Aktuelle Urol 2000; 31(6): 339-340
DOI: 10.1055/s-2000-8246
EDITORIAL
Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Vesikorenaler Reflux (VRR) 2000

R. Hohenfellner
  • Urologische Klinik der Johannes Gutenberg-Universität, Mainz
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Publication Date:
31 December 2000 (online)

Mit der Publikation der Leitlinien zur Abklärung des vesikorenalen Refluxes und therapeutischen Empfehlungen von Riedmiller und Köhl im Urologen A [15] wird das umstrittene Thema zugleich zu einem „transatlantischen”.

Während den amerikanischen Guidelines, wie im Editorial in der Akt. Urol. 1997 [8] dargelegt, eine streng konservative Therapie auch bei bereits nachweisbaren pyelonephritischen Veränderungen zugrunde liegt, sind die hohen operativen Erfolgschancen mit über 98 % bei vergleichsweise geringer Reoperationsrate von 2 % [2] eine der wesentlichen Argumente zugunsten der operativen Korrektur hierzulande.

Für beide Therapiekonzepte gibt es Argumente, die in Statistiken nicht zum Ausdruck kommen, sondern - von der persönlichen Erfahrung des Operateurs einmal abgesehen - sozusagen den Background der Kontroverse darstellen. Dennoch ist es weniger die bei allen Verfahren geringe Refluxpersistenz als die gefürchtete Obstruktion. Wie bei allen „prophylaktischen Eingriffen”, und um einen solchen handelt es sich, muss im Falle von Komplikationen - Refluxpersistenz und Obstruktion - das Risiko der Reoperation ebenso gering sein wie beim Ersteingriff. Für die einseitige Rezidiv- bzw. Obstruktionskorrektur trifft dies nach Untersuchungen von Riedmiller bei über 400 Psoas-Hitch-Operationen zu, wobei die Erfolgsquote bei 96 % lag [16]. Für den einseitig missglückten Lich-Gregoir, Politano oder Cohen bestehen somit exzellente Chancen der Korrektur und die obige Technik ist allgemein anerkannt. Für den neu aufgetretenen Reflux nach einseitigem Cohen oder Politano der Gegenseite, 18 % - 40 % [1] [6] [7], der - wie zu hoffen - in 60 % sistiert oder „geringgradiger” wird, ist es dennoch eine Katastrophe. Daran ändert auch die erfolgreiche Korrektur wenig und der Trend zur beidseitigen Reimplantation in einer Sitzung bei allen transvesikalen Verfahren wird erkennbar. Klinisch untermauert wird dies durch die Fälle, bei denen der Reflux einseitig „sistierte”, um dann gehäuft bei Korrektur der Gegenseite wieder aufzutreten [17].

Das Dilemma wird größer, wenn nach beidseitigem Cohen oder Politano eine bilaterale Korrektur erforderlich wird. Die unpublizierten beidseitigen Katastrophen sind zahlenmäßig weit höher als angenommen. Rein statistisch gehen sie im Zahlenmaterial über Psoas-Hitch bis Urinary Diversion unter. Zu dem Dilemma der Kinder und Eltern gesellt sich die der Kompromisssuche bei beidseitiger Nephrostomie, iatrogener und neurogener Blasen und kurzen, dilatierten, fibrotischen Ureteren. Zahlenmäßig erahnbar wird dieses durch die mit 80 % vergleichsweise niedrigen Erfolgschancen beim in einer Sitzung transvesikal korrigierten Grad V Reflux [2]. Zahlenmäßig gering mit „nur” 582 (4,7 %) [14] in einer Serie von 12 251 refluxiven Harnleitern wird das Ausmaß der chirurgischen Katastrophe eher kaschiert als demonstriert. Aus der pädiatrischen Urologie ist zu lernen, dass hundert erfolgreiche Eingriffe einen einzigen Misserfolg selten kompensieren und dieser den einweisenden Pädiater nachdrücklich und länger beschäftigen wird als der gelungene Rest. Folgerichtig kann der Misserfolg, auch wenn statistisch gesehen extrem selten, das gesamte Indikationskonzept neu in Frage stellen. Vor diesem Hintergrund werden die publizierten Guidelines, für amerikanische Verhältnisse entworfen, verständlich. Weniger verständlich der „Nomenklaturwandel” des Lich-Gregoir [5] [9] hin zur Ureteroneozystostomie [13], was der Lich-Gregoir definitiv nicht ist. Auch wenn sich die Innovation auf die Wiederentdeckung eines von J. Duckett noch 1976 [11] als exotisch bezeichneten Verfahrens beschränkt, sollte die sich anbahnende Renaissance die Kreativität der Erstautoren nicht in Frage stellen. Die Ratlosigkeit von ausschließlich auf das Kindesalter beschränkten Urologen spiegelt sich in der Frage wider: „Was würden Sie Ihrer 20-jährigen refluxiven Patientin raten, die Sie wegen eines Kinderwunsches konsultiert?” Die lakonische Antwort: „Es wäre angebracht, den Gynäkologen zu konsultieren” wurde in den Paediatric Dialogues publiziert [3]. Tatsächlich entwickelten in einer Statistik von Martinelli [12] 3 von 8 refluxiven Frauen eine Pyelonephritis im Gegensatz zu 2 von 33 nicht refluxiven im gleichen Zeitraum. Mansfield et al. [10] fanden in 75 % aller nach Politano im Kindesalter operierten jungen Frauen nach ersten sexuellen Kontakten Harnwegsinfekte, in 30 % hoch fieberhaft. 5 % entwickelten während der Schwangerschaft eine hospitalisationsbedürftige Pyelonephritis im Gegensatz zu über 1000 nach Cohen operierten. Auch bei der Operation nach Lich-Gregoir entwickelte im eigenen Krankengut lediglich 1 von 45 Schwangeren eine temporäre Nierenbeckenkelch-Ektasie, die sich übrigens bei der zweiten Schwangerschaft asymptomatisch wiederholte.

Kausalpathogenetisch wird von D. C. S. Gough in Paediatric Surgery and Urology 1998 [6] der Neohiatus angeführt, der sich topographisch mit dem Blasenwachstum verändert. Hierfür sprechen auch „Spät-Politanos” mit Stauung bei voller Blase, die nach Entleerung nicht mehr nachweisbar ist.

Ebenfalls in den Guidelines übersehen ist die Abnahme des Refluxgrades mit zunehmendem Alter. Im eigenen Krankengut war der G I-Reflux bei Kindern mit 4 % ebenso nieder wie in der weltweiten Statistik von über 12 000 Ureteren bei Puri 1998 [14]. Auch der häufigste G III-Reflux war mit 44 % und 42,5 % (5212 Ureteren) nahezu identisch. Im Erwachsenenalter hingegen hatten 33 % einen G I und nurmehr 25 % einen G III-Reflux, wohingegen der G V mit 2 % bei Kindern und Erwachsenen identisch war und der Weltstatistik (4,7 %) nahe kam.

Bei großer Blasenkapazität, fehlender infravesikaler Obstruktion und sterilem Urin ist das Pyelonephritisrisiko von Patienten mit refluxiv resezierten Ostien, nicht antirefluxiver Ureterimplantation [4] und selbst Pyelovesikostomie gering. Bereits eine ausgeprägte Zystozele vermag diese Situation dramatisch zu verändern. Nicht der Refluxgrad, sondern assoziierte Ereignisse wie z. B. erste sexuelle Kontakte, die Schwangerschaft und vaginaler Prolaps verwandeln den bislang „harmlosen” Reflux in eine lebensbedrohliche Pyelonephritis.

Dass das Leben eines Kinderurologen zu kurz ist, um sich in seinen Spätergebnissen bestätigt zu finden, trifft auch auf das Gegenteil zu. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist die drainagelose, katheterlose und splintfreie Operation nach Lich-Gregoir oder auf „in and out” Basis ausführbare einseitige Operation risikoarm. Technisch schwierig und nur unter Aufsicht mit einer langen Lernphase behaftet - wobei jedoch jeder Operationsschritt unter Sicht erfolgt - ist die mit 2 % behaftete Reoperationsrate nach Psoas-Hitch mit 96 % erfolgreich.

Die Langzeitergebnisse nach 20 Jahren rechtfertigen das Konzept, nach dem 6. Lebensmonat bei weiterbestehenden Durchbruchsinfektionen unabhängig vom Refluxgrad die Operation zu empfehlen. Bei identischer Frequenz unspezifischer nicht fieberhafter Harnwegsinfekte (25 %) sind hoch fieberhafte künftig selten trotz Pubertät, erster Partnerschaft, Schwangerschaft und Deszensus. Dem ersten Teil des Statements von David C. S. Gough: „There is a world of difference between a good physician and a bad physician” ist beizupflichten, wohingegen der zweite Teil: „… but not much difference between a good physician and no physician at all” nur auf die in USA gültigen Guidelines zutrifft. Dementsprechend ist auch seine Schlussfolgerung, dass eine „world of difference between a good operation for reflux and a bad operation for reflux” außer Frage steht. Hingegen ist der Unterschied zwischen einer guten Operation und keiner Operation nicht, wie er annimmt, zu vernachlässigen, sondern ganz im Gegenteil - wie hier aufgezeigt - hoch signifikant. Allerdings spielt die Wahl des Verfahrens eine entscheidende Rolle.

Literatur

  • 1 Diamond D A, Rabinowitz R, Hoenig D, Caldamone A A. The Mechanism of New Onset Contralateral Reflux Following Unilateral Ureteroneocystostomy.  J Urol. 1996;  156 665-667
  • 2 Elder J S, Peters C A, Arant Jr V S, Ewalt D E, Hawtrey C E, Hurwitz R S, Parrott T S, Snyder III H M, Weiss R A, Woolf S H, Hasselblad V. Pediatric Vesicoureteral Reflux Guidelines Panel Summary Report On the Management Of Primary Vesicoureteral reflux in Children.  J Urol. 1997;  157 1846-1851
  • 3 Elder J. Prenatally Diagnosed Reflux: Current Guidelines.  Dialogues in Pediatric Urology. 1998;  21, No. 4 5
  • 4 Gill H, Borderick G A. Urological Complications of Gynecological Surgery.  AUA Update Series, Lesson 32. 1994;  XIII 254-259
  • 5 Grégoir W, van Regemorter G V. Le reflux vésicourétéral congénital.  Urol Int. 1964;  18 122
  • 6 Gough D CS. Vesicoureteral Reflux: Surgical Treatment. Pediatric Surgery and Urology: Long Term Outcomes. WB Saunders Co Ltd, Chapter 42c 1998: 531-539
  • 7 Hoenig D M, Diamond D A, Rabinowitz R, Caldamone A A. Contralateral Reflux After Unilateral Ureteral Reimplantation.  J Urol. 1996;  156 196-197
  • 8 Hohenfellner R. Der kongenitale, unkomplizierte, vesikorenale Reflux (künftig VRR).  Editorial Akt Urol. 1997;  28 239-240
  • 9 Lich Jr R, Howerton L W, Davis L A. Recurrent urosepsis in children.  J Urol. 1961;  86 554
  • 10 Mansfield J T, Snow B W, Cartwright P C, Wadsworth K. Complications of Pregnancy in Women after Childhood Reimplantation for Vesicoureteral reflux: An Update with 25 years of Followup.  J Urol. 1995;  154 787-790
  • 11 Marberger M, Altwein J, Straub E, Wulff H, Hohenfellner R. The Lich-Gregoir antireflux plasty: experiences with 317 children. Editorial Comment JW Duckett.  J Urol. 1978;  120 216-219
  • 12 Martinelli J, Jodal U, Lidin-Janson G. Pregnancies in women with and without renal scarring after urinary infections in childhood.  Br Med J Mar. 1990;  31; 300 840-844
  • 13 Minevich E, Wacksman J, Lewis A G, Sheldon C A. Incidence Of Contralateral Vesicoureteral Reflux Following Unilateral Extravesical Detrusorraphy (Ureteroneocystostomy).  J Urol. 1998;  159 2126-2128
  • 14 Puri P. Vesicoureteral reflux: Endoscopic Treatment. Pediatric Surgery and Urology: Long Term Outcomes. WB Saunders Co Ltd. Chapter 42b 1998: 523
  • 15 Riedmiller H, Köhl U. 9. Leitlinie zur Abklärung des vesikorenalen Refluxes und therapeutische Empfehlungen.  Der Urologe A. 1998;  6 667
  • 16 Riedmiller H. Persönliche Stellungnahme. 
  • 17 Ross J H, Kay R, Nasrallah P. Contralateral Reflux After Unilateral Ureteral Reimplantation In Patients With a History Of Resolved Contralateral Reflux.  J Urol. 1995;  154 1171-1172

Prof. em. Dr. med R Hohenfellner

Johannes Gutenberg-Universität

Langenbeckstr. 1 55131 Mainz

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