzuzeichnen, die unterschiedlichen Lehrmeinungen zu sammeln, dann beschreiben sie den medizinischen „Standard” und sind wie dieser für den Arzt keineswegs absolut verbindlich9. Dies folgt aus der ärztlichen Berufs- und Therapiefreiheit, die dem Arzt zum einen das Recht gibt, bestimmte Heilmethoden anzuwenden oder ablehnen zu dürfen, und zum anderen ihm garantiert, sich nicht zu einem seinem Gewissen widersprechenden Handeln „drängen oder gar zwingen lassen” zu müssen10. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs haben dies immer wieder anerkannt und deutlich gemacht, daß weder die Richter noch sonstige staatliche Gewalt medizinisch Methodenstreitigkeiten entscheiden können und dürfen. So heißt es schon in einer frühen Entscheidung des Reichsgerichts: „Die allgemeinen oder weitaus überwiegend anerkannten Regeln der ärztlichen Wissenschaft genießen grundsätzlich keine Vorzugsstellung vor den von der Wissenschaft abgelehnten Heilverfahren ärztlicher Außenseiter oder nichtärztlicher Heilbehandler” 11. Ähnlich formulierte der BGH im Jahre 1991: Denn da der Patient „das Recht hat, jede nicht gegen die guten Sitten verstoßende Behandlungsmethode zu wählen, kann aus dem Umstand, daß der Heilbehandler den Bereich der Schulmedizin verlassen hat, nicht von vornherein auf einen Behandlungsfehler geschlossen werden” 12. Selbstverständlich bedeutet dies „keinen Freibrief für Gewissenlosigkeit”13, keine Willkür oder schrankenlose Wahlfreiheit des Arztes, vielmehr muß die erforderliche Sorgfalt zum Schutz des Patienten strikt eingehalten werden. Aber diese richterliche Kontrolle14 steckt nur die Grenzen ab. Denn „Qualitätsstandard” bedeutet nach der Rechtsprechung „nicht Standardbehandlung. Im Gegenteil können Besonderheiten des Falles oder ernsthafte Kritik an der hergebrachten Methode ein Abweichen von der Standardmethode fordern. Der Arzt ist auch nicht stets auf den jeweils sichersten therapeutischen Weg festgelegt. Allerdings muß ein höheres Risiko in den besonderen Sachzwängen des konkreten Falles oder ein einer günstigeren Heilungsprognose eine sachliche Rechtfertigung finden” 15. Der Arzt muß also weder „stets das jeweils neueste Therapiekonzept mittels einer auf den jeweils neuesten Stand gebrachten apparativen Ausstattung” einsetzen16, noch ist er verpflichtet, „das als das wirksamste geltende Mittel auch dann anzuwenden, wenn seine auf sachliche Gründe gestützte persönliche Überzeugung mit der überwiegenden Meinung nicht übereinstimmt”17. Demnach ist die Methodenwahl eine höchstpersönliche, von der ärztlichen Verantwortung getragene Entscheidung, die innerhalb einer gewissen Bandbreite - eines Korridors - nicht oder nur begrenzt justitiabel ist18. Sie beläßt dem Arzt „einen von ihm zu verantwortenden Risikobereich” im Rahmen der Regeln der ärztlichen Kunst19. Dieser ärztliche Freiraum beruht darauf, daß „der rasche Fortschritt der medizinischen Technik und die damit einhergehende Gewinnung immer neuer Erfahrungen und Erkenntnisse zwangsläufig zu Qualitätsunterschieden in der Behandlung von Patienten” führt20. Die Sorgfaltsanforderungen - betonte der BGH erst unlängst - „dürfen sich daher nicht unbesehen an den Möglichkeiten von Universitätskliniken und Spezialkrankenhäusern orientieren, sondern müssen sich auch an den für diesen Patienten in dieser Situation faktisch erreichbaren Gegebenheiten ausrichten, sofern auch mit ihnen ein zwar nicht optimaler, aber noch ausreichender medizinischer Standard erreicht werden kann”21. In Grenzen ist deshalb der zu fordernde medizinische Standard je nach den personellen und sachlichen Möglichkeiten verschieden22. Dies muß sich auch auf den Inhalt der Leitlinien auswirken. Da sie den jeweiligen Stand der Medizin für bestimmte Krankheitsbilder wiedergeben sollen, konkretisieren sie nur als „Orientierungsmarken”, „Handlungsempfehlungen” oder „Richtschnur” das gebotene Verhalten, also den gesetzlichen Terminus der „im Verkehr erforderlichen Sorgfalt”23. Die Sorge mancher Mediziner, die „Standards” seien zu streng und würden von den Ökonomen immer mehr als Grundlage für eine abrechenbare Leistung genutzt, während Leitlinien „mehr Bewegungsfreiheit” beließen24, ist daher aus haftungsrechtlicher Sicht unbegründet. „Standard” und „Leitlinie” sind kein aliud und „keine Gegensätze”25, sondern bedeuten für die Rechtsprechung inhaltlich und funktionell dasselbe, nämlich die konkrete Ausfüllung und Ergänzung der gesetzlichen Generalklausel „im Verkehr erforderliche Sorgfalt”. Dasselbe gilt für den Begriff der „Richtlinie”, den man verschiedentlich in der Haftungsjudikatur26 oder in Gesetzen antrifft, allerdings ebenfalls ohne inhaltliche Bestimmung, weshalb wir auf ganz unterschiedliche Bedeutungsinhalte stoßen. aa) Hinsichtlich der „Richtlinienkompetenz” des Vorstands der Bundesärztekammer bemerkt der Bundesgerichtshof in Strafsachen, es handle sich dabei um „Empfehlungen” einer ärztlichen Berufsorganisation, die „für den Richter . . . zwar eine Entscheidungshilfe” darstellen, „ihn aber nicht von der Verpflichtung entbinden, auch unter Berücksichtigung abweichender Stellungnahmen der ärztlichen Wissenschaft in jedem einer Verurteilung zugrunde gelegten Einzelfall zu prüfen”, ob die ärztliche Maßnahme indiziert war. „Die Äußerung des Vorstands der Bundesärztekammer ist keine Rechtsnorm” 27. Der Empfehlungscharakter der „Richtlinien” wird auch deutlich, wenn die Bundesärztekammer „Richtlinien für die Sterbehilfe” formuliert, da auf diesem Feld schwierigster ärztlicher Entscheidungen, wo alles von den konkreten Umständen des Einzelfalles abhängt, immer nur Richtpunkte, Hinweise und Ratschläge, nicht aber verbindliche generelle Handlungsanweisungen gegeben werden können28. bb) Im neuen Transplantationsgesetz29 von 1997 und im Transfusionsgesetz von 199830 haben die von der Bundesärztekammer aufzustellenden „Richtlinien” für die Todesfeststellung bzw. zur Gewinnung von Blut und Blutbestandteilen sowie zur Anwendung von Blutprodukten nur eine widerlegliche Vermutung, aber keine Verbindlichkeit zur Folge.31 Wenn und soweit die Richtlinien beachtet werden, wird vermutet, daß der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Wissenschaft und Technik eingehalten worden ist. cc) Anders ist die Sach- und Rechtslage im Berufs- und Sozialrecht, das gleichzeitig Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsrecht32 ist. Beides wird künftig zunehmend durch „Richtlinien” der Bundesausschüsse33 bestimmt. Sie sind „Teil eines umfassenden Gefüges untergesetzlicher Normen, die von Krankenkassenverbänden und Kassenärztlichen Vereinigungen erlassen werden, um eine den Vorgaben des Gesetzes entsprechende ambulante ärztliche Versorgung zu gewährleisten”34. Die Richtlinien „legen verbindlich fest, welche neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden vergütet werden”, und sind sanktionsbewehrt, gelten allerdings nur im ambulanten Sektor für die Vertragsärzte, nicht dagegen im Krankenhausbereich35. Diese Richtlinien haben also außerhalb des sozialrechtlichen Bereichs keine Verbindlichkeit und im übrigen weder inhaltlich noch formal etwas mit den medizinischen „Leitlinien” zu tun. Im Ergebnis ist also festzuhalten: Weder Leitlinien noch Richtlinien sind im Arzthaftungsrecht als Begriffe gesetzlich oder richterlich definiert. Deshalb wundert die schillernde, ja verwirrende Vielfalt unterschiedlichster Definitionen und Abgrenzungsversuche nicht, doch sind diese Bemühungen aus haftungsrechtlicher Sicht pure Semantik, die in der Sache nicht weiterführen. Wenn es um die zivil- und strafrechtliche Verantwortlichkeit des Arztes geht, sind Leit- und Richtlinien nichts anderes als bedeutungsgleiche Hilfsmittel, um die „im Verkehr erforderliche Sorgfalt” und damit den „fachärztlichen Standard” zu bestimmen. In dieser Funktion sind sie zeitgebunden, einem ständigen Wandel unterworfen und deshalb immer wieder erneuerungs- und aktualisierungsbedürftig. Ebensowenig wie der „Standard” ist die „Richt”- oder „Leitlinie” unverbrüchlich. Sie bildet nur eine Richtschnur für den „Regelfall”, von der aufgrund der Gegebenheiten des Einzelfalles Abweichungen nicht nur zulässig, sondern unter Umständen sogar geboten sind.36 Insofern ist aus Sicht der Rechtsprechung „vor dem Glauben zu warnen, daß die Einhaltung eines Standards” - und dasselbe gilt für die Richt- und Leitlinien - stets auch das Entscheidende für das Erlaubte und Gebotene bei der konkreten ärztlichen Behandlung aussagt.37 Da „Leitlinien” und „Richtlinien” eine „Verlagerung der Entscheidung von der individuellen auf die kollektive Ebene darstellen”,38 im Schadensersatzprozeß und in Strafverfahren gegen den Arzt aber die Besonderheiten des jeweiligen Falles, insbesondere auch die Eigenheiten und der Wille des Patienten zu berücksichtigen sind, bilden sie keinen absoluten, sondern nur einen relativen Maßstab zur näheren Bestimmung der Generalklausel „berufsspezifische Sorgfalt”. Weder Leitlinien noch Richtlinien noch Standards haben Rechtsnormcharakter, äußern also keine unmittelbare rechtliche Wirksamkeit, d.h. sie sind weder Gesetze noch Verordnungen oder sonstiges materielles Recht. Sie schreiben daher weder dem Arzt die konkret einzuschlagende Therapie zwingend vor noch binden sie den Richter im Arzthaftungsprozeß bei der Prüfung der verkehrserforderlichen Sorgfalt. „Selbst wenn er es wollte”, darf er sie seinem Urteil nicht „wie ein Gesetz zugrunde legen”.39 Sie sind „für den Richter, der in eigener Verantwortung über das Vorliegen” eines Behandlungsfehlers zu urteilen hat, „zwar eine Entscheidungshilfe, entbinden ihn aber nicht von der Verpflichtung”, das ganze Meinungsspektrum der ärztlichen Wissenschaft in die Prüfung des Sorgfaltspflichtverstoßes im Einzelfall einzubeziehen.40 Die Bedeutung der Leitlinien, Richtlinien, Standards im Justizalltag liegt vor allem in ihrer mittelbaren Wirkung. Diese ist um so stärker, je mehr es sich bei der Krankenbehandlung um einen „Normal”- bzw. „Regelfall” handelt und je stärker allgemeine Organisations- und Strukturfragen, z. B. die Abgrenzung der Verantwortlichkeiten zwischen Chirurgen und Anästhesisten bei der prä-, intra- und postoperativen Lagerung oder die apparative Ausstattung der Klinik eine Rolle spielen. Bei diesen Fragen greift die Rechtsprechung oftmals auf Empfehlungen bzw. Vereinbarungen der Berufsverbände und wissenschaftlichen Fachgesellschaften zurück und wendet deren Regelungen bei der Bestimmung der erforderlichen Sorgfalt als zwingend an. „Leitlinien”, „Richtlinien” oder „Vereinbarungen” können auf diese Weise manchmal sogar - vor allem im organisatorischen Bereich - praktisch durchaus unmittelbar rechtserzeugende Wirkung entfalten. Der Inhalt der Leitlinien findet meist über den Sachverständigen, manchmal sicher auch infolge eigener Recherchen der Richter, Staatsanwälte oder anwaltlichen Vertreter, Eingang in die Justizpraxis und ist oft die maßgebende Grundlage bei der Urteilsfindung.41 Dabei kann die Leit- oder Richtlinie „zu einer gewissen Vereinheitlichung und Überprüfbarkeit” manch „allzu eigenwilliger Sachverständigenaussagen”42 führen, aber sich vielleicht auch durch neue Forschungsergebnisse, die der Gutachter vorträgt, oder aus sonstigen Gründen als überholt oder unbrauchbar erwreisen. Die Leit- oder Richtlinie ist also im konkreten Einzelfall - und eben den hat die Rechtsprechung zu entscheiden - ebenso wie der Standard „bei Gott nicht alles”, sondern nur ein - mehr oder weniger wichtiges - Kriterium zur Beantwortung der Frage, ob die vom Arzt getroffene diagnostische oder therapeutische Maßnahme vertretbar war und mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt wurde. Leit- und Richtlinien haben deshalb für den „Abweichler” bzw. „Befolger” - ebenso wie der „Standard” - weder stets haftungsbegründende noch stets haftungsbefreiende, entlastende Wirkung. „Die Abweichung von einer bestehenden Leitlinie” - und dasselbe gilt für die Richtlinie - „ist nie automatisch ein Behandlungsfehler”.44 Allerdings befindet sich derjenige, der ihnen folgt, im Regelfall „auf der sicheren Seite” und braucht seine Therapie nicht besonders zu rechtfertigen. Insofern hat Weißauer Recht, wenn er in der „Festlegung von Leistungs- und Sorgfaltsmaßstäben” durch Leitlinien oder andere Regelwerke „gleich welcher Rechtsqualität ein Mehr an Rechtssicherheit” für den Arzt sieht.45 Ich verkenne diesen positiven Effekt nicht und beeile mich, noch weitere positive Aspekte der Leitlinien hinzuzufügen: die schon erwähnte Kontrollfunktion in bezug auf die Darlegungen der Sachverständigen und die daraus resultierende größere Richtigkeitsgewähr der Gutachten. den Schutz des Arztes, der sich in dem von den Leit- und Richtlinien abgesteckten Handlungskorridor bewegt, da damit regelmäßig die Beachtung der lex artis indiziert ist, die bessere Kenntnis des medizinischen Standards, seine bessere Transparenz für den einzelnen Arzt, der dadurch mehr fachliche Sicherheit, „festeren Boden unter den Füßen” bei der Krankenbehandlung hat, ferner die Förderung der Qualitätssicherung, u. U. ökonomische Einspareffekte und damit eine Rationalisierung der Medizin. Aber wo Licht ist, gibt es auch Schatten, und diese Schattenseiten bzw. Gefahren der Leit- und Richtlinien scheinen mir ärztlicherseits vielfach verharmlost, zu wenig beachtet oder gar übersehen zu werden. Derjenige, der den Leitlinien nicht folgt, gerät in eine Außenseiterposition, die der Begründung, der Rechtfertigung bedarf, und damit trägt er das Risiko, daß ihm diese mißlingt, ja es besteht die große Gefahr, daß die Nichtbeachtung einer Leitlinie mit einem Behandlungsfehler gleichgesetzt wird. Diese Gefahr ist kein Phantom, sondern ganz real, wenn man z. B. in einer Subskriptions-Ankündigung der „Leitlinien” für die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie wörtlich liest, es handle sich dabei um „verbindliche Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie”, oder wenn es in einer Ankündigung der Universität Bremen wörtlich heißt: „In zunehmendem Maße werden durch die medizinischen Fachgesellschaften ärztliche Leitlinien erstellt. Diese bringen die Medizin erstmals in größerem Umfang in die Situation, Normen guten ärztlichen Handelns durch professionelle Normsetzung festzulegen.” Vom Empfehlungs- und Orientierungscharakter der Leitlinien ist in diesen Beispielsfällen, die sich zwanglos vermehren ließen, nicht mehr die Rede, vielmehr wird den Leitlinien durch ihre „offizielle” Erstellung und „amtliche” Verlautbarung eine „autoritative Wirkung”46 und - daraus abgeleitet - fälschlicherweise eine quasi-normative Wirkung beigelegt. Aber selbst wenn nicht jedes Abweichen von einer Leitlinie eine Sorgfaltspflichtverletzung darstellt, sondern nur Rechtfertigungszwang und Begründungsdruck erzeugt, wird damit natürlich die Eigenverantwortung, die ärztliche Intuition, der Wagemut, neue Wege zu gehen, gebremst und ein Handeln nach „Vorschrift” oder „Schema” gefördert. Das Tor zur Defensivmedizin ist aufgestoßen. „Leitlinien in ihrer Standardfestlegungswirkung rationalisieren den Haftpflichtprozeß insofern, als sie die Feststellung des allgemeinen medizinischen Standards einer ärztlichen Krankheitsbehandlung erleichtern”, heißt es in einer in diesem Jahr erschienenen juristischen Publikation.47 Diese „Erleichterung” bedeutet aber auf der Kehrseite, also im Falle nicht leitliniengetreuer ärztlicher Therapie, eine für den Patienten leichter durchsetzbare Haftung des Arztes, zumal der Autor48 schon jetzt betont, die „unbegründete Abweichung” könne „eine Vermutung für die Kausalität des Fehlers für den Schaden zugunsten des Patienten auslösen”. Eine solche Beweislastumkehr gibt es bislang nur bei groben Behandlungsfehlern, und damit sehen Sie, in welche Richtung die Entwicklung geht und wie begründet meine Sorge ist, daß es zu dem Fehlschluß: Leitlinienmißachtung = ärztliches Fehlverhalten kommt. Diese Bedenken werden auch nicht dadurch aufgewogen, daß im Gegenzug denjenigen, der die Leitlinie befolgt, „prinzipiell” kein Behandlungsfehlervorwurf treffen soll.49 Denn „prinzipiell” bedeutet hier nicht „ausnahmslos”, da Leitlinien ja veralten, obsolet, durch Zeitablauf inhaltlich unrichtig werden können. Dieser zeitliche Aspekt, die „Veralterung”, ist außerordentlich ernst zu nehmen. Denn ebenso wie die Formulierung der Leitlinien wird ihre durch den Fortschritt der Medizin notwendige Änderung viel Zeit erfordern, so daß das statische Element überwiegt. Leitlinien haben die Tendenz, ein gewisses Beharrungsvermögen zu entwickeln, und können deshalb sogar dem Standard widersprechen, wenn die Entwicklung weitergegangen ist und sie nicht rasch genug angepaßt werden. Die praktische Tätigkeit wird für den Arzt durch die Leitlinien künftig also keineswegs nur einfacher und sicherer, vielmehr muß er bei der Krankenbehandlung prüfen, 1. ob es für den konkreten Fall Leitlinien gibt, 2. ob er diesen folgen soll, 3. ob die Leitlinien dem medizinischen Standard entsprechen (oder inzwischen hätten angepaßt werden müssen), 4. wie er sich bei „konkurrierenden” Leitlinien verschiedener Fachgesellschaften verhalten soll, z. B. wenn Chirurgen, Unfallchirurgen und Gefäßchirurgen unterschiedliche Leitlinien zur Thromboseprophylaxe oder Chirurgen und Gynäkologen verschiedene Leitlinien zur Behandlung des Mammakarzinoms erstellen, 5. ob im konkreten Fall sachliche Gründe für die Nichtbefolgung der Leitlinien sprechen. Ich möchte deshalb nachdrücklich vor einer „Leitlinieneuphorie” warnen. Denn während Gesetzgebung und Rechtsprechung „kaum reglementierend in die Kernzone der ärztlichen Berufstätigkeit eingreifen, überziehen sich die medizinischen Fachgebiete selbst im Zuge ihres Fortschreitens, ihrer Professionalisierung und Spezialisierung mit einem zunehmend engeren und angespannteren Netzwerk”50 von „Empfehlungen”, „Vereinbarungen”, „Leitlinien”, „Richtlinien” und ähnlichen Regelungen. Der deutsche Drang oder Hang zum Perfektionismus, das Bedürfnis unserer Gesellschaft, alles und jedes zu reglementieren, findet hier mit immer mehr und immer detaillierteren Bestimmungen ein offenbar reiches Betätigungsfeld. Dabei übersieht man: „Überreglementierung” kann „leicht zu Überängstlichkeit und damit zu entscheidungshemmendem Immobilismus,51 also zu einer defensiv-medizinischen Haltung führen, was weder im Interesse der Patienten noch der Ärzteschaft liegen kann. Zwischen 1989 und 1996 haben die Amerikaner 19 nationale Leitlinien aufgestellt, die Deutschen dagegen in knapp 3 Jahren mehr als 600; dies sagt eigentlich alles! Außerdem engen diese aus der medizininternen Auseinandersetzung hervorgehenden „immer anspruchsvolleren Maßgaben” für die nach § 276 BGB geforderte Sorgfalt den Freiraum ärztlichen Ermessens zunehmend ein und führen im Ergebnis zu einer Selbstbindung der Medizin, die das ohnehin beträchtliche forensische Risiko des Arztes weiter steigert. Denn je höher die medizinische Wissenschaft die Meßlatte legt, um so größer ist die Gefahr, daß der einzelne Arzt „nicht hoch genug springt”. Ein gefährlicher circulus vitiosus, den die fortschreitende Arbeitsteilung und Spezialisierung zusätzlich verstärken, wird damit in Gang gesetzt: Je perfekter, präziser und umfassender die ausformulierten medizinischen „Leitlinien” - um so strenger die rechtlichen Prüfungsmaßstäbe, um so höher die richterlichen Sorgfaltsanforderungen und damit um so größer das zivil- und/oder strafrechtliche Haftungsrisiko. Mit Recht hat Weißauer die Leitlinien als „sublime Form einer mittelbaren”, gleichsam von innen her zunehmenden52 „Verrechtlichung der Medizin” genannt, und damit bewirken sie - wie ich hinzufügen möchte, zwangsläufig eine schleichende Erosion der ärztlichen Therapiefreiheit. Nicht zuletzt unter dem Einfluß forensischer Auseinandersetzungen wird „die Vielfalt der allgemein anerkannten und bewährten Methoden” mehr und mehr reduziert und die individuelle Entscheidungsfreiheit eingeschränkt.53 Diese Tendenz wird noch dadurch verstärkt, daß die Leitlinien aus Sicht der Kassen ein bestimmtes Versorgungsniveau sichern und nur dieses bezahlt werden soll.54 Die Definition des Angemessenen und medizinisch Notwendigen liegt aber für 90 % der Patienten, nämlich für die gesetzlich Versicherten, nicht bei den Ärzten, sondern bei den Sozialleistungsträgern. Für den einzelnen Arzt heißt dies, daß er bei der weitaus überwiegenden Zahl aller Patienten aus rein finanziellen Erwägungen heraus abweichende Therapien nicht mehr vornehmen kann. Dies bedeutet eine wirtschaftliche Fesselung und zugleich das Ende der Therapiefreiheit durch das Gelddiktat der Kassen nach dem Motto: „Wer zahlt, schafft an.” Außerdem gebe ich zu bedenken: In dem Maße, in dem ökonomische Aspekte bei der Formulierung der Leitlinien eine Rolle spielen, werden sie als Haftungsmaßstab „unbrauchbar”,55 da sie dann nicht immer den medizinischen Standard wiedergeben und somit die Gefahr besteht, daß Sachverständige und Gerichte das ärztliche Vorgehen an unzutreffenden Maßstäben messen. Die sich abzeichnende Vermischung der lex artis mit gesundheitsökonomischen Zielen ist aus meiner Sicht deshalb ein schwerwiegender Nachteil, der auf das Arzthaftungsrecht voll durchschlagen wird. Die AWMF hat dies offenbar erkannt und betont deshalb mit Nachdruck, daß in den Leitlinien keine wirtschaftlichen Vorgaben oder Erwägungen Berücksichtigung finden dürfen. Darüber hinaus muß das prozedurale Verfahren bei der Entwicklung der Leitlinien überdacht werden. Ich stelle nur einige Fragen: Welche Gruppen werden in die Formulierungskommission gewählt? Wer beruft die Kommis-sionsmitglieder? Gibt es insoweit nur Vorschläge oder eine Wahl? Müssen für den Universitätsbereich, die Krankenhäuser und den Bereich der niedergelassenen Ärzte unterschiedliche Leitlinien formuliert werden. Wenn ja: Wie ist sichergestellt, daß die niedergelassenen Ärzte sich Gehör verschaffen, d. h. in die Erstellung der Leitlinien eingebunden werden? Wie läßt sich sicherstellen, daß sachfremde Einflüsse, z. B. Einflüsse aus der Wirtschaft oder aus der Industrie, ausgeklammert bzw. ausgeschaltet werden? Wer sorgt sich um die Evaluation der Leitlinien? Wer aktualisiert sie, nachdem sie formuliert worden sind? Sind dazu die wissenschaftlichen Gesellschaften, bestimmte Expertengremien oder der eine oder andere sog. „Qualitätszirkel” aufgerufen? Ich will diese Fragen, die sich leicht vermehren lassen, nicht beantworten, sondern nur aufzeigen, daß auch unter dem Aspekt der Kompetenz und Legitimation zur Erstellung von Leitlinien noch erhebliche Probleme zu lösen sind.

    1 Weißauer, Anästhesiologie und Intensivmedizin 1998, 197.

    2 Weißauer a.a.0., S. 198

    3 so auch Pelz in: Leitlinien in der Chirurgie, herausgegeben von Jost und Langkau, 1997, S. 23

    4 Nicklisch, NJW 1982, 2637, 2638

    5 Franzki, in: Leitlinien in der Chirurgie, herausgegeben von Jost und Langkau, 1997, 33

    6 Weißauer, Anästhesiologie und Intensivmedizin 1995, 49

    7 BGH MDR 1994, 483

    8 RG HRR 1938, Nr. 936

    9 Franzki, a.a.0., S. 33

    10 Laufs, Handbuch des Arztrechts 1992, § 3 Rdn. 11

    11 RGSt 67, 12, 22

    12 BGH NJW 1991, 1536; ebenso BGHSt 37, 385, 387

    13 RGSt 67,12,22

    14 vgl. Schreiber, Notwendigkeit und Grenzen rechtlicher Kontrolle der Medizin 1983, S. 38

    15 BGH NJW 1987, 2927

    16 BGH NJW 1988,763

    17 BGH NJW 1988, 763 f.

    18 Weißauer, a.a.0., S. 49

    19 BGHSt 37, 385, 387

    20 BGH NJW 1993, 2989 ff.

    21 BGH NJW 1994, 1597, 1598

    22 BGH NJW I993, 2989

    23 Pelz a.a.0., S. 24

    24 Peter, Anästhesiologie und Intensivmedizin 1995, 61 (Diskussionsbeitrag); deutsche Sektion fiir Osteosynthesefragen, Arztrecht 1997, 72

    25 Weißauer, Anästhesiologie und Intensivmedizin 1995, 62

    26 BGHSt 1, 318, 321 f.; 37, 383, 385

    27 BGHSt 37, 385, 386; siehe dazu die Anmerkung von Laufs/Reihling JZ 1992, 105, 106

    28 siehe dazu auch Opderbecke/Weißauer MedR 1998, 395 ff.

    29 § 15 Abs. 1 TBG

    30 § 12 Abs. 2, 18 Abs. 2 TFG

    31 Deutsch NJW 1998, 3377

    32 Hart MedR 1998, 12

    33 § 92 SG V

    34 BSG NJW 1998, 2765 unter Hiweis auf §§ 72, 82 SGB V

    35 §§ 92ff. SGBV

    36 Pelz, a.a.0., S. 24

    37 Pelz, Anästhesiologie und Intensivmedizin 1995, 62

    38 Pelz, a.a.0., S. 26 unter Berufung auf Buchborn, MedR 1993, 330

    39 Pelz. a.a.0., S. 23

    40 BGHSt 37, 385, 386

    41 Pelz, a.a.0., S. 24, 25, 30

    42 Franzki, in: Risikomanagement, hrsg. von Berg, 1998, S. 66

    43 Pelz, a.a.0., S. 29

    44 Hart, MedR 1998, 12

    45 Anästhesiologie und Intensivmedizin 1998, 179

    46 Bruns, Arztrecht 1998, 184

    47 Hart, MedR 1998, S. 12

    48 Hart, MedR 1998, S. 13

    49 Hart, a.a.0., S. 12, 13 oben

    50 Laufs, in: Handbuch des Arztrechts, 1992, § 99 Rdnr. 4, MedR 1986, 169

    51 Eser, Der Arzt im Spannungsfeld von Recht und Ethik, in: Ethische Probleme des ärztlichen Alltags, 1988, S. 98

    52 Laufs, MedR 1986, 169

    53 Wawersik, Anästhesiologie und Intensivmedizin 1995, 47

    54 Hoffmann, a.a.0., S. . . .

    55 MedR 1998, 14

    56 Jung ZStW 97 (1985), S. 54

    57 Laufs, a.a.0., S. 586

    58 Laufs, a.a.0., S. 586

    59 Jung ZStW Bd. 97 (1985), S. 54

    60 so auch Weißauer, a.a.0., S. . . . .; so auch Bruns, a.a.0., S . . . .

    Dr. Prof. Dr. Rechtsanwalt K. Ulsenheimer

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