Fortschr Neurol Psychiatr 2000; 68(5): 239-240
DOI: 10.1055/s-2000-11792
TAGUNGSBERICHT
Georg Thieme Verlag Stuttgart ·New York

VI. Gerontopsychiatrisches Fachgespräch, Düsseldorf, 26. - 27. 11. 1999

6th Gerontopsychiatric Specialist Discussion, Düsseldorf, 26. - 27. 11. 1999M. Haupt
  • Rheinische Kliniken/Psychiatrische Klinik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
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Publication Date:
31 December 2000 (online)

Auch im Jahre 1999 (26. - 27. 11.) wurden die gerontopsychiatrischen Fachgespräche unter Leitung von M. Haupt, Düsseldorf, fortgesetzt. Zu dem VI. Werkstattgespräch hatte sich wiederum ein interdisziplinär zusammengesetzter Personenkreis eingefunden, der sich in Deutschland wissenschaftlich mit gerontopsychiatrischen Fragestellungen beschäftigt.

Gegenstand der diesjährigen Tagung waren die depressiven und paranoiden Störungen im Alter.

Frau Schäufele/Mannheim berichtete über die Epidemiologie paranoider und depressiver Störungen im Alter und führte aus, dass nach den Ergebnissen europäischer Feldstudien rund ein Viertel der älteren Menschen an einer psychischen Störung leidet. Die Häufigkeit nehme dabei deutlich zu, wenn neben diagnosebezogenen Störungen auch subdiagnostische psychische Symptome berücksichtigt würden. Danach leiden etwa 3 % der älteren Menschen an schweren und mittelschweren Depressionen, rund 15 % an leichteren Depressionen, aber bis zu 23 % an subdiagnostischen depressiven Auffälligkeiten. Demgegenüber seien schizophrene und paranoide Störungen mit jeweils 1 % in der Altenbevölkerung vertreten, subdiagnostische psychotische Auffälligkeiten aber bei bis zu 8 %. Depressive Störungen im Alter sind bedeutsam assoziiert mit weiblichem Geschlecht, alleinstehenden Personen, geringem Einkommen, subjektiv empfundener sozialer Isolation, kognitiven Einbußen, und ferner besonders mit chronischer körperlicher Erkrankung, allgemeiner Behinderung und Leben in stationärer Langzeitversorgung. Ähnliche Faktoren sind mit dem Auftreten von paranoiden Störungen im Alter verknüpft und lauten: sensorische Beeinträchtigungen, geringer Bildungsstand und insbesondere kognitive Einbußen, reduzierter körperlicher Allgemeinzustand und Leben in stationärer Langzeitversorgung.

Wenn subdiagnostische Symptome erfasst werden, leiden in Pflegeheimen bis zu 50 % an depressiven Störungen und 11 % an psychotischen Auffälligkeiten. Depressive Störungen persistieren über einen Zeitraum von sechs Monaten in 52 % der Fälle, psychotische Störungen in 43 % der Fälle. Die psychopharmakologische Behandlung in Pflegeheimen besteht bei depressiven Störungen zu 40 % in neuroleptischer und in 18 % in Benzodiazepin-Therapie; 36 % der depressiven älteren Heimbewohner erhalten keine medikamentöse Behandlung. Psychotisch kranke ältere Heimbewohner werden in 62 % der Fälle mit Neuroleptika und in 12 % mit Benzodiazepinen behandelt. Bei einem Viertel der psychotisch Kranken in Heimen bleibt eine medikamentöse Therapie aus.

Herr Adler aus Mannheim befasste sich mit dem Erscheinungsbild und dem Verlauf paranoider Störungen im Alter. Er stellte zunächst die ätiologischen Faktoren für diese psychischen Störungen heraus: soziale Isolation, Immigration, schizoide und paranoide prämorbide Persönlichkeit, sensorische Einbußen, vor allem Schwerhörigkeit, und hirnorganische Veränderungen. Eine Reihe von Hirnerkrankungen und hirnbeteiligenden Erkrankungen könne zum Auftreten paranoider Störungen führen, ebenso die Einnahme bestimmter Medikamente, etwa Antiparkinson-Mittel, trizyklische Antidepressiva oder Anticholinergika. Im psychopathologischen Bild paranoider Störungen im Alter treten Ich-Störungen und Erstrangsymptome oft zurück, während wahnhafte Symptome mit Verfolgungs-, Bestehlungs- und Beeinträchtigungsideen in den Vordergrund rücken. Sonderformen des Wahns im Alter bestünden im Capgras-Syndrom, Fregoli-Syndrom und Cotard-Syndrom, die vermutlich enger mit organischen Veränderungen assoziiert sein und krankheitsunspezifisch auftreten könnten. Insgesamt sei der Ausgang paranoider Störungen im Alter vergleichbar mit dem in früheren Lebensabschnitten.

Herr Wolf aus Magdeburg gab zum Thema Behandlung paranoider Störungen im Alter ein Überblicksreferat und wies besonders deutlich darauf hin, dass Indikationen und Dauer der neuroleptischen Behandlung sich zwischen jüngeren und älteren Kranken nicht unterscheiden, wohl aber Dosis- und Substanzwahl. Neuere Substanzen seien gegenüber herkömmlichen Neuroleptika zu bevorzugen, was vor allem durch das günstigere Nebenwirkungsspektrum gerechtfertigt werde. In niedriger Dosierung seien aber herkömmliche Präparate, wie Haloperidol oder Zuclopentixol, verträglich und gleichzeitig gut wirksam. Nichtmedikamentöse Interventionen würden eher absehen von strukturierten behavioralen Strategien, sondern bestünden vor allem in der konstanten Führung und Begleitung des wahnkranken älteren Menschen.

Herr Reischies aus Berlin stellte in seinem Vortrag zum Erscheinungsbild und Verlauf depressiver Störungen im Alter die longitudinalen Daten der Berliner Altersstudie (BASE) vor. Im Erscheinungsbild der Depression des älteren Menschen kämen im Unterschied zu früheren Lebensabschnitten vor allem Motivationsarmut und Klagen über depressive Gefühle, ferner Klagen über Schlafstörungen vor. Depressive Störungen wiesen im Verlauf bei über einem Drittel Persistenz der Symptomatik auf. Insbesondere bei initialem Vorliegen einer Major-Depression zeigten die Zwei- und Vierjahreskatamnesen hohe Persistenzraten. Ein besonderer Befund bestand darin, dass nach den Daten der BASE-Studie kein depressiv kranker älterer Mensch mit Antidepressiva behandelt wurde, sondern ausschließlich Benzodiazepine erhielt, sofern eine ärztliche Verordnung überhaupt vorlag.

Prädiktive Variablen für ein Versterben der depressiv Kranken innerhalb des Achtjahreszeitraums waren Demenz, Alter und die Zahl somatischer Diagnosen. Diejenigen depressiv Kranken, die im Verlauf eine Demenz aufwiesen, waren zu Beginn der Untersuchung psychopathologisch gekennzeichnet durch: Verlangsamung, Sprachverständnisstörung, Gedächtnisstörung, Stimmungsschwankungen und gedrückte Stimmungslage.

Frau Stoppe aus Göttingen führte zum Thema Behandlung depressiver Störungen im Alter aus, dass nach wie vor Depressionen in zu geringem Maße pharmakologisch behandelt würden. Die häufige Chronifizierung der Depression im Alter sei auch darauf zurückzuführen, dass eine sorgfältige Diagnostik ausbleibe und daher die Möglichkeiten der Behandlung nicht ausgeschöpft würden; ferner investierten Ärzte bei ihren älteren depressiven Patienten weniger als bei jüngeren Patienten in die Motivationsarbeit. Im Wesentlichen wurden die noch nicht publizierten Leitlinien zur Depressionsbehandlung der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie (DGGPP) vorgetragen. Die wesentlichen Aussagen dieser Leitlinien sind: zu Beginn der Therapie sind ein oder mehrere Therapieverfahren einzusetzen, vor allem Pharmako- und Psychotherapie. Bei mittelschweren und schweren Depressionen ist Pharmakotherapie unverzichtbar. Eine Kombinationsbehandlung aus medikamentösen und nichtmedikamentösen Strategien ist der Einzelbehandlung überlegen. Bei vital bedrohlichen Depressionen im Alter ist die Elektrokonvulsionstherapie das Mittel der Wahl.

Bei der Pharmakotherapie sei das Nebenwirkungsspektrum in erster Linie wichtig, der Wirkungsschwerpunkt erst in zweiter Linie. Allerdings sei keines der verfügbaren Antidepressiva im Alter kontraindiziert.

Die Phasenrezidivprophylaxe soll in erster Linie mit Lithium zu Spiegeln von 0,3 bis 0,6 mmol/l erfolgen und als lebenslange Erhaltungstherapie vorgenommen werden. EKT im Alter weise in 50 bis 100 % der Fälle Remissionen auf, auch bei hirnorganischen Veränderungen könne sie eingesetzt werden; bei jedem Zehnten zeigten sich einzelne delirante Symptome und bei jedem Zwanzigsten medizinische Komplikationen.

Schlafentzugsbehandlung sei im Alter weniger empfehlenswert; oft werde sie als belastend empfunden. Zur Lichttherapie gebe es keine kontrollierten Studien mit ausreichend großen Stichproben. Der therapeutische Wert der Lichttherapie sei daher noch unklar.

Die Tagung hat zusammenfassend gezeigt, dass depressive und paranoide Störungen im Alter häufige Gesundheitsprobleme sind, welche insbesondere in Institutionen stark verbreitet sind. Besonderheiten in der Symptomausprägung und -eigenart bestehen zwar, haben aber auf die Indikationsstellung zur Behandlung keinen Einfluss. Die häufige Neigung zur Persistenz beider psychischer Störungen macht deutlich, dass eine frühzeitige und konsequente Therapie unbedingt erforderlich ist. Weitere Untersuchungen zum Ausgang therapeutischer Interventionen sollten durchgeführt werden.

Die fehlende nosologische Spezifität depressiver und paranoider Störungen weitet die erforderliche Diagnostik im Alter in jedem Fall in neurologische und internistische Gebiete aus. Der Gerontopsychiater benötigt hierbei interdisziplinäre Kompetenzen.

Dr. Priv.-Doz. Martin Haupt

Rheinische Kliniken Düsseldorf

Psychiatrische Klinik der Heinrich-Heine-Universität

Postfach 12 05 10

40605 Düsseldorf

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