Rehabilitation (Stuttg) 2000; 39(5): 289-290
DOI: 10.1055/s-2000-7864
BERICHT

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Mobile Telekommunikation und Menschen mit Behinderungen - Erstes internationales Fachseminar von Rehabilitation International vom 6. - 7. 6. 2000 in Potsdam

M.  Schmollinger
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Publication Date:
31 December 2000 (online)

Über 100 Teilnehmer kamen am 6. und 7. Juni 2000 zum ersten internationalen Fachseminar von Rehabilitation International (RI) zum Thema „Mobile Telecommunications - Encouraging Developments for Persons with Disabilities Worldwide” nach Potsdam, etwa 40 von ihnen als Mitwirkende des wissenschaftlichen Programms, der Ausstellung oder der Podiumsdiskussion. Das Seminar wurde von der Deutschen Vereinigung für die Rehabilitation Behinderter e. V. (DVfR) organisiert, eine der deutschen Mitgliedsorganisationen des Weltverbandes. Gastgeber war das Berufsbildungswerk im Oberlinhaus, Potsdam, eine neue Einrichtung mit umfangreichen eigenen Erfahrungen im Einsatz moderner Telekommunikationstechnik und gut ausgestattet mit moderner Informationstechnologie - bis hin zum „virtuellen Arbeitsplatz” für die Erprobung und das Training behinderter Auszubildender.

Seminarleiter Dr.-Ing. Gerhard Klause, Telekommunikationsberater der DVfR, konnte Teilnehmer aus 16 europäischen und einzelnen nichteuropäischen Ländern begrüßen; vertreten war nahezu die gesamte Bandbreite einschlägiger Institutionen, von Rehabilitationseinrichtungen und -diensten, der Telekom-Branche über Behindertenorganisationen des In- und Auslandes, Verbraucherverbände einschließlich eines Datenschutzexperten bis hin zu Politik, öffentlicher Verwaltung, den informationstechnischen Ingenieurswissenschaften und zur Kommunikationsforschung.

Rasche Fortschritte in der drahtlosen Kommunikationstechnik, sich neu abzeichnende Möglichkeiten im Funktelefonbereich sowie erfüllte und noch unerfüllte Nutzerbedürfnisse insbesondere der großen und wachsenden Bevölkerungsgruppen mit funktionellen Behinderungen und Kommunikationsschwierigkeiten unterschiedlicher Art waren Anlass dieser Konferenz, weltweit das erste derartige Treffen mit dem Ziel, Belange Behinderter in der aufkommenden Informationsgesellschaft so zu formulieren, dass Wirtschaft und Verbraucher eine gute Orientierung erhalten. Unterstützt wurde die Fachveranstaltung deshalb durch die Europäische Kommission in Brüssel, die Bundesregierung und das Brandenburger Landesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen, Potsdam, durch zwei Träger von Rehabilitationsdiensten sowie eine Reihe von Telekom-Firmen und nicht zuletzt durch das gastgebende Oberlinhaus mit seinem Berufsbildungswerk, das Kuratorium ZNS und die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation, der zweiten deutschen Mitgliedsorganisation von RI.

Minister Alwin Ziel unterstrich denn auch als Schirmherr, dass „Handys”, die weltweit in immer größerer Zahl benutzt werden, und die dahinter stehenden Mobilfunkdienste vielfach einige an sich selbstverständliche Nutzeranforderungen für Senioren, Mobilitäts- und Sinnesbehinderte, erst recht für Menschen mit geistigen Behinderungen noch immer unbeachtet lassen.

Würden diese Herausforderungen wirklich angenommen von denen, die für die technische Geräte- und Serviceentwicklung, für Produktdesign und -marketing, für Verbraucherschutzregelungen und die Versorgung Betroffener mit kommunikationstechnischen Hilfsmitteln verantwortlich sind, so hätte davon eine riesige Personengruppe von 15 - 20 % der Bevölkerung einen unmittelbaren Nutzen.

Was dies im Blick auf die Integration von Menschen mit besonderen Bedürfnissen in der aufkommenden Informationsgesellschaft bedeuten würde, wurde von einigen Rednern eindrücklich dargestellt oder anhand von Beispielen erläutert. Zu ihnen gehörten der RI-Präsident Dr. Arthur O'Reilly, Dublin/Irland, und der Vorsitzende des Europäischen Blindenverbandes, Rodolfo Cattani, Rom/Italien, der auch das Europäische Behindertenforum (EDF) und speziell die dortige Sektion „Informationsgesellschaft” vertrat.

Der offene und direkte Dialog der beteiligten Anbieter und Nachfrager, wie er mit diesem Seminar erstmals stattfand, wurde durchweg begrüßt und sogar angeregt, dieses turnus- und regelmäßig fortzusetzen. Jedoch wurden auch regelnde Eingriffe auf nationalstaatlicher und EU-Ebene zum Schutz der Telekommunikationsnutzer mit besonderen Bedürfnissen für unverzichtbar erachtet. Länderregierungen als Konzessions- bzw. Lizenzgeber und sozialpolitisch verantwortliche nationale Verwaltungen, aber auch die europäischen Institutionen nehmen diesen Bereich stärker als bisher in den Blick. Dies zeigte Frank Greco, Brüssel/Belgien, an legislativen Aktivitäten und Vorhaben, die die EU-Kommission aus der Generaldirektion XII (Politik zur Informationsgesellschaft) heraus entwickelt, beispielhaft auf.

Reale zusätzliche Chancen zur Erschließung eines großen und wachsenden Marktes bieten sich, wenn die Telekom-Wirtschaft mit systematischen, stimmigen Angeboten für ältere und behinderte Kunden Ernst macht. Dies betonte Prof. Jim Sandhu von der Universität Newcastle upon Tyne/England. Auf der Basis neuerer statistischer Bedarfserhebungen konnte er die Entscheider bei den Entwicklungsabteilungen der Telekom-Branche, gerade auch bei den kleineren, innovativen Firmen, ebenso ermutigen wie potenzielle Nutzergruppen, die für sie passende Angebote mit Recht in naher Zukunft erwarten. Zugleich lieferte er zur Orientierung beider Seiten eine Reihe gut operationalisierbarer Definitionen für den „special user”-Bereich in der Telekommunikation.

Die meisten Referenten waren nach Potsdam gekommen, um angesichts der zahlreichen praktischen Ansätze, die sich aus technischen Fortschritten in der modernen mobilen Telekommunikation ergeben, ihre Vorstellungen zur Berücksichtigung der Anforderungen älterer und behinderter Nutzer darzustellen und mit einem durchweg fach- und sachkundigen Publikum in Austausch zu treten. Mobile Telefone mit integrierter Notfall-Lokalisierung, die es orientierungsgestörten oder von ständigen vitalen Gesundheitsrisiken betroffenen Menschen ermöglichen, individuell ein sicheres und freieres Alltagsleben zu führen, neue optische Display-Funktionen wie die Fernübertragung einer „Simultanübersetzung” gesprochener Sprache in Text oder Gebärdensprache für Hörbehinderte, WAP-Zugänge zum Internet und zu vielen anderen Informationsdatenbanken über das Handy, drahtlose interaktive Informationsverarbeitungs- und -austauschmöglichkeiten wie angepasste SMS- und E-Mail-Dienste, sprachgesteuerte Handy-Benutzung über Display-Menüs, die „Blue Tooth”-Technik wie auch zahlreiche Ergänzungsmöglichkeiten durch Zusatzgeräte für vorhandene (Mobil-) Telefone etwa für Menschen mit reduzierter Arm-Hand-Beweglichkeit oder nützliche, computervermittelte Kombinationen von Mobilfunk und Festnetz (z. B. zur vitalen Fernüberwachung und -beratung frühentlassener Risikopatienten durch spezialisierte medizinische Zentren rund um die Uhr) wurden hier diskutiert. Aber es gab auch lebendige Auseinandersetzungen zu Themen wie etwa die durch mobile Telekommunikation sich ändernden Pflege- und Versorgungskonzepte, über Fragen der individuellen Bedarfsbestimmung für Kommunikationshilfen aller Art oder zur Verantwortung von Sozialleistungsträgern für die Bewilligung technischer Hilfsmittel zur Herstellung bzw. Sicherung der Kommunikationsfähigkeit bei bestimmten schwerstbetroffenen Personengruppen.

Andere Beiträge sind erwähnenswert wegen ihres Überblickscharakters für Lösungsstrategien aus rechtlicher, politischer oder Betroffenensicht, so etwa das Video-Referat von Dr. Judy Harkins vom Accessibility Board der Federal Communications Commission, Washington/USA, oder die Darstellung von Dir. Hiroshi Kawamura vom Japanischen Verband für die Rehabilitation Behinderter, Tokio[1]. Eine eingängige Zusammenschau ethischer, technischer und sozialer Aspekte im Blick auf Möglichkeiten und Grenzen des Konzeptes „Design für Alle” bot Magnus Fritzson vom Swedish Handicap Institute, Bromma/Schweden.

Zu einer anderen Kategorie von Seminar-Highlights gehörten einige Berichte über neue Modellerprobungen in der mobilen Telekommunikation, darunter der EU-geförderte Großversuch des MORE-Telefonsystems Mobile Rescue Phone) und ähnlicher Angebote, in Potsdam dargestellt vom Präsidenten der Firma Benefon, Jorma Niehinen, Salo/Finnland, sowie vom Leiter der MORE-Evaluation und wissenschaftlichen Begleitforschung, Prof. Wolfgang Zagler, Universität Wien/Österreich. Angesprochen wurden auch aktuelle Ergebnisse aus der Grundlagenforschung, beispielsweise zu Möglichkeiten für die „Ein-Knopf-Bedienung” von Telefonanlagen durch körperlich Schwerstbehinderte (Dominic Cheng, Universität Hongkong) oder bezüglich der Wirkungsanalyse neuer technischer Trends der mobilen Telekommunikation für das veränderte Zusammenspiel Mensch-Maschine (Prof. Diamantino Freitas, Universität Porto/Portugal).

Nicht unerwartet wurden das Seminar und seine Begleitausstellung von skandinavischen Teilnehmern genutzt, um den speziellen „nordeuropäischen Ansatz” der Integration von Menschen mit Behinderungen in die moderne Gesellschaft zu propagieren. Genannt seien die Übersichtsreferate von Dr. Jan-Ingvar Lindström, Haninge/Schweden, und Prof. Jan Ekberg, Helsinki/Finnland. Deutlich wurde ein sehr pragmatischer Ansatz, der mit Hilfe einer starken Verbraucherlobby der Behindertenorganisationen, ergänzt durch politisch gewollte Entwicklungsanreize für einschlägige (einheimische) Unternehmen, gerade im informations- und kommunikationstechnischen Sektor von der Wirtschaft gern aufgenommen wird und mit der Zeit viele kleine, praktische Erfolge bringt. Schritt um Schritt verdichten diese sich zu einer beachtlichen Verbesserung der Teilhabechancen in der konkreten Lebenswelt behinderter Nordeuropäer und führen schließlich zu skandinavischen Exporterfolgen mit „intelligenten” Produkten und Dienstleistungen.

Das zweitägige Seminar in Potsdam wird mit seinen zwei Plenarsitzungen, drei Arbeitsgruppen, der Begleitausstellung und dem gut besuchten, themenbezogenen Internet-Café den meisten Teilnehmern sicher als interessante und lohnende Veranstaltung im Gedächtnis bleiben. Der Berichtsband (deutsch/englisch) wird für Dezember 2000 erwartet. Vorbestellungen/Vormerkungen sind jederzeit willkommen.

Einige Teilnehmer haben bereits angeregt, dem Seminar in zwei- oder dreijährlichem Turnus entsprechende Veranstaltungen - möglichst wieder in einem europäischen Land - folgen zu lassen, um die Entwicklung in ihren Auswirkungen auf Menschen mit Behinderungen im Auge behalten zu können. Die RI-Geschäftsstelle in New York ist deshalb jederzeit für Bewerbungen von Organisationen aus Mitgliedsländern um eine Folgeveranstaltung offen (E-Mail: rehabintl@aol.com). Vielleicht gibt es also schon 2002 oder 2003 ein Follow-up zum zukunftweisenden Thema „Mobile Telekommunikation und Menschen mit Behinderungen”!

1 Suzette M. Agcaoili, Quezon City/Philippinen, die an einer Teilnahme gehindert war, zeigt in ihrem Referat über „Technologische Impulse zur Angleichung unterschiedlicher Kommunikationschancen in einer Welt von Hörenden - Das SMS-Phänomen auf den Philippinen” auf, wie mit geringfügiger Unterstützung viele gehörlose Menschen eines Landes preiswerte allgemeine Serviceleistungen der Mobilfunkbranche optimal für ihre Belange nutzen. Der Beitrag wird im Berichtsband abgedruckt.

Martin Schmollinger

Deutsche Vereinigung für die Rehabilitation Behinderter (DVfR) Geschäftsstelle

Friedrich-Ebert-Anlage 9

69117 Heidelberg

Email: info@dvfr.de

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